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Die Burg von Osaka

Nach einem dreitägigen Gewaltmarsch trafen die Schüler in Osaka ein, dem politischen und wirtschaftlichen Zentrum Japans. Jack hatte sich nichts unter der Stadt vorstellen können. Sie hatte wie Kyoto wenig mit den englischen Städten gemein, in denen es durchdringend nach Mist und Gerbereien stank und deren löchrige Straßen von Räubern und streunenden Jugendlichen unsicher gemacht wurden.

In Osaka begegneten einem ständig Leute, die sich höflich verbeugten. Läden und Häuser waren unglaublich sauber, die Straßen waren breit und ordentlich gekehrt. Sogar frisches Wasser gab es.

Auf die Burg von Osaka war Jack allerdings noch viel weniger vorbereitet.

Vor ihm ragte eine unvorstellbar große Festung auf. In ihren Mauern hätten gleich mehrere Schlösser auf einmal Platz gefunden. Der Tower von London nahm sich dagegen armselig aus. In der Mitte der Burg ragte acht Stockwerke hoch der Hauptturm auf, ein schneeweiß gestrichenes Gebäude mit geschwungenen, überlappenden grünen Ziegeldächern und vergoldeten Giebeln.

Auf dem Weg durch die Außenbezirke der Stadt stießen weitere Soldaten zu ihnen, die zur Burg unterwegs waren. Ein steter Strom von Menschen wälzte sich die Hauptstraße entlang. Sie näherten sich einem gewaltigen steinernen Tor in einer mächtigen Mauer. Das Fallgatter wurde hochgezogen und die schweren, eisenbeschlagenen Torflügel schwangen auf.

Hunderte von Füße trampelten über die hölzerne Zugbrücke. Der Lärm dröhnte Jack in den Ohren. Er blickte nach rechts. Die äußere Mauer erstreckte sich mindestens anderthalb Kilometer lang geradeaus und machte dann einen Knick nach Norden. Sie fiel unbezwingbar steil zum Wasser des breiten Burggrabens ab. Die darin verbauten Steinquader überragten Jack und wogen bestimmt so viel wie zehn Kanonen zusammen. Obenauf saß wie das gezackte Rückgrat eines Drachen eine Reihe von Türmchen mit Blick auf die offene Ebene Tenno-ji im Süden. Sie passierten ein zweites, gleichermaßen gewaltiges Tor. Zu Jacks Erstaunen waren die Mauern mehrere Meter dick.

Am nächsten Tor bog der Weg nach rechts ab. Sie gingen eine breite Straße entlang, die von burgähnlich befestigten Häusern gesäumt wurde. Dann führte der Weg durch ein weiteres Fallgatter und über einen zweiten Burggraben und wieder in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Taro bedeutete Jack, nach oben zu blicken. Von Zinnen und Brüstungen blickten Hunderte von Soldaten auf sie nieder. Weitere Soldaten bewachten die Tore, patrouillierten auf den Straßen, exerzierten auf offenen Innenhöfen oder versorgten Pferde in den Ställen. Wohin der Blick auch fiel, überall wimmelte es von Samurai.

»Wer die Burg von Osaka beherrscht, der beherrscht das Herz des Landes«, flüsterte Taro.

Jack glaubte ihm nur zu gern und schöpfte neue Hoffnung. Die Burg schien uneinnehmbar, die Armee unbesiegbar. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren.

Jack verlor in dem Labyrinth aus Straßen und steinernen Treppen schon bald die Orientierung und war froh, als sie schließlich auf einem großen, von Bäumen gesäumten Platz mit einer Halle anhielten, die an den Butokuden erinnerte. Masamoto befahl den Schülern, in einer Reihe zu warten, und verschwand mit Sensei Hosokawa in Richtung des Hauptturms.

Der Turm war näher gerückt, schien aber immer noch mindestens zehn Minuten Fußmarsch entfernt. Sie hatten offenbar den inneren Bereich der Burg betreten, in dem allerdings selbst eine kleine Stadt Platz gehabt hätte. An den Platz schloss sich ein gepflegter Garten mit kleinen Brücken und einem Bach an, der in einen Teich floss. Blühende Kirschbäume spendeten Schatten und auf der anderen Seite befand sich ein kleiner Brunnen. Wasser war also verfügbar. Außerdem hatte Jack auf dem Herweg ein ganzes Wäldchen von Pflaumenbäumen und zahlreiche mit Reis, Salz, Sojabohnen und getrocknetem Fisch gefüllte Lagerhäuser gesehen. Die Burg bot nicht nur Schutz, sie war auch für eine Belagerung gerüstet.

Schließlich kehrte Sensei Hosokawa zurück und ließ sie antreten. Kurz nach ihm erschien eine größere Gruppe schwer bewaffneter Samurai. In ihrer Mitte schritten Daimyo Takatomi, Masamoto, einige weitere Gefolgsleute und ein Junge.

»Niederknien!«, befahl Sensei Hosokawa. Die jungen Samurai knieten hin und senkten die Köpfe.

Daimyo Takatomi trat vor.

»Es ist für mich eine große Ehre, euch Seine Hoheit Hasegawa Satoshi vorzustellen, den rechtmäßigen Thronerben und künftigen Herrscher Japans.«

Der von Gefolgsleuten umringte Junge nickte zustimmend. Jack blickte verstohlen auf. Satoshi schien nicht viel älter zu sein als er selbst, vielleicht sechzehn. Er hatte ein schmales, glattes Gesicht, auf der Oberlippe spross der erste Bartflaum. Die Haare hatte er zu einem Knoten aufgebunden und er war vornehm gekleidet wie ein hoher Würdenträger. Zu seiner Überraschung sah Jack um den Hals des Jungen ein kleines, silbernes Kreuz hängen.

»Ihre Samurai sind in meiner Burg höchst willkommen, Masamoto-sama«, sagte Satoshi mit heller Stimme. »Es treffen täglich Truppen ein, die mir treu ergeben sind. Unsere Armee wird schon bald über hunderttausend Mann stark sein. Mit ihr werden wir den Aufstand Daimyo Kamakuras niederwerfen.«

Mit den vornehmen Bewegungen eines Adligen ging Satoshi an den Reihen der Samurai entlang. Vor Jack blieb er stehen.

»Wer ist das?«, fragte er, überrascht von dem Blondschopf unter den schwarzhaarigen Japanern.

Jack verbeugte sich. »Jack Fletcher, Euch zu Diensten.«

Satoshi lachte aus vollem Herzen. »Unsere Feinde werden eine Heidenangst bekommen. Ein ausländischer Samurai!«

Seine Gefolgsleute stimmten in das Lachen ein. Mit einer Ausnahme. Direkt hinter dem Jungen stand ein hochgewachsener, schlanker Mann europäischer Abstammung mit olivfarbener Haut und glatt zurückgekämmten Haaren. Er fiel Jack erst jetzt auf, weil er dieselben offiziellen Kleider trug wie der Rest des Gefolges. Als der Mann Jack sah, trat ein Funkeln in seine Augen. Im nächsten Augenblick hatte er sich wieder gefasst. Seine schmalen Lippen verzogen sich zu einem gequälten Lächeln und er flüsterte Satoshi, der sich bereits zum Gehen gewandt hatte, etwas ins Ohr.

Jack hätte zu gern gehört, was er sagte. Der Mann musste einigen Einfluss auf Satoshi haben, wenn er als Ausländer dessen privatem Gefolge angehörte. Die Anwesenheit eines weiteren Europäers hätte Jack eigentlich beruhigen müssen. Stattdessen hatte er auf einmal ein mulmiges Gefühl in der Magengrube.

Satoshi beendete seine Inspektion, nickte Masamoto zu und ging. Sein Gefolge und die Samuraiwache verschwanden mit ihm. Daimyo Takatomi und Masamoto entfernten sich in ein Gespräch vertieft Richtung Garten. Die Aufsicht über die Schüler führte Sensei Hosokawa.

»Das ist unser Quartier«, rief er und zeigte auf das Gebäude hinter ihnen. »Bringt euer Gepäck hinein, anschließend gehen wir zur Waffenkammer.«

In dem großen, leeren Saal standen keine Betten. Der rückwärtige Teil war durch eine Schiebetür abgetrennt. Jack folgte Yamato und Yori, Akiko steuerte mit den anderen Mädchen auf den Raum hinter der Schiebetür zu. Jack stellte sein Gepäck in eine Ecke. Es bestand aus wenig mehr als dem Daruma, dem Messer des Ninjas, einer Ersatzdecke und einem Ersatzkimono. Beides hatte er im Laden der Schule erwerben können. Seine beiden Schwerter hingen jetzt ständig an seiner Hüfte.

Die Schüler brauchten eine Weile, um sich in der Halle einzurichten. Seit dem Überfall auf die Niten Ichi Ryu war die Stimmung schlecht. Der Schaden, den Kazuki angerichtet hatte, bestand nicht nur in einigen niedergebrannten Gebäuden. Sein Verrat hatte die Schule ins Herz getroffen. Unter den Schülern hatten sich Gruppen gebildet. Die Schüler misstrauten einander und litten unter der Schande des verräterischen Samurai.

»Kann ich zu dir kommen?«, fragte Takuan. Er wirkte vom langen Marsch erschöpft.

»Natürlich.« Jack nickte und machte ihm Platz. Ihre Rivalität um Akiko erschien ihm angesichts des drohenden Krieges bedeutungslos. »Wie geht’s?«

»Schrecklich.« Takuan ließ seine Sachen mit einer Grimasse fallen. »Mein Rücken ist vom schweren Gepäck aufgescheuert.«

»Beeilung!«, brüllte Sensei Kyuzo von der Tür.

Er führte sie zu einem großen Lagerraum, wo sie mit Rüstungen ausgestattet wurden. Ein bärbeißiger Soldat reichte Jack einen Brustpanzer aus überlappenden Reihen lackierter Lederschuppen, ferner zwei große, rechteckige Schulterpolster, einen eisernen Helm mit drei gebogenen Platten zum Schutz des Halses, zwei dicke Handschuhe und schließlich noch eine hässliche, metallene Maske. Sie bedeckte die untere Hälfte von Jacks Gesicht und hatte eine lange, spitze Nase und einen dicken schwarzen Schnurrbart.

»Was ist das?«, fragte Jack.

»Eine menpo«, knurrte der Soldat ungeduldig. »Sie schützt deinen Hals und macht dem Gegner Angst. Bei deinem Gesicht brauchst du eigentlich gar keine!«

Er lachte laut über seinen eigenen Witz. »Der Nächste!«

Jack kehrte in den Hof zu den anderen zurück, die ihre neue Ausrüstung bereits anprobierten. Er betrachtete die einzelnen Teile, unschlüssig, womit er anfangen sollte.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte Akiko. Sie war bereits in eine prächtige türkisblaue Rüstung gekleidet.

»Wie hast du die so schnell angezogen?«

»Ich habe meinem Vater oft mit seiner Rüstung geholfen, auch an dem Tag, an dem er zur Schlacht am Nakasendo aufbrach. Damals habe ich ihn zum letzten Mal gesehen.«

Ein Schatten wanderte über Akikos Gesicht. Jack wusste, dass der Tod ihres Vaters vor vielen Jahren ihr immer noch sehr naheging. Vermutlich war der frühe Verlust einer der Gründe, warum Akiko unbedingt selbst Samurai hatte werden wollen. Ohne einen älteren Bruder in der Familie musste sie den Platz des Vaters einnehmen und die Familienehre aufrechterhalten. Jack konnte ihre Gefühle verstehen. Es verging kein Tag, an dem er nicht an seinen eigenen Vater dachte. Allerdings war er aus einem anderen Grund Samurai geworden– wegen der Bedrohung durch Drachenauge.

Akiko zog Jack den Brustpanzer über den Kopf und wollte ihn gerade festbinden, da ertönte vom anderen Ende des Hofes übermütiges Kichern. Sie drehten sich um und sahen Yori in seiner neuen, viel zu großen Rüstung. Seine Arme waren nur wenig länger als die Schulterpolster, der Brustpanzer reichte ihm fast bis zu den Knien. Für die größte Heiterkeit sorgte allerdings der Helm. Der Kopf war vollständig darin verschwunden und Yori stolperte blind durch die Gegend. Yamato eilte ihm zu Hilfe.

Als alle vollständig ausgerüstet waren und Yori seinen Helm gegen einen kleineren, allerdings nicht viel besser sitzenden ausgetauscht hatte, brachten sie die Rüstung zu ihren anderen Habseligkeiten und machten sich auf den Weg in die Gemeinschaftsküche zum Essen. Jack hatte nach dem langen Marsch von Kyoto nach Osaka einen Mordshunger und freute sich auf eine anständige Mahlzeit. Doch sie bekamen nur einige kalte Reisbällchen und wässrige Fischsuppe.

Verärgert ließen sich die Schüler im Hof nieder, um das Abendessen zu verzehren. Yori setzte sich neben Jack. Er wirkte zutiefst niedergeschlagen und stocherte in seinem Reis herum, ohne davon zu essen.

Jack versuchte ihm ein Lächeln zu entlocken. »Das Essen ist hier nicht so gut wie in der Halle der Schmetterlinge, aber wenigstens haben wir einen tollen Blick auf die Burg.«

»Wir werden also kämpfen, nicht wahr?«, flüsterte Yori und starrte in seine Suppe.

»Keine Angst, Yori, bestimmt nicht in der ersten Reihe«, sagte Akiko beruhigend.

»Warum bekommen wir dann Rüstungen?«

»Wir sind die Reserve. Deshalb wurden wir im inneren Burghof einquartiert. Das ist nach dem Hauptturm der sicherste Ort.«

»Und wenn die Feinde in die Burg eindringen?«

»Das schaffen sie nie. Du hast doch die Mauern gesehen. Keine Armee kann zwei Burggräben überqueren und diese Mauern hinaufklettern. Die Burg ist uneinnehmbar.«

Da näherten sich vier Wachen. Ihr Anführer sprach Jack an. »Jack Fletcher, du sollst zum Turm mitkommen.«