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Der Segen

Am folgenden Morgen stand Jack in voller Rüstung neben Yamato und Yori auf dem Platz des Hokoku-Schreins. Vom grauen Himmel fiel leichter Regen, der sich mit den Tränen der jungen Samurai vermischte, die sich vor dem Scheiterhaufen Takuans versammelt hatten.

Masamoto-sama und die Sensei der Niten Ichi Ryu standen im Halbkreis um die in einen weißen Kimono eingewickelte Leiche. Sensei Yamada schwenkte Weihrauch und murmelte ein Sutra, während der erste schwache Schein der Morgendämmerung auf den Platz fiel. In der Ferne rollte ununterbrochen Kanonendonner.

Sobald Sensei Yamada die Begräbnisriten vollzogen hatte, ergriff Masamoto das Wort.

»Der Weg des Kriegers erfüllt sich im Tod. Takuan ist als Erster gefallen. Er wird nicht der Letzte sein, doch wir werden ihn für immer in Erinnerung behalten.«

Jack hörte Emi schluchzen. Auch er spürte einen Kloß im Hals, wenn er an Takuan dachte, an seine Großzügigkeit, seine Freundschaft und natürlich seine Gedichte.

Sensei Nakamura trat vor. Ihr von tiefem Kummer gezeichnetes Gesicht war so weiß wie ihre Haare. Sie betrachtete ihren Sohn ein letztes Mal, dann hielt sie mit zitternder Hand eine brennende Kerze an den Scheiterhaufen. Das Holz fing Feuer. Flammen hüllten Takuans Leiche ein und Rauch und Asche stiegen in einer Wolke zum Himmel auf.

Die Schüler neigten die Köpfe zu Takuans Ehren. Es hörte auf zu regnen, als hätte der Himmel sich ausgeweint. Die Sensei führten die Schüler langsam zu ihrem Quartier zurück. Dort stellten sie sich in Gruppen auf und warteten. Masamoto wollte zu ihnen sprechen.

»Takuan ist nicht umsonst gestorben«, rief Masamoto. »Sein Tod hat uns vor dem Überfall der Ninjas gewarnt und Seiner Hoheit Satoshi das Leben gerettet. Noch heute kann dasselbe Treueopfer von euch verlangt werden.«

Jack wusste bereits, dass Satoshi überlebt hatte. Nachdem Akiko ihn verlassen hatte, war Jack das Dach zu Yamato hinaufgeklettert. Yamato hatte ihn erleichtert begrüßt und ihm erzählt, dass Drachenauge seinen Auftrag nicht hatte ausführen können. Die Explosion war lediglich durch eine Rauchbombe verursacht worden, die dem Ninja die Flucht ermöglicht hatte. Zwei Mitglieder des Rats waren getötet worden, doch Daimyo Takatomi hatte ebenfalls überlebt. Seine Verletzungen waren nicht tödlich gewesen.

»Laut meinen Informanten will der Feind die Burg heute Nacht erneut angreifen«, fuhr Masamoto mit einem Blick in Akikos Richtung fort. Sie stand am hinteren Ende einer Reihe und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Womöglich hatte sie überhaupt nicht geschlafen, dachte Jack.

»Wir wissen jetzt, dass die Ninjas sich als Samurai von Daimyo Yukimura verkleidet haben, am hellichten Tag in die Burg eingedrungen sind und sich bis zur Nacht in einem Speichergebäude versteckt haben. Sie haben uns einmal überrumpelt und sind entkommen. Dasselbe wird kein zweites Mal geschehen. Der Rat hat angeordnet, dass wir Kamakuras Truppen auf der Ebene entgegentreten. Wir werden sie angreifen. Schüler der Niten Ichi Ryu, wir marschieren– für Ruhm und Ehre!«

»Für Ruhm und Ehre!«, brüllten die Schüler wie aus einem Mund.

Sensei Hosokawa ließ die Schüler Haltung annehmen. Angeführt von ihrem jeweiligen Sensei, verließen die Gruppen den Platz.

»Eine gefährliche Entscheidung«, murmelte Taro leise, während er Helm und menpo aufsetzte.

»Was meinst du?«, fragte Jack.

»Die Gegner müssen eine Bresche in die Burgmauer geschlagen haben, wenn die Regenten eine offene Schlacht riskieren. Ich hoffe doch, sie wissen, was sie tun.«

Sie überquerten den inneren Burggraben und der Kanonendonner wurde lauter. Anschließend marschierten sie zwischen den äußeren Bastionen hindurch. Auf den Mauern wehten Hunderte von Fahnen und Wimpeln. Viele zeigten die Familienwappen der für Satoshi kämpfenden Samurai, einige aber auch das christliche Kreuz, ein Bild Jesu oder sogar den heiligen Jakobus, den Schutzpatron von Spanien. Die Mauern waren über und über mit christlichen Symbolen geschmückt, die sich trotzig bunt vom grauen Stein abhoben. Jack konnte sich vorstellen, wie Daimyo Kamakura bei diesem Anblick schäumen musste.

Je näher sie dem Haupttor kamen, desto deutlicher waren die Schäden zu sehen, die der Feind angerichtet hatte. Den Anfang machten einige von Kanonenkugeln eingeschossene Mauern. Als Nächstes begegneten ihnen Samurai mit blutbespritzten Rüstungen. Als sich die Schüler in die gewaltige Kolonne von Soldaten einreihten, die zur Ebene vor der Burg unterwegs waren, passierten sie immer mehr Verwundete. Einige hatten Schnittwunden im Gesicht, andere waren von Pfeilen getroffen worden. Wieder andere lagen im Sterben. Ihnen fehlten ganze Gliedmaßen, manchen quollen die Eingeweide aus dem Bauch. Einige Franziskanermönche und Jesuiten gingen mit feierlichem Ernst zwischen ihnen hin und her und verabreichten den Sterbenden die letzte Ölung.

Die Schüler marschierten inzwischen auf einer Straße, die neben der äußeren Mauer verlief. Auf den Wällen über ihnen schossen Bogenschützen unermüdlich eine Salve nach der anderen in den Himmel. Andere Soldaten luden die Katapulte und schleuderten Steine und Brandkugeln ins Kampfgetümmel. Bald würden auch sie dem Feind gegenüberstehen, dachte Jack.

Durch ein Loch in der Mauer erschien plötzlich die Tenno-ji-Ebene und für einen kurzen Augenblick sah Jack die kämpfenden Heere. Alles lag unter einer Rauchglocke. Kanonenfeuer blitzte auf. Ein Wald stählerner Schwerter und flatternder Fahnen wogte hin und her. Das Geschrei von Tausenden von Samurai erfüllte die Luft. Im Burggraben schwamm eine Leiche. Dann schnitt die Mauer das Bild wieder ab.

Kurz bevor sie das Haupttor erreichten, ließ Masamoto anhalten. Ein Shintopriester begrüßte sie, sprach ein Gebet an den Kriegsgott Hachiman und bat ihn um Hilfe für den Sieg und Schutz der jungen Samurai.

Rechts und links des Burgtors standen einige Jesuiten und Mönche und segneten die in die Schlacht ziehenden Soldaten mit christlichen Gebeten. Zu seiner Überraschung entdeckte Jack unter ihnen auch Pater Bobadillo. Als der Pater Masamoto sah, eilte er sofort zu ihm und sprach mit ihm.

Jack hätte gern gewusst, was für eine Intrige die falsche Schlange diesmal ausgeheckt hatte. Er hatte Akiko und Yamato schon von den Geschäften des Paters mit Drachenauge erzählt, aber noch keine Gelegenheit gehabt, seinen Vormund zu warnen. Leider konnte er nichts beweisen. Pater Bobadillo würde ihn nur auslachen, wenn er sich auf Drachenauge berief, diesen Meister der Täuschung.

Außerdem war es Jacks Hauptanliegen, den Portolan zu finden.

»Auf Wunsch Seiner Hoheit Hasegawa Satoshi wird Pater Bobadillo euch persönlich segnen, bevor ihr in die Schlacht zieht«, rief Masamoto. »Dass der Priester unseres Fürsten uns segnet, ist eine große Ehre für die Schule. Kniet hin.«

Die Samuraischüler beugten das Knie und senkten die Köpfe. Pater Bobadillo trat vor und hob das Holzkreuz, das ihm um den Hals hing.

»Herr, segne und beschütze diese Seelen mit deiner Liebe. Bewahre sie heute vor Schaden und halte sie sicher in deinen Armen. Amen.«

Er schritt die Reihen der Schüler ab und salbte ihre Köpfe. Als er an Jack vorbeikam, übersprang er ihn unauffällig. Jack stieß eine stumme Verwünschung aus. Nicht einmal vor der entscheidenden Schlacht brachte der Pater es fertig, einen Gegner seines Landes zu segnen.

Sobald Pater Bobadillo fertig war, stieg Masamoto wieder auf sein Pferd. Sensei Yosa folgte seinem Beispiel. Ihren mächtigen Bogen trug sie in der Hand. Die anderen Sensei gingen zu Fuß. Sensei Nakamura hielt eine bedrohlich aussehende Schwertlanze, Sensei Kano seinen langen weißen Stock und Sensei Hosokawa seine beiden Schwerter. Sensei Yamada und Sensei Kyuzo waren dagegen unbewaffnet. Sensei Kyuzo vertraute auf sein Geschick im waffenlosen Kampf, der auf seinen Spazierstock gestützte Sensei Yamada nur auf sich selbst.

»Samurai!«, brüllte Masamoto. »Seid ihr bereit, euch dem Feind zu stellen?«

Die Schüler bekundeten ihre Bereitschaft mit einem lauten Schrei. Nur Yori beteiligte sich nicht. Er zitterte in seiner übergroßen Rüstung.

»Bleib neben mir«, flüsterte Jack ihm zu. »Dann passiert dir nichts. Versprochen.«

Er glaubte selber nicht, was er sagte, doch schienen seine Worte Yori zu trösten. Jedenfalls brachte Yori durch seine menpo ein tapferes Lächeln zustande.

»Der Leitspruch unserer Schule lautet: Lernt heute, auf dass ihr morgen lebt!«, rief Masamoto. Er hob sein Schwert und die stählerne Klinge blitzte im Morgenlicht. »Jetzt ist morgen. Lang lebe die Niten Ichi Ryu!«