51
Der Turm

Eine gewaltige Explosion weckte Jack.

Yamato war verschwunden, ebenso Akiko.

Er rannte nach draußen. Die Schüler waren im Laufschritt zu den Wehrgängen der inneren Mauern unterwegs. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend rannte Jack die Treppe hinauf. Dort sah er Akiko und Yamato. Die Sonne stand tief am Horizont, der Himmel war blutrot. Im Licht der Abenddämmerung erkannte Jack, dass Daimyo Kamakuras Truppen die ganze Tenno-ji-Ebene ausfüllten. Kanonen und andere Belagerungsmaschinen beschossen weiterhin die Mauern.

»Kamakuras Soldaten haben den Burggraben überquert«, erklärte Yamato. »Sie lassen Fässer mit Schießpulver explodieren, um die äußere Mauer zu zerstören.«

Wieder erschütterte eine gewaltige Explosion die Burg bis in ihre Grundfesten. Von einem einstürzenden äußeren Mauerstück stiegen Rauch und Staub auf und Rote Teufel strömten durch die Lücke.

»Es ist also alles vorbei?«, fragte Jack.

»Noch nicht«, erwiderte Akiko. »Sie müssen noch die anderen Mauern bezwingen. Vergiss nicht, niemand hat die Burg von Osaka je erobert.«

Die Schüler sahen zu, wie Kamakuras Truppen zermürbende Gefechte mit den Verteidigern begannen. Tausende von Samurai kämpften erbittert um die Mauern und versuchten sich gegenseitig zurückzudrängen. Ziel der Roten Teufel war die innere Burg, doch kamen sie in den schmalen, gewundenen Gassen der äußeren Befestigungen nur langsam voran. Sämtliche Tore und Außenbastionen mussten verlustreich erstürmt werden und die Zahl der Gefallenen wuchs rasch.

Als die Sonne hinter dem Horizont verschwand, war Daimyo Kamakuras Vorstoß zum Stehen gekommen.

»Seht dort! Die Burg brennt!«, rief Cho und zeigte auf den westlichen Teil der inneren Befestigung.

»Aber dort sind die Roten Teufel doch noch gar nicht eingedrungen«, meinte Yamato erstaunt. »Offenbar haben wir einen Verräter.«

»Wahrscheinlich sind das Ninjas«, verbesserte Akiko ihn mit einem vielsagenden Blick auf Jack.

Aus der Burgküche schlugen Flammen und tauchten den dämmrigen Himmel in einen unheilvollen orangenen Schein. Vom Wind angefacht, breitete das Feuer sich rasch aus. Unter Satoshis Soldaten griffen Verwirrung und Panik um sich. Die gegnerischen Truppen nutzten das Durcheinander, brachen durch die Verteidigung und erzwangen sich Zugang zur inneren Burg.

Die Brüstung rechts von Jack explodierte plötzlich. Eine Kanonenkugel hatte sie getroffen und Steinsplitter flogen durch die Luft. Die Schüler warfen sich auf den Boden. Eine zweite Kanonenkugel riss ein klaffendes Loch in die Mauer. Jack half Akiko und Yamato auf und sie stolperten die beschädigte Treppe hinunter. Viele Schüler begannen in Panik zu schreien. Masamoto und seine Sensei rannten auf den Hof und sammelten sie um sich.

»Zum Hauptturm!«, befahl Masamoto.

Die Schüler holten Waffen und Gepäck aus ihrem Quartier und folgten ihm. Sie rannten über den inneren Burghof und eine gepflasterte Gasse entlang zum letzten noch unversehrten Bollwerk. Jack sah über die Schulter. Die Roten Teufel kämpften bereits mit der Nachhut. Der sichere Hauptturm war nicht mehr weit entfernt, doch die Angreifer kamen rasch näher.

»Schnell!«, rief Jack, als er sah, dass Cho zurückfiel.

Ein Roter Teufel mit geschwungenen goldenen Hörnern kämpfte gegen die letzten Wachen, die noch auf ihrem Posten waren. Mit seinem riesigen Schwert tötete er gleich drei von ihnen auf einen Streich.

Die Gasse wurde schmaler. Sie näherten sich dem schützenden Hof des Hauptturms. Am Eingang stand Masamoto und vergewisserte sich, dass alle Schüler ihn erreichten.

Jack riskierte einen zweiten Blick über die Schulter. Soeben hob der Rote Teufel mit den goldenen Hörnern einen langen Speer und warf ihn auf die letzten Samuraischüler.

»Vorsicht!«, schrie Jack.

Der Speer flog auf Cho zu.

Gerade noch rechtzeitig stieß Yamato sie zur Seite.

Die mit einem tückischen Widerhaken versehene Spitze traf stattdessen ihn. Er ging zu Boden.

Der Rote Teufel heulte triumphierend auf und holte mit seinem gewaltigen Schwert aus, um den verwundeten Yamato zu erschlagen.

Jack drehte um und rannte zu Yamato zurück.

Yamato kroch verzweifelt auf ihn zu. Der Speer ragte aus seiner Seite.

Jack zog seine beiden Schwerter und griff den Roten Teufel an.

Der war bereit. Als Jack zuschlug, riss der Rote Teufel sein Schwert nach oben. Jack konnte der tödlichen Klinge nur knapp ausweichen und sie im letzten Moment mit seinem Kurzschwert abwehren. Doch dann traf der Rote Teufel ihn mit dem Unterarm auf das Handgelenk und Jack musste sein Langschwert loslassen. Sofort schlug der Samurai ihm die gepanzerte Faust ins Gesicht. Ohne die Gesichtsmaske hätte der Schlag Jack getötet. Die Maske zerbrach. Jack wurde gegen eine Mauer geschleudert und verlor dabei seinen Helm.

Wie betäubt wartete er darauf, dass die stählerne Klinge ihm den Hals durchtrennen würde. Doch der Rote Teufel starrte nur entgeistert auf Jacks blonde Haare und blaue Augen.

»Ein Gaijin als Samurai!«, rief er.

In diesem Moment sauste ein Pfeil durch die Luft und traf in die Lücke zwischen Helm und Gesichtsmaske. Der Rote Teufel wich taumelnd zurück. Blut strömte aus seiner Augenhöhle.

»Zögere nie!«, sagte Jack und hob sein Schwert auf.

Der Samurai war allerdings noch keineswegs tot.

Mit einem gurgelnden Schrei rannte er auf Jack zu. Ein zweiter Pfeil durchbohrte seine Brust. Sensei Yosa war zu Akiko ins Tor getreten. Der Samurai griff trotzdem weiter an. Jack wich seinen fürchterlichen Schlägen nur mit Mühe aus. Plötzlich stand Masamoto neben ihm.

»Geh!«, sagte er zu Jack. Dann stürzte er sich auf den Samurai, den offenbar nichts töten konnte.

Jack rannte zu Yamato, zog den Speer aus seiner Wunde, half ihm aufstehen und führte ihn zum Tor. Am Ende der Gasse erschienen hundert weitere Rote Teufel. Akiko und Sensei Yosa empfingen sie mit einem Hagel von Pfeilen, um sie aufzuhalten.

Masamoto entwaffnete den Roten Teufel mit den goldenen Hörnern mit einem blitzschnellen Herbstblattschlag und stieß ihm sein Kurzschwert in den Bauch. Ächzend ging der Rote Teufel in die Knie.

»Das war für meinen Sohn!«, rief Masamoto.

Er holte mit seinem Langschwert aus und enthauptete den Roten Teufel. Der Kopf des Samurai fiel von den Schultern und rollte hüpfend durch die Gasse.

»Und das für Taro!«

Sobald Masamoto in den inneren Burghof zurückgekehrt war, schlugen die Wachen das Tor zu. Die Roten Teufel hämmerten von draußen dagegen, doch die eisenverstärkten Torflügel hielten, zumindest vorerst.

Jack bettete Yamato auf den Boden. Akiko kniete sich mit besorgtem Gesicht neben ihn.

»Mir geht es gut«, keuchte Yamato. »Die Wunde ist nicht tief.«

Akiko rollte ihn vorsichtig auf die Seite und betrachtete seine Verletzung.

Masamoto stand auf einmal über ihnen. »Wie geht es ihm?«, fragte er.

»Er blutet stark, aber die Rüstung hat das Schlimmste abgewehrt.«

»Kannst du stehen?«, fragte Masamoto.

Yamato nickte.

»Gut. Bringt ihn sofort in den Turm und lasst ihn dort verbinden.«

Selbst jetzt brachte der gestrenge Mann es nicht über sich, seinem Sohn die Liebe und Anerkennung zu zeigen, die dieser so dringend benötigte. Wahrscheinlich, dachte Jack, hielt Masamoto es für ein Zeichen von Schwäche, vor seinen Schülern Gefühle zu zeigen. Jedenfalls verlor der Samurai kein Wort darüber, wie mutig und selbstlos es von Yamato gewesen war, Cho zu retten. Jack merkte Yamato die Enttäuschung deutlich an.

Er fasste ihn zusammen mit Akiko unter den Armen und half ihm über den Hof.

»Danke… dass ihr… mir geholfen habt«, sagte Yamato kurzatmig. »Ich verdanke euch beiden mein Leben.«

»Wir müssen uns bei Akiko bedanken«, erwiderte Jack. »Wenn sie nicht so gut getroffen hätte, wären wir jetzt beide tot.«

»Der Schuss ging daneben«, sagte Akiko.

»Wieso?«, rief Jack. »Du hast ihn doch ins linke Auge getroffen!«

»Ich habe auf das rechte gezielt.«

Sie mussten alle drei lachen.

»Aufhören«, stöhnte Yamato. »Lachen tut weh.«

Im Turm herrschte hektische Betriebsamkeit. Ashigaru eilten an ihnen vorbei und brachten den Soldaten auf dem innersten Mauerring Arkebusen und Schießpulver. Die Freunde stiegen die Treppe zum zweiten Stock hinauf. Dort stand Daimyo Takatomi und erteilte den verbliebenen Generälen Befehle. Sobald er sah, dass Masamotos Sohn verwundet war, unterbrach er die Besprechung und kam zu ihnen.

»Bringt Yamato-kun in mein Zimmer. Mein Leibarzt soll sich um ihn kümmern.«

Sie stiegen die Treppen zum sechsten Stock hinauf. Der Kanonendonner schien näher zu kommen. Durch ein Fenster im vierten Stock warf Jack einen Blick nach draußen auf das Kampfgeschehen. Daimyo Kamakuras Truppen rückten von allen Seiten näher und schossen Brandpfeile über die Mauern. Doch Satoshis Soldaten hielten sie mit ständigem Musketenfeuer und Pfeilhageln in Schach.

Als sie am fünften Stock vorbeikamen, blieb Yamato auf einmal stehen.

»Geht’s noch?«, fragte Jack.

Yamato nickte. »Sieh mal dort!«, flüsterte er. »Pater Bobadillos Tür steht offen.«

Am Ende des Korridors waren die holzgetäfelten Wände des Zimmers zu sehen. In einer Ecke brannte flackernd eine Öllampe.

»Das ist vielleicht deine letzte Chance«, sagte Yamato und sah Jack bedeutungsvoll an.

»Aber du?«

»Ich komme mit Akikos Hilfe schon zurecht.« Yamato nahm seinen Arm von Jacks Schulter. »Du holst dir jetzt das Buch deines Vaters.«