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Der Falke in Flammen

Die prächtige Halle des Falken brannte lichterloh. Die Schüler bildeten eine Kette vom Schulbrunnen bis zur Halle und gaben hastig Eimer von Hand zu Hand. Jack, der ganz vorn stand, löschte die Flammen auf der Veranda. Die Hitze war so groß, dass sie ihm die Haare auf den Armrücken versengte und er die Augen mit der Hand schützen musste. Rauch hüllte ihn ein und er begann zu würgen.

»Komm runter, Jack-kun!«, befahl Sensei Yosa.

Jack stolperte hustend und spuckend von der Veranda, hockte sich in die Mitte des Hofes und atmete tief die klare Luft ein, während die anderen Schüler weiter das Feuer bekämpften.

Obwohl seine Augen vom Rauch brannten, bemerkte er eine Bewegung am Eingangstor der Schule. Ein langer, vom flackernden Schein des Feuers verzerrter Schatten strich an der Umfassungsmauer entlang. Er schrumpfte und eine Gestalt näherte sich gebückt dem Tor und schob den Riegel zurück. Jack rieb sich die Augen und kniff sie zusammen. Weitere Schatten glitten durch das offene Tor.

Ninjas!, dachte Jack. Drachenauge war gekommen.

Doch dann sah er die Samuraischwerter im Feuerschein aufblitzen. Es handelte sich keineswegs um Drachenauge. Er hätte sich nicht durch ein Schwert verraten. Also mussten es die Soldaten von Daimyo Kamakura sein. Aber wie waren sie so schnell hergekommen? Sie lagerten doch angeblich einige Tagesmärsche entfernt an der Grenze von Edo. Jack begriff, dass das Feuer nur ein Ablenkungsmanöver war und die Schule angegriffen wurde.

»Überfall!«, brüllte er heiser und so laut er konnte.

Doch nur wenige hörten ihn im Tosen des Feuers.

Er rannte zu Sensei Yosa, zog sie am Arm und zeigte auf die eindringenden Schatten. Sie erkannte die Gefahr sofort.

»Holt eure Waffen!«, befahl sie. Dann eilte sie zu Masamoto und den anderen Sensei. Da die Schüler alle an der Feier teilgenommen hatten, trugen sie keine Schwerter.

Jack packte Saburo und Yori.

»Wir werden angegriffen! Sagt allen, sie sollen ihre Waffen holen.«

Er rannte zur Halle der Löwen, um sein Schwertpaar zu holen. Am Eingang stellte er fest, dass die Tür klemmte und sich nicht öffnen ließ. Er trat mit dem Fuß dagegen, doch das dicke Holz gab nicht nach. Was ging hier vor? Die Tür war sonst nie abgeschlossen.

Offenbar war der Angriff von langer Hand geplant. Jack überlief es kalt. Jemand hatte dafür gesorgt, dass die Schüler sich nicht verteidigen konnten. Der Überfall würde in einem Massaker enden.

Suchend sah er sich nach einem anderen Eingang um und entdeckte ein offenes Fenster, das aber zu klein und zu hoch war, um durchzuklettern. Er ließ den Blick über den Hof wandern. Yori versuchte die anderen Schüler auf den Überfall aufmerksam zu machen, doch viele kämpften noch gegen das Feuer und ahnten nichts von der Gefahr.

»Yori!«, schrie er und winkte ihn zu sich.

Yori kam. Sein Gesicht war vom Rauch geschwärzt, seine Augen angstvoll aufgerissen.

Jack erklärte ihm hastig seinen Plan. »Ich hebe dich hoch. Du steigst durch das Fenster und machst die Tür von der anderen Seite auf.«

Yori nickte gehorsam. Jack hob ihn hoch und stellte ihn sich auf die Schultern. Yori streckte sich nach dem Fenstersims, schlüpfte hindurch und verschwand im Inneren.

Jack rannte zum Eingang zurück und wartete. Es schien ihm eine Ewigkeit zu dauern. Masamoto und die Lehrer kämpften inzwischen erbittert gegen die Eindringlinge und versuchten, durch sie hindurchzubrechen und den Schülern Zutritt zur Waffenwand des Butokuden zu verschaffen. Viele Schüler mussten sich bereits ohne Waffen verteidigen.

Scharrend öffnete sich die Tür und Yoris Gesicht erschien. Jack stürzte an ihm vorbei nach drinnen, um seine Schwerter zu holen. Dabei warf er einen flüchtigen Blick in den Korridor des Mädchenflügels und sah eine Gestalt in einem Zimmer am Ende des Gangs verschwinden. Im Dunkeln flackerte eine Kerze.

»Yori«, flüsterte Jack, »hol Yamato und sammelt so viele Waffen ein, wie ihr könnt!«

Yori konnte vor lauter Schreck nur stumm nicken.

»Dann los!«, drängte Jack und schob ihn nach draußen.

Er selbst eilte lautlos den Mädchenkorridor entlang, näherte sich der letzten Tür und spähte ins Zimmer. Drinnen stand eine schattenhafte Gestalt über eine Öllampe gebeugt, im Begriff, die Papierwände in Brand zu setzen. Jack hatte den Brandstifter entdeckt. Bereit zum Angriff schlich er näher, doch der Eindringling fuhr herum.

»Du kommst zu spät, Gaijin!«, höhnte Kazuki. »Die Skorpione haben zugeschlagen.«

Jack blieb stehen und starrte seinen Rivalen entgeistert an. »Kazuki? Was…? Du zündest deine eigene Schule an?«

»Daimyo Takatomi sagte doch, die Halle des Falken sollte ein Leuchtfeuer in dunklen Zeiten sein«, äffte Kazuki den Fürsten nach. »Jetzt ist Daimyo Kamakuras Zeit endlich angebrochen.«

»Aber dein Vater steht auf unserer Seite!«, rief Jack.

Kazuki lachte. »Das soll Takatomi nur glauben! Mein Vater hat Daimyo Kamakura immer treu gedient.«

Jacks Empörung wuchs. »Bist du nicht Masamoto-sama zu Treue verpflichtet?«

»Er hat meine Achtung an dem Tag verloren, an dem er dich adoptierte«, fauchte Kazuki und sah Jack hasserfüllt an. »Da er trotzdem der beste Schwertkämpfer von Japan ist, hat mein Vater mir befohlen, zu bleiben und die geheime Technik der beiden Himmel zu lernen.« Grinsend hob Kazuki die Lampe hoch. »Jetzt beherrsche ich sie. Die Schule ist vorbei!«

»Nein!«, schrie Jack und stürzte zu ihm, um ihn aufzuhalten.

Er stieß mit Kazuki zusammen, doch die Lampe flog bereits auf die Wand zu. Sie zerbrach und brennendes Öl spritzte durch das Zimmer. Jack stieß Kazuki die Schulter in die Brust. Sie gingen beide zu Boden.

Jack, der zunächst im Vorteil war, verpasste Kazuki einen Hakenstoß gegen das Kinn. Kazuki spuckte Blut und revanchierte sich mit einer Reihe heftiger Faustschläge. Jack ließ sie mit einer Grimasse über sich ergehen, bemüht, sich nicht abschütteln zu lassen. Doch Kazuki war ein geschickter Ringer und hatte Jack bald abgeworfen.

Sie sprangen beide auf. Das Zimmer brannte. Rauch behinderte ihre Sicht und Jack sah den Halbkreistritt erst, als es zu spät war. Er traf ihn in die Rippen und Jack stolperte zur Seite. Im nächsten Moment versetzte Kazuki ihm einen Vorwärtstritt gegen die Brust. Jack flog gegen die brennende Papierwand, brach durch sie hindurch und landete im Nachbarzimmer.

Kazuki sprang ihm nach und zielte mit einem Stampftritt nach seinem Kopf. Jack konnte im letzten Augenblick zur Seite rollen. Er drehte sich um und warf sich mit seinem Körper gegen Kazuki, packte dessen Bein, drehte es und ging gemeinsam mit ihm zu Boden. Er sprang als Erster wieder auf und trat Kazuki in den Rücken, als der ebenfalls aufstehen wollte. Erst da merkte Jack, dass der Ärmel seines Kimonos brannte.

In Panik schlug er nach den Flammen, um sie zu löschen. Diese Gelegenheit nutzte Kazuki aus. Er sprang auf und schlug Jack mit dem Faustrücken auf die Nase. Anschließend packte er ihn am rauchenden Arm und warf Jack mit einem Schulterwurf durch die nächste Wand.

Betäubt blieb Jack auf dem Boden liegen und starrte zur brennenden Decke hinauf. Die Balken der Halle der Löwen ächzten und knackten, während das Feuer sich ausbreitete. Kazuki trat durch die Flammen. Mit geballten Fäusten und hasserfüllten Augen blickte er auf Jack hinunter.

»Ich musste lange warten, bis ich dich endlich erledigen konnte«, sagte er und versetzte Jack in rascher Folge einige Tritte.

Jack krümmte sich zusammen und versuchte sich zu schützen, doch ein Tritt gegen den Kopf setzte ihn gänzlich außer Gefecht. Besinnungslos vor Schmerzen konnte er nur hilflos mit ansehen, wie die Flammen das Zimmer verschlangen.

Mit einem grausamen Lächeln trat Kazuki gegen den Türrahmen. Er splitterte und brach und das ganze Zimmer sank um Jack zusammen. Ein Balken fiel von der Decke herunter, landete auf seinem Rücken und drückte ihn auf den Boden. Jack schrie und wollte sich aufrichten, doch der Balken war zu schwer.

»Verbrenne, Gaijin, verbrenne«, rief Kazuki und überließ Jack seinem Schicksal.