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Der gute Verlierer

»er kann sich nicht für einen Sieger entscheiden.«

»Wir haben zwei Dichter, die sich in ihrer Kunst so gleich sind wie die Erbsen einer Schote«, erklärte Saigyo.

Sofort verbreitete sich in der Halle aufgeregtes Getuschel, wer wohl die beiden aussichtsreichsten Kandidaten sein könnten. Jack hoffte, dass Yori einer von ihnen war. Yori konnte eine Stärkung seines Selbstbewusstseins dringend gebrauchen.

Sobald sich die Aufregung über das Unentschieden etwas gelegt hatte, fuhr Saigyo fort. »Ich schlage ein maekuzuke der beiden besten Kandidaten vor.«

Die Schüler erstarrten, doch nicht vor Kälte, sondern vor Spannung.

Sensei Nakamura trat vor und erklärte die Regeln.

»Unser Ehrengast wird ein kurzes, zweizeiliges Gedicht vorgeben, die beiden Kandidaten fügen ein Haiku von sich hinzu, sodass ein vollständiges tanka entsteht. Das Haiku wird danach beurteilt, wie originell es ist und wie gut es zu den vorgegebenen Versen passt. Die Kandidaten müssen aus dem Stegreif dichten.«

Beeinducktes Murmeln verbreitete sich angesichts dieser schweren Aufgabe.

»Yori-kun und Takuan-kun, tretet vor.«

Yori sah Sensei Nakamura verdattert an. Er wirkte so verschreckt und überrascht wie ein auf offenem Feld gestelltes Kaninchen.

»Keine Angst«, flüsterte Jack. »Du bist doch ein Naturtalent als Dichter.«

Takuan sprang auf und trat vor. Geduldig warteten die Schüler, bis auch Yori aufgestanden und zögernd neben Takuan getreten war.

Saigyo begrüßte ihn mit einem beruhigenden Lächeln.

»Die Eröffnungsverse stellen ein einfaches Problem:

›Ich will ihn töten,
ich will ihn nicht töte
n…‹«

Yori schien über die rohe Direktheit der Verse überrascht, während Takuan in Gedanken schon an einer Fortsetzung schrieb.

»Mein Freund und Liebhaber der Frösche«, sagte Saigyo, »du beginnst.«

Yori sah voller Panik in die erwartungsvollen Gesichter um sich. Jack fürchtete schon, er würde gleich klein beigeben und aus der Halle des Falken fliehen.

Doch dann hellte Yoris Miene sich plötzlich auf. Ihm war etwas eingefallen. Er sprach so schnell, dass er fast über die eigene Zunge stolperte.

»Vor die Wahl gestellt,
kann Rache süß sein,
doch Gnade größer.«

Yori seufzte erleichtert aus, als die Antwort heraus war.

Saigyo dachte über das Haiku nach, dann wandte er sich an Takuan. »Wie lautet dein Gedicht?«

Takuan antwortete, ohne zu zögern:

»Den Dieb fangen
und sein Gesicht sehen:
es ist mein Bruder!«[11]

Saigyo nickte unverbindlich und starrte in die glühende Holzkohle in der Tonschale, während er über die beiden Gedichte nachdachte.

»Eine Entscheidung ist in diesem Fall wie die Wahl zwischen zwei Arten von Sake«, sagte er schließlich und rieb sich das Kinn. »Sie schmecken verschieden, wirken aber beide gleich stark und erfrischend. Dein Haiku, Yori-kun, ist getränkt mit dem Geist des Bushido, doch fehlt das poetische Bild. Dein Haiku, Takuan-kun, ist so überraschend und denkwürdig wie eine rote Rose im Winter. Deshalb erkläre ich dich zum Sieger!«

Die Mädchen juchzten entzückt und alle klatschten begeistert. Takuan stand auf und Saigyo überreichte ihm den Preis: ein zusammengerolltes Blatt Papier, auf das er eigenhändig ein Haiku geschrieben hatte.

Der Wettbewerb war vorbei. Sensei Nakamura beendete den Unterricht und begleitete Saigyo in die Halle des Phönix zu einer Privataudienz bei Masamoto-sama. Draußen umringten die Schüler Takuan und gratulierten ihm zu seinem schönen Stegreifgedicht und dem verdienten Sieg. Emi und Akiko blickten ihm über die Schulter und lasen das Gedicht, das er als Preis bekommen hatte.

Jack sah, dass Yori sich allein über den Hof entfernte, und eilte ihm durch den knirschenden Schnee nach.

»Alles in Ordnung?«, fragte Jack mitfühlend. Hoffentlich war Yori nicht am Boden zerstört.

Yori drehte sich um. Er grinste zufrieden.

»Natürlich. Ich bin Zweiter geworden, ist das nicht wunderbar?«

»Aber… aber du hast verloren. Bist du nicht enttäuscht, dass Takuan dich besiegt hat?«

»Warum denn? Ich habe nicht erwartet, dass ich gewinnen oder unter die letzten zwei kommen würde. Ich wollte nur den großen Dichter Saigyo kennenlernen. Und mein Frosch-Haiku hat ihm gefallen!«

»Ich verstehe immer noch nicht, wie es dir so egal sein kann, dass du verloren hast«, sagte Jack, als er am Abend mit Yori in dessen Zimmer saß. »Ich an deiner Stelle wäre wahnsinnig enttäuscht.«

»Aber ich bin nicht du«, erwiderte Yori und stellte die kleine Klangschale für seine abendlichen kiaijutsu-Übungen auf. »Wenn ich mich mit Takuan vergleichen würde, hätte ich verloren. Aber ich vergleiche mich mit dem, was ich als Dichter leisten kann. Deshalb habe ich gewonnen.«

Gegen diese weisen Worte konnte Jack nichts einwenden. Er setzte sich in eine Ecke und sah die Zettel durch, auf die er seine eigenen dichterischen Versuche geschrieben hatte. Keiner davon schien ihm gut genug, um ihn Akiko zu schenken, nachdem er die Haikus der anderen gehört hatte.

»Meine Gedichte sind schrecklich«, jammerte er. »Takuan kann so viel besser dichten. Vielleicht sollte ich ihn einfach dazu bringen, eins für mich zu schreiben.«

»Du darfst dich nicht immer mit Takuan vergleichen«, mahnte Yori und begann mit seinen Atemübungen für das kiai. »Akiko freut sich bestimmt am meisten über ein Haiku, das du selbst geschrieben hast.«

»Meinst du?«

Yori nickte und schrie die Klangschale an. Er brachte nur eine Art Quietschen zustande und die Schale blieb stumm. Enttäuscht verzog er das Gesicht und versuchte es noch einmal.

Jack ging unterdessen mit neuer Kraft daran, ein taugliches Haiku zu schreiben. Yoris Verständnis hatte ihm schon einmal geholfen, etwas klarer zu sehen. Er würde ein Gedicht schreiben, das ihm selbst etwas bedeutete– und auch Akiko. Sie hatte ihm eine schwarze Perle geschenkt. Sein Haiku würde sein persönliches Geschenk an sie sein.

Saburo platzte herein. »Habt ihr gehört, was eben bekannt gegeben wurde?«, rief er.

Jack und Yori schüttelten die Köpfe.

»Akiko, Emi und Takuan sind ausgewählt worden, unsere Schule beim Yabusame-Wettbewerb zu vertreten.«

»Na prima«, murmelte Jack und legte den Schreibpinsel weg. »Dann wird Takuan noch mehr Zeit mit Akiko verbringen.«

»Ich weiß nicht, was du hast«, hielt Saburo dagegen. »Du trainierst die ganze Zeit mit meinem Bruder!«

»Was soll das heißen?«

»Du solltest dich beim Frühstück hören. Taro dies und Taro das. Ich kann nicht mehr hören, wie toll er ist!«

»Verzeihung«, sagte Jack, erschrocken über die plötzliche Heftigkeit des Freundes. »Ich wusste nicht, dass du… eifersüchtig bist.«

Saburo schüttelte müde den Kopf. »Ich entschuldige mich, Jack. Von meinen Eltern bekomme ich dasselbe zu hören. ›Taro hat dies und das getan. Warum tust du nicht endlich auch etwas, was eines Samurai würdig wäre?‹ Ich bin es einfach leid, die ganze Zeit mit meinem Bruder verglichen zu werden.«

»Nimm es dir nicht zu sehr zu Herzen«, sagte Jack. »Hör auf, dich mit deinem Bruder zu vergleichen, und setze dir eigene Ziele.« Er sah Yori stumm lachen, schließlich wiederholte er den Rat, den Yori ihm eben erst gegeben hatte. »Taro kann vielleicht gut mit zwei Schwertern kämpfen, aber er ist manchmal ehrlich gesagt auch etwas langweilig. Er spricht nur vom Schwertkampf und ist nicht witzig wie du.«

»Danke«, sagte Saburo. Er hob eins der Haikus auf, die Jack verworfen hatte, und das Lächeln kehrte auf sein Gesicht zurück. »Was ist das? Ich dachte, du schreibst nicht gerne Haikus.«

»Gib das sofort zurück!«, rief Jack in heller Aufregung. Saburo sollte das Gedicht nicht lesen und womöglich erraten, dass es für Akiko bestimmt war.

Er riss Saburo das Papier aus der Hand, sammelte die anderen Blätter hastig ein und stieß Saburo dabei fast um. Saburo stolperte rückwärts und trat Yori unabsichtlich auf den Fuß. Yori tat einen spitzen Schrei.

Die Klangschale begann metallisch zu summen.

Jack und Saburo starrten zuerst Yori an und dann die Schale.

»Ich habe es geschafft«, murmelte Yori andächtig. »Ich habe es geschafft.«

Kazuki steckte den Kopf durch die Tür. »Hier geht’s ja richtig kriegerisch zu. Sind wir hier im Mädchenflur? Gezanke, Gedichte und ein kiai, der höchstens eine Motte das Fürchten lehren könnte. Wir müssen aufpassen, Jungs, sonst fragen sie uns noch, ob wir mit ihnen Blumengestecke basteln!«

Lachend gingen Hiroto, Goro und Nobu zu ihren Zimmern weiter. Jack und Saburo rannten gekränkt zur Tür. Doch fiel ihnen keine geeignete Erwiderung auf Kazukis Bemerkung ein, deshalb konnten sie ihm nur böse nachstarren.

Yori blieb, wo er war, und blickte wie gebannt auf die summende Schale.