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Eine düstere Botschaft

»Der Krieg hängt wie eine Gewitterwolke am Horizont«, rief Masamoto.

Im Speisesaal, der nach den bemalten Wänden Halle der Schmetterlinge genannt wurde, kehrte Totenstille ein. Wie erstarrt knieten die jungen Samurai vor Masamoto. Einige waren zutiefst erschrocken, andere träumten bereits von Ruhm und Ehre. Jack, der schon Schlachten gegen portugiesische Kriegsschiffe miterlebt hatte, erinnerte sich an Tage und Nächte voll Angst, an Tod und Schmerzen.

Masamoto gebot mit erhobener Hand Schweigen. Er trug seinen feuerroten Festtagskimono, der mit den fünf goldenen Phönixwappen im Schein der Laternen schimmerte wie eine Rüstung. Seine Miene war düster und ernst, die vernarbte Gesichtshälfte leuchtete tiefrot.

»Ihr habt alle mitbekommen, dass Daimyo Kamakura die Christen und Ausländer aus Japan vertreiben will. Er sieht in ihnen eine Bedrohung für unser Land.«

Jack spürte die Blicke seiner Mitschüler auf sich. In den meisten lag Mitgefühl, in einigen aber auch offene Feindschaft.

»Daimyo Takatomi glaubt dagegen an die Zukunft eines geeinten Japan, das Gäste anderer Länder willkommen heißt. Er findet nicht, dass die Religion einen Samurai in seinen Pflichten seinem Kaiser gegenüber behindert. Schließlich bekennt er sich selbst zum Christentum. Deshalb sucht er nach einer friedlichen Lösung des Konflikts. Er ist fest davon überzeugt, dass seine alten Waffenkameraden sich seiner Meinung anschließen werden. Ein Feldzug gegen die Ausländer würde Japan spalten und schwächen. Denn wenn die Daimyos sich zerstreiten, droht Japan ein neuer Bürgerkrieg.«

Unter den Schülern wurde unruhiges Gemurmel laut. Jack blickte verstohlen in Kazukis Richtung. Kazuki grinste hämisch. Bestimmt freute er sich über die Aussicht auf einen Krieg. Bisher hatte seine Skorpionbande sich damit begnügt, Jack zu schikanieren. Jetzt schien das eigentliche Ziel in greifbare Nähe gerückt, dem ihre Mitglieder sich in einer geheimen Aufnahmezeremonie verpflichtet hatten– »Tod allen Gaijin«. Ein Schauer lief Jack über den Rücken.

»Aber lasst euch von Daimyo Kamakuras Verlautbarungen nicht täuschen!« Masamoto schlug mit der Faust auf den Tisch. »Sein Ruf zu den Waffen lässt vermuten, dass es ihm nicht nur um die Vertreibung angeblicher Feinde aus unserem Land geht. Wir dürfen mit gutem Grund annehmen, dass er nur mit ausländerfeindlichen Vorurteilen spielt, um eine Armee auszuheben, und dass er mit dieser Armee nicht nur unsere ausländischen Freunde vertreiben, sondern sich ganz Japan unterwerfen will.«

Die Schüler starrten Masamoto ungläubig an.

Die Lehrer waren offenbar vorab informiert worden, denn sie zeigten keine Überraschung. Mit ausdruckslosen Gesichtern saßen sie rechts und links von Masamoto auf dem Podium und musterten ihre Schüler mit der grimmigen Entschlossenheit kampfbereiter Krieger.

»Wir müssen deshalb im schlimmsten Fall auch mit einem Krieg rechnen. Ich vertraue darauf, dass ich mich dann auf eure treuen Dienste verlassen kann.« Masamoto machte eine Pause und musterte die in Reihen vor ihm knienden angehenden Soldaten eindringlich. »Wir werden abwarten, was Daimyo Takatomi befiehlt, und bis dahin noch härter üben als bisher.«

Er zog sein Langschwert aus der Scheide und hielt die blitzende Klinge hoch. »Lernt heute, auf dass ihr morgen lebt!«

Donnernd antworteten die Schüler: »Masamoto! Masamoto! Masamoto!«

Beim Abendessen ging es lebhaft zu. Viele Schüler unterhielten sich aufgeregt flüsternd über den drohenden Krieg. Andere aßen stumm und ohne Appetit. Sie mussten die Neuigkeit erst verdauen.

Jack saß zwischen Akiko und Yamato, nur drei Tische von der erhöhten Tafel entfernt, an der Masamoto und die Lehrer aßen. In einigen Jahren würden sie zu dem Tisch unmittelbar unterhalb der Lehrer vorrücken. Wenn es die Schule dann noch gab und sie selbst noch lebten.

»Glaubt ihr, wir müssen alle kämpfen?«, flüsterte Yori und biss sich ängstlich auf die Lippe. Er saß Akiko und Kiku gegenüber.

»Wahrscheinlich«, antwortete Yamato. »Dazu sind wir schließlich da.«

»Aber viele sind noch gar nicht volljährig«, gab Kiku zu bedenken.

»Ich glaube nicht, dass die ganz jungen Schüler schon kämpfen müssen«, meinte Akiko. »Aber die am ersten Tisch bestimmt.«

»Und wir?«, fragte Saburo. Er hatte als Einziger den Appetit nicht verloren und sprach dem Reis und dem gekochten Fisch mit Genuss zu.

»Vielleicht dürfen wir wählen«, sagte Yori hoffnungsvoll.

»Man kann den Krieg nicht wählen«, erwiderte Jack und starrte auf ein Reiskorn, das an seinem Essstäbchen klebte. »Der Krieg wählt uns.«

Er zerdrückte das Korn zwischen beiden Stäbchen und dachte über seine Lage nach. Er hatte schon einmal einen Krieg erlebt, ohne ihn zu wollen. Seit er denken konnte, führte Portugal gegen England Krieg, doch der einzige Portugiese, den er je kennengelernt hatte, war Pater Lucius gewesen. Trotzdem war er ein eingeschworener Gegner der Portugiesen.

Und jetzt war er in einen zweiten Machtkampf geraten, den Kampf um die Herrschaft in Japan, in dem Ausländer und Christen wie er als Mittel zum Zweck dienten. Er würde als Schüler Masamotos kämpfen müssen– nicht nur um sein Leben, sondern auch um die Zukunft Japans, die inzwischen selbst ihn etwas anging.

»Du hattest übrigens Recht, Jack«, sagte Kiku. »Als Daimyo Takatomi die Halle des Falken ein Leuchtfeuer in dunklen Zeiten nannte, sprach er vom Krieg. Er muss damals schon von Daimyo Kamakuras Plänen gewusst haben.«

»Wo bleibt eigentlich der Kaiser? Ist er nicht der Herrscher von Japan?«, fragte Jack. Er hatte keinen Hunger und legte seine Stäbchen weg. »Ich dachte, Daimyo Kamakura müsste als Samuraifürst für ihn kämpfen, nicht gegen ihn.«

»Der Kaiser könnte ihm nicht helfen«, erklärte Akiko. »Er ist das symbolische Oberhaupt unseres Landes. Die wirkliche Macht liegt beim Rat der Regenten.«

»Wer sind die Regenten?«

»Die fünf mächtigsten Samuraifürsten Japans. Daimyo Takatomi aus der Provinz Kyoto, Daimyo Yukimura aus der Provinz Osaka, Daimyo Kamakura aus der Provinz Edo…«

»Aber wenn Kamakura schon so viel Macht hat«, fiel Jack ihr ins Wort, »warum will er dann einen Krieg anfangen?«

»Der Rat regiert Japan nur im Namen des angehenden Herrschers Hasegawa Satoshi.«

»Was heißt ›angehend‹?«

»Satoshi ist noch zu jung zum Regieren. Sein Vater stieg nach der Schlacht am Nakasendo zum stärksten Mann Japans auf, starb aber schon im Jahr darauf. Satoshi war damals sechs. Unser Daimyo Takatomi richtete den Rat der Regenten ein, weil er nicht wollte, dass Japan wieder im Bürgerkrieg versank. Die Regenten sollen Japan bis zu Satoshis Volljährigkeit regieren. Nächstes Jahr ist es so weit. Dann löst der Rat sich auf und Satoshi regiert allein.«

»Also deshalb stellt Daimyo Kamakura jetzt eine Armee auf«, sagte Yamato. »Er will Japan unterwerfen, bevor Satoshi an die Macht kommt.«

»Aber wenn Krieg ausbricht«, sagte Jack und senkte mit einem Blick zu Kazukis Tisch die Stimme, »würden alle Schüler dieser Schule auf Daimyo Takatomis Seite für Satoshi kämpfen?«

»Natürlich!«, antwortete Akiko. Sie verstand nicht, wie Jack überhaupt so etwas fragen konnte.

»Auch Kazuki?«

»Ja. Wir sind alle Schüler von Masamoto-sama und haben ihm Treue geschworen.«

»Aber wisst ihr noch, was ich euch von dieser Skorpionbande erzählt habe?«

Akiko seufzte. »Und weißt du noch, wie du Kazuki beim Kreis der Drei Betrug vorgeworfen hast, was aber gar nicht stimmte?«

Jack nickte widerstrebend.

»Kazuki mag dich vielleicht nicht, aber er ist nicht so schlecht, wie du ihn darstellst. Er ist mit Leib und Seele Samurai. Als Schüler der Niten Ichi Ryu muss er Masamoto-sama gehorchen. Dazu verpflichtet ihn seine Ehre. Außerdem hat seine Familie am Nakasendo auf der Seite von Daimyo Takatomi gekämpft.«

Doch Jack blieb skeptisch. Er wechselte einen Blick mit Kazuki am Tisch gegenüber. Nein, er durfte ihm nicht trauen. Auch wenn Akiko ihm versicherte, der Verhaltenskodex des Bushido gelte auch für Kazuki, er selbst hatte an jenem Abend im Butokuden etwas ganz anderes gehört. Kazuki war in die Fußstapfen seines Vaters getreten und hatte geschworen, der Sache Kamakuras zu dienen.

Das Abendessen war vorbei. Die Samuraischüler verließen die Halle der Schmetterlinge und machten sich auf den Weg zu ihren Schlafzimmern in der Halle der Löwen. Der Sommer war zu Ende und der Abend empfindlich kühl. Nur wenige Schüler verweilten noch draußen. Jack bemerkte, wie einige von ihnen in seine Richtung blickten. Sie schienen über ihn zu reden. Ob sie ihm als einzigem Ausländer der Schule die Schuld an den wachsenden Unruhen gaben?

»Jack!«, rief Takuan und kam zu ihm. »Ich finde, wir sollten öfter Reiten üben. Wenn es Krieg gibt, musst du gut reiten können.«

»Danke«, sagte Jack und zwang sich zu einem Lächeln.

Er wusste Takuans Hilfe zu schätzen, freute sich aber nicht auf noch mehr Reitstunden. Sie übten jetzt den leichten Galopp und es fiel Jack sehr schwer, sich im Rhythmus seines Pferdes zu bewegen. Am Ende der Stunde war er so durchgeschüttelt, dass er kaum gehen konnte.

»Hast du übrigens Akiko gesehen?«, fragte Takuan beiläufig.

»Sie ist beim Ninja-Training«, antwortete Jack. Es war als Scherz gemeint, aber nur halb. Takuan fragte ständig nach Akiko und das ärgerte Jack, obwohl er es nicht zeigen wollte.

»Tatsächlich?« Takuan riss erstaunt den Mund auf.

Jack lachte. »Nein. Um diese Zeit besucht sie immer ihren Priester.«

»Also dahin verschwindet sie ständig!« Takuan sah Jack verwirrt an. »Findest du das nicht auch ein wenig merkwürdig? Reichen ihr die normalen Morgengebete nicht?«

Jack zuckte die Schultern. Die späte Stunde kam ihm jetzt, wo er darüber nachdachte, allerdings auch ein wenig seltsam vor.

»Na ja, gut zu wissen, dass sie eine fromme Buddhistin ist«, sagte Takuan munter und wandte sich zum Gehen. »Dann bis morgen um die übliche Zeit.«

Nur noch einige kleine Gruppen von Schülern standen auf dem Hof und Jack wollte aus leidvoller Erfahrung nicht als Letzter übrig bleiben. Er hatte an diesem Tag genug Schlimmes erlebt.

Auf dem Weg zur Halle der Löwen sah er einen Jungen allein auf der Treppe der Buddha-Halle sitzen. Es war Yori.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

Yori nickte, wich seinem Blick aber aus.

»Wirklich?«, hakte Jack nach. »Du warst beim Essen so schweigsam.«

Yori zuckte nur mit den Schultern und konzentrierte sich darauf, mit den Händen ein kleines Blatt Papier zu falten.

»Schönen Leibwächter hast du da«, rief eine Stimme von der anderen Seite des Hofes.

Jack drehte sich um. Kazuki war zusammen mit Nobu und Hiroto zur Halle der Löwen unterwegs.

»Ich habe gehört, dass er sich beim ersten Anzeichen der Gefahr sofort wie eine Maus verkrochen hat!«, spottete Nobu und machte einige aufgeregte Trippelschritte. »Hilfe! Ein böser ashigaru!«

»Wir sollten ihm dankbar sein, dass er den Gaijin sterben lassen wollte«, höhnte Hiroto. »Es wäre ein grauenhafter Tod gewesen!«

»Verschwindet!«, rief Jack, der sah, wie Yori beschämt den Kopf senkte.

»Du solltest besser selbst verschwinden«, erwiderte Kazuki und blieb am Eingang der Halle der Löwen stehen. »Wenn du hierbleibst, stirbst du auf dem Scheiterhaufen.«

»Er wird zusammen mit allen anderen bei lebendigem Leib geröstet«, rief Hiroto schadenfroh. »Wer will gebratenen Gaijin zum Abendessen?«

Die drei verschwanden lachend in der Halle.

»Tut mir leid, Jack«, murmelte Yori so leise, dass Jack sich zu ihm hinunterbeugen musste, um ihn zu verstehen.

»Was tut dir leid?«

»Ich schäme mich, dass ich dich im Stich gelassen habe.«

Jack sah ihn an. Yori hatte Tränen in den Augen und zitterte.

»Du hast mich nicht im Stich gelassen. Du hast Hilfe geholt.«

»Aber ich konnte dich nicht befreien.« Yori schniefte und wischte sich die Nase am Ärmel seines Kimonos ab. »Ich wollte gegen die Männer kämpfen, aber sie haben mich nur ausgelacht. Einer hat meinen Stock zerbrochen und mich ins Gesicht geschlagen. Ich bin wirklich ein jämmerlicher Samurai.«

»Bist du nicht«, beharrte Jack. »Wenn du nicht so schnell überlegt hättest, hätte Sensei Kano mich nicht gefunden.«

»Du kannst sagen, was du willst.« Yori faltete das Papier ein letztes Mal. Auf seiner Hand stand eine kleine Origami-Maus. »Wenn wir in den Krieg ziehen, habe ich keine Chance.«

Er zerdrückte die Maus mit der Faust und warf sie auf den Boden.