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Die Halle des Falken

»Samuraischüler!«, rief Masamoto donnernd über den weiten, gekiesten Hof der Niten Ichi Ryu.

Unter den Schülern, die sich erwartungsvoll zur Eröffnungszeremonie der neuen Halle des Falken versammelt hatten, kehrte Ruhe ein.

Masamoto stand zusammen mit seinen Sensei, Daimyo Takatomi und einem Shintopriester auf der Veranda des prächtigen hölzernen Gebäudes. Die Halle des Falken war zwar nur halb so groß wie der Butokuden, doch ergänzten die beiden Hallen sich wie die beiden Schwerter eines Samurai. Ausschließlich aus dunklem Zypressenholz erbaut, war die Halle acht Säulen breit und sechs Säulen tief und hatte ein großes, geschwungenes Dach mit gelbroten Ziegeln. Die Traufe war mit halbrunden Tonziegeln geschmückt, die ein Kranichwappen trugen.

»Die Anwesenheit von Daimyo Takatomi ist für uns eine große Ehre«, fuhr Masamoto fort und verbeugte sich tief vor seinem Herrn. »Denn er hat der Schule die neue Übungshalle großzügig gestiftet.«

Die Schüler klatschten laut und ihr Daimyo trat vor.

Takatomi trug seinen festlichsten, in Weiß und Silber mit dem Familienwappen des Kranichs bestickten Kimono. Mit der Rechten strich er sich über sein gestutztes Oberlippenbärtchen, die Linke ruhte nachlässig auf seinem Schwert und dem wohlgerundeten Bauch. Jack war schon vor der Eröffnungszeremonie mit ihm zusammengetroffen, um sich in aller Form dafür zu entschuldigen, dass er den Portolan in der Burg versteckt hatte. Die Entschuldigung war angenommen worden, doch das bisherige Wohlwollen des Daimyo war verschwunden. Jack wusste, dass er sein Vertrauen verscherzt hatte und nicht mehr in die Burg Nijo eingeladen werden würde.

»In Anerkennung der großen Dienste, die Masamoto-sama und seine Schule mir über die Jahre erwiesen haben, bin ich stolz darauf, die Halle des Falken eröffnen zu können. Es ist meine Hoffnung, dass sie in dunklen Zeiten ein Leuchtfeuer sein wird.«

Mit ungewohnt ernstem Gesicht nickte der Daimyo dem Shintopriester zu. Er sollte mit der Zeremonie beginnen.

Der Priester mit dem traditionellen weißen Gewand und dem kegelförmigen schwarzen Hut schritt zum Haupteingang. Dort hatte man auf einem kleinen, durch ein dünnes Seil und vier Bambusstöcke abgesteckten Viereck einen provisorischen Altar errichtet. In einem hölzernen Stufenschrein steckte ein grünblättriger, mit weißen Papierstreifen geschmückter Zweig eines sakaki-Strauches.

Der Priester stimmte einen Sprechgesang an und entzündete eine Weihrauchgabe. Jack sah interessiert zu.

»Hat die Zeremonie angefangen?«, flüsterte eine leise Stimme rechts neben Jack.

Jack blickte auf seinen Freund Yori hinunter, einen klein gewachsenen, schmächtigen Jungen, der dafür aber ein umso größeres Herz besaß. Yori konnte nichts sehen, weil die größeren Schüler ihm die Sicht versperrten.

»Ich glaube, ja«, antwortete Jack. »Der Priester verstreut gerade Salz und zeigt mit einem flachen Holzstock auf den Schrein.«

»Das ist sein shaku«, erklärte Yori eifrig. »Er reinigt das neue Gebäude. Dann bringt er den Göttern ein Opfer und lädt die kami ein zu kommen.«

»Wozu?«, fragte Jack.

»Wir hoffen, dass die kami den Schrein der Halle mit ihrer Kraft segnen und dem neuen Gebäude Glück bringen werden.«

Der Priester winkte Daimyo Takatomi zu sich und überreichte ihm einen kleinen immergrünen Zweig. Der Daimyo wandte sich dem Schrein zu und legte den Zweig der heiligen Pflanze auf dessen unterste Ablage. Dann verbeugte er sich zweimal tief, wie es Brauch war, klatschte zweimal in die Hände und verbeugte sich noch einmal.

Im Anschluss an das Opfer spritzte der Priester Wasser an den Eingang der Halle und lud so die kami ein, den Altar zu verlassen. Ein kurzer Moment der Stille folgte, dann ging die Tür der Halle auf.

Daimyo Takatomi und Masamoto schritten voraus, die Sensei und die Schüler folgten.

»Was meinte unser Daimyo, als er sagte, die Halle sollte ein Leuchtfeuer in dunklen Zeiten sein?«, fragte Kiku. Sie war eine gute Freundin Akikos, ein zierliches Mädchen mit dunkelbraunen Haaren und haselnussbraunen Augen.

»Ich fand die Bemerkung auch ziemlich rätselhaft«, meinte Akiko.

Sie zogen die Sandalen aus und betraten die Halle, um sie von innen zu besichtigen.

Die Schüler versammelten sich am Rand des Übungsbereichs, einer glänzend polierten Holzfläche, die abgesehen von einem Stapel kleiner Tische leer war. An der rückwärtigen Wand stand leicht erhöht ein Schrein, vor dem die Schüler sich zu Beginn des Trainings verbeugen konnten. Er schien das einzige schmückende Element der Halle zu sein.

Bis sie die Köpfe hoben. An der Decke prangte das Gemälde eines gewaltigen Falken, der mit weit ausgebreiteten Schwingen und ausgestreckten Klauen im Sturzflug auf seine Beute niederstieß. Jeder Pinselstrich drückte die Kraft und Geschwindigkeit des Vogels aus. Bestimmt sollten die Schüler der Falke sein, dachte Jack. Sonst waren sie seine Beute.

»Vielleicht glaubt der Daimyo, dass es Krieg geben wird«, sagte er leise.

Im Jahr zuvor hatte er seinen Rivalen an der Schule, Kazuki, davon sprechen hören, dass Kamakura, der Daimyo der Provinz Edo, Krieg gegen alle Christen in Japan führen wollte. Inzwischen hörte man immer häufiger von verfolgten Ausländern und wachsenden Vorurteilen ihnen gegenüber. Von einem offenen Krieg konnte man allerdings noch nicht sprechen.

»Vielleicht hat Jack Recht«, überlegte Yamato. »Wir kennen die Daimyos. Sie kämpfen ständig gegeneinander um mehr Land.«

»Aber der Rat der Regenten sorgt inzwischen seit fast zehn Jahren für Frieden«, entgegnete Kiku. »Seit der Schlacht am Nagasenko gab es keinen Krieg mehr. Warum sollte es jetzt einen geben?«

»Vielleicht meinte Daimyo Takatomi nur die Kampfkünste, die wir in dieser Halle lernen«, meinte Yori. Er hatte die Augen aufgerissen. Das Gespräch über den Krieg schien ihn zu ängstigen.

»Was genau lernen wir denn hier?«, fragte Saburo, ein fröhlicher Junge mit einem runden Gesicht und buschigen Augenbrauen. »Ich sehe nirgendwo Waffen. Und wer wird uns unterrichten?«

»Ich glaube, das ist unser neuer Sensei«, sagte Akiko mit einem Nicken auf eine hochgewachsene, magere Frau, die sich gerade mit Masamoto unterhielt.

Sie trug einen schwarzen Kimono mit einem reinweißen Obi und hatte graue Haut, farblose Lippen und dunkelbraune Augen. Ihr Blick war freundlich, aber von tiefer Trauer erfüllt. Das Auffälligste an ihrer Erscheinung war allerdings ihr hüftlanges schneeweißes Haar.

»Wer ist das?«, fragte Saburo.

»Nakamura Oiko«, flüsterte Kiku ehrfürchtig. »Eine große Kriegerin, die nach dem Tod ihres Mannes in der Schlacht am Nakasendo berühmt wurde. Sie bekam über Nacht weiße Haare vor Kummer, doch sie übernahm seine Soldaten und führte sie zum Sieg. Sie ist berühmt für ihr Geschick im Umgang mit der naginata.«

»Naginata?«, fragte Jack.

»Eine Schwertlanze, also ein langer hölzerner Schaft mit einer gekrümmten Klinge am Ende«, erklärte Yamato.

»Eine Waffe für Frauen«, fügte Saburo verächtlich hinzu.

»Nicht, wenn du an ihrem falschen Ende stehst«, gab Akiko wütend zurück. »Frauen kämpfen nur deshalb gern mit der naginata, weil sie eine größere Reichweite hat als ein Schwert und wir damit auch einen Gegner problemlos besiegen können, der uns körperlich vielleicht überlegen wäre.«

Sie starrte vielsagend auf Saburos wohlgenährten Bauch. Saburo hielt instinktiv schützend die Hand darüber und dachte mit offenem Mund über eine geeignete Antwort nach.

»Und wer ist der Junge neben Sensei Nakamura?«, fragte Yori rasch, um zu verhindern, dass das Gespräch in einen Streit ausartete.

Sie blickten zu dem gut aussehenden Jungen hinüber, der die schwarzen Haare zu einem Knoten zusammengebunden hatte. Er wirkte ein paar Jahre älter als sie, war aber schmächtig gebaut und hatte die weichen, kultivierten Gesichtszüge eines Adligen. Ruhig und sichtlich im Einklang mit seiner neuen Umgebung stand er neben Sensei Nakamura.

»Das ist ihr Sohn Takuan«, sagte eine Stimme hinter ihnen.

Jack drehte sich um. Vor ihm stand Emi, Daimyo Takatomis vornehme Tochter, ein schlankes Mädchen mit langen, glatten Haaren und einem wie das Blütenblatt einer Rose geformten Mund. Sie war in Begleitung ihrer beiden Freundinnen Cho und Kai, die den neuen Jungen wie gebannt anstarrten.

»Wie geht es dir, Emi?«, fragte Jack und verbeugte sich.

Bei ihrer letzten Begegnung hatte der weibliche Ninja Sasori Emi bewusstlos geschlagen.

»Gut«, antwortete sie kalt, »obwohl es über eine Woche dauerte, bis die Schwellung zurückging.«

»Das tut mir leid«, murmelte Jack.

»Nicht so leid, wie es meinem Vater tat, dass er dich in seine Burg eingeladen hat.«

Jack wusste darauf keine Antwort. Er hatte nicht erwartet, dass Emi so wütend sein würde, sondern geglaubt, sie seien Freunde. Emi bedachte ihn mit einem eisigen Blick und ging an ihm vorbei in Richtung Takuan.

»Ich glaube nicht, dass du noch ihr Lieblingssamurai bist«, flüsterte Saburo.

»Besten Dank für den Hinweis«, sagte Jack und stieß Saburo verärgert den Ellbogen in den Bauch.

»Ich bin nicht daran schuld, dass die Tochter des Daimyo fast ums Leben gekommen wäre!«, protestierte Saburo und rieb sich den schmerzenden Bauch.

»Genug! Jack hat sich in aller Form beim Daimyo entschuldigt«, fiel Yamato ihm ins Wort, der sah, dass Jack die Schamesröte ins Gesicht gestiegen war. »Aber der neue Junge scheint wirklich Eindruck zu machen.«

Jack drehte sich nach Takuan um. Viele Mädchen in der Halle flüsterten und kicherten hinter vorgehaltener Hand. Takuan, der sich gerade mit Emi unterhielt, blickte in ihre Richtung und sah Akiko neben Jack stehen. Er lächelte sie breit an und lud sie mit einer Kopfbewegung ein, zu ihm und Emi zu kommen. Akiko erwiderte den Gruß und errötete.

Jack, der Emis abweisende Begrüßung noch nicht verschmerzt hatte, ärgerte sich. »Er sieht mehr wie ein Dichter als wie ein Krieger aus«, sagte er. »Was will er an einer Samuraischule?«

Akiko runzelte die Stirn. »Wahrscheinlich mit uns trainieren.«

»Mit uns?«, fragte Jack.

Akiko nickte. »Wer so eine Mutter hat, kennt sich wahrscheinlich nicht nur mit Gedichten aus. Wir sollten ihn bei uns willkommen heißen.«

Sie ging zusammen mit Kiku und Yori zu Takuan, um ihn zu begrüßen. Jack blieb zurück.

»Na so was, der Gaijin ist wieder da!«, spottete eine vertraute Stimme.

Jack stöhnte. Kazuki wollte er an seinem ersten Tag an der Schule am allerwenigsten begegnen.

Sein Erzfeind kam näher und musterte ihn so herablassend wie immer. Mit dem kahl rasierten Schädel und dem schwarzen Kimono, auf dessen Rücken sein Wappen, eine rote Sonne, prangte, war er jeder Zoll der Sohn eines Mannes, der Gerüchten zufolge mit dem Kaiserhaus verwandt war. Seine schwarzen Augen unter den schweren Lidern blickten Jack empört an, als sei schon dessen bloße Anwesenheit eine Zumutung.

Flankiert wurde Kazuki von den wichtigsten Mitgliedern seiner sogenannten Skorpionbande– Nobu, einem Fettwanst, der offenbar Sumoringer werden wollte, Goro, einem grobschlächtigen Jungen mit tief liegenden Augen, und Hiroto, der mager und drahtig wie eine Stabheuschrecke war und eine durchdringende, schrille Stimme hatte. Es fehlte nur Moriko, ein Samuraimädchen mit schwarzen Zähnen und Schülerin der rivalisierenden Yagyu Ryu. Die Bande, die sich in Vorbereitung für Daimyo Kamakuras Feldzug gegen die Ausländer gebildet hatte, vertrat fremdenfeindliche Ziele. Da Jack der einzige Ausländer an der Schule war, war er das Hauptopfer ihrer Schikanen.

»Wir haben gerade überlegt, ob wir dich lieber rösten, kochen oder bei lebendigem Leibe verbrennen!«, sagte Kazuki.

Jack betrachtete ihn ausdruckslos. Er wollte sich von Kazuki und seiner Bande nicht provozieren lassen.

»Verschwinde, Kazuki«, sagte er nur. »Das ist doch nichts Neues.«

»Nein?«, höhnte Kazuki. »Neulich habe ich gehört, dass Daimyo Kamakura alle belohnt, die Christen zur Rechenschaft ziehen. Yamato, du weißt doch, dass die Gaijin eine falsche Religion verbreiten. Sie wollen die Samurai zu ihrem Glauben bekehren und dann alle Daimyos stürzen und selber die Herrschaft in Japan übernehmen.«

»Wenn das stimmt, warum bekehrt sich dann ausgerechnet Daimyo Takatomi zum Christentum?«, rief Yamato und trat zwischen Jack und die näher kommenden Bandenmitglieder. »Auch er dient dem Kaiser und er ist kein Narr.«

»Er hat nicht durchschaut, was die Ausländer im Schilde führen«, erwiderte Kazuki leise. »Im Unterschied zu Daimyo Kamakura, der ein Gesetz erlassen will, das alle Christen aus Japan verbannt. Dann wären wir sie endlich los!«

»Was Daimyo Kamakura will, gilt in der Provinz Edo, aber nicht hier in Kyoto«, gab Yamato zurück. »Jetzt verschwinde!«

Kazuki kam einen Schritt näher.

»Ich habe nichts gegen dich, Yamato, ich habe nur etwas gegen den Gaijin. Du brauchst dich nicht einzumischen.«

Yamato blieb stehen, wo er war, und musterte Kazuki drohend. »Wenn du eine Schlägerei mit Jack anzettelst, bekommst du es auch mit mir zu tun.«