41
Mondschau

»Kachi guri?«, fragte Yori. Sein Gesicht strahlte im hellen, weißen Schein des Vollmonds. Er hielt Jack einen kleinen Teller mit braunen Nüssen hin.

Jack lehnte sich gedankenverloren über eine Brücke des Teegartens und betrachtete die friedlich unter ihm schwimmenden goldenen Karpfen.

»Das sind getrocknete Kastanien«, fügte Yori hinzu und steckte sich eine in den Mund. »Kachi bedeutet außerdem Sieg. Deshalb hat Seine Hoheit sie für die Feier heute Abend gestiftet. Wir haben gesiegt, Jack! Wir haben gesiegt, ohne kämpfen zu müssen!«

Jack freute sich mit Yori und musste über dessen Begeisterung und Erleichterung lächeln. Er aß eine Kastanie. Sie schmeckte süß wie der Sieg.

Vor einer Woche waren die Kampfhandlungen eingestellt worden. Daimyo Kamakura hatte die Vergeblichkeit seines Vorhabens eingeräumt, die Burg von Osaka zu erobern, und ein Friedensangebot unterbreitet. Unerwartet reuevoll hatte er zugesichert, die Anhänger Satoshis nicht mehr zu überfallen, die Herrschaft Seiner Hoheit nicht mehr herauszufordern und den Feldzug gegen die »ausländischen Invasoren« einzustellen. Er hatte das Dokument sogar mit einem kappan gesiegelt, einem blutigen Abdruck seines Fingers, der das Abkommen unantastbar und bindend machte.

Die Bewohner der Burg waren über diese Wendung der Dinge erstaunt und verwirrt. Vor allem Masamoto wollte nicht recht daran glauben, dass ihr Gegner so leicht aufgab. Die Feindseligkeiten hatten doch eben erst begonnen. Vorsichtig wie immer bestand er darauf, dass die Schüler ihre Kampfausbildung fortsetzten.

Doch Daimyo Kamakura schien Wort zu halten. Bereits am folgenden Tag brach seine riesige Armee das Lager ab und zog sich in Richtung der Provinz Edo zurück. Satoshis Anhänger begannen zu feiern. Man hatte den Krieg gewonnen, ohne kämpfen zu müssen.

Als Zeichen der Anerkennung für ihre Hilfe ordnete Satoshi an, Reiswein und zusätzliche Essensrationen auszugeben. Für die verbündeten Daimyos und Samuraigeneräle veranstaltete er zur Feier des Sieges eine Mondschau in seinem Teegarten. Die Einladung galt auch den Schülern der Niten Ichi Ryu, mit denen er sich aufgrund seines Alters verbunden fühlte.

Satoshi begrüßte die Daimyos in einem Teehaus mit offenen Wänden auf einer Insel in der Mitte des Gartens. Die Gäste spazierten die gewundenen Wege entlang und über die Brücken, plauderten miteinander und bewunderten den klaren Nachthimmel, an dem die Sterne funkelten wie Diamanten.

Auch Pater Bobadillo war anwesend und nutzte die Gelegenheit, mit den wichtigsten Mitgliedern des Rats der Regenten zu sprechen. Gelegentlich warf er einen misstrauischen Blick in Jacks Richtung. Jack gab sich Mühe, ihn nicht weiter zu beachten, und hielt sich von ihm fern.

Auf der anderen Seite des ovalen Teichs wurde Takuan von einer Gruppe junger Samurai umringt. Akiko und Emi saßen neben ihm und bewunderten das Spiegelbild des Monds auf der glatten Wasseroberfläche. Takuan dichtete, von der Schönheit des Spiegelbilds angeregt, zur allgemeinen Unterhaltung ein Haiku aus dem Stegreif.

»Wusstest du, dass auf dem Mond ein Kaninchen lebt?«, fragte Yori und starrte zum nächtlichen Himmel hinauf. »Wenn du genau hinsiehst, kannst du erkennen, wie es Reisklöße macht.«

Von der anderen Seite des Teichs kam anerkennendes Klatschen. Jack hörte Akiko hell auflachen und betrachtete sie anstelle des Mondes.

»Sieh doch, da ist es!«, rief Yori und zeigte eifrig auf die verschwommenen Umrisse eines Kaninchens.

»Ich dichte jetzt etwas zu Ehren von euch beiden«, verkündete Takuan. Seine Stimme war in der ruhigen Nacht deutlich zu hören. »Ich lasse mich dazu von dir inspirieren, Akiko.«

Wieder ertönte Händeklatschen und Akiko verbeugte sich verlegen vor Takuan.

Yori zog an Jacks Ärmel. »Siehst du es, Jack? Das Kaninchen hat einen hölzernen Hammer.«

»Der Mond verdreht dir den Kopf«, sagte Jack und machte seinen Arm gereizt los. »Das weiß doch jeder, dass das ein Mann im Mond ist und kein Kaninchen!«

Erschrocken über Jacks barsche Reaktion trat Yori einen Schritt zurück und sah Jack gekränkt an. Sofort schämte Jack sich. Er verbeugte sich vor Yori, murmelte eine Entschuldigung und ging zum Brunnenhaus, um allein zu sein.

Er setzte sich auf den Deckel des Brunnens und betrachtete durch die offene Tür niedergeschlagen die Gäste, die sich im Garten vergnügten. Warum hatte er Yori so angefahren? Weil Takuans Nähe zu Akiko ihm zunehmend zu schaffen machte. Je mehr Zeit Akiko mit Takuan verbrachte, desto deutlicher spürte Jack, wie wichtig sie für sein Leben war. Er wollte seine beste Freundin, der er vorbehaltlos vertraute, nicht verlieren.

Auch Pater Bobadillos Anwesenheit drückte auf seine Stimmung. Er fühlte sich von ihm bedroht. Nachdem sich sein Verdacht wegen des Lexikons bestätigt hatte, war er überzeugt, dass der Priester mit Drachenauge unter einer Decke steckte und auch für den Tod seines Vaters verantwortlich war.

Jetzt, wo der Krieg vorbei war, würde Pater Bobadillo darauf bestehen, dass Jack nach England zurückfuhr. Eine Rückkehr sei in Jacks eigenem Interesse, würde er behaupten. Doch Jack konnte diesem Menschen unmöglich vertrauen. Bestimmt spielte der Priester ein doppeltes Spiel. Vielleicht ließ er ihn in ein portugiesisches Gefängnis wegsperren. Oder er brachte ihn auf ein Schiff, dessen Besatzung ihn unterwegs über Bord warf. Vielleicht beauftragte er auch Drachenauge, ihn zu foltern oder zu töten.

So wenig Jack Kazuki mit seinen Vorurteilen und seiner Arroganz mochte, in einem hatte Kazuki Recht gehabt: Es gab korrupte Ausländer, die die Macht über Japan an sich reißen wollten. Jack erlebte es bei Pater Bobadillo, der die Daimyos mit seinem Charme um den Finger wickelte, sich ihnen andiente und sich mit schönen Worten ihr Vertrauen erschlich. Der fanatische Jesuit und verschlagene Diplomat war ein gefährlicher Mensch.

Doch auf die große Politik hatte Jack keinen Einfluss. Er war nur ein kleiner Junge und niemand würde seine Warnungen beachten. Am meisten konnte er dem Pater schaden, indem er den Portolan seines Vaters zurückholte. Selbst wenn er es nur seinem Vater zuliebe tat: Er durfte nicht zulassen, dass ein Schurke wie Pater Bobadillo ein Buch besaß, das ihm so viel Macht verlieh.

Nur wo hatte der Pater den Portolan versteckt? In seinem Zimmer hatte Jack bloß das Lexikon gefunden. Trotzdem war er überzeugt, dass Pater Bobadillo wusste, wo sich das Logbuch befand. Das Misstrauen des Paters war allerdings geweckt und Jack durfte nicht riskieren, sich noch einmal heimlich in sein Zimmer zu schleichen.

Yori steckte den Kopf durch die Tür. »Kann ich reinkommen?«, fragte er schüchtern.

Jack nickte und Yori setzte sich neben ihn. Jack blickte zu Boden und überlegte, wie er sich bei seinem Freund angemessen entschuldigen konnte.

»Dieser Brunnen heißt ›Brunnen des goldenen Wassers‹«, sagte Yori, um das verlegene Schweigen zu brechen. Er blickte in den Brunnenschacht. »Er wird durch einen Tunnel vom inneren Burggraben gespeist. Satoshis Vater hat Goldbarren im Schacht versenkt, um den Geschmack des Wassers zu verbessern.«

Jack blickte ebenfalls in den Brunnen. Einige Mondstrahlen tanzten auf dem Wasser in der Tiefe.

»Das Gold sehe ich nicht«, sagte Jack, erleichtert darüber, dass Yori ein Gespräch angefangen hatte. »Aber dein Kaninchen im Mond habe ich gesehen. Tut mir leid, dass ich vorhin so barsch war.«

»Kein Problem.« Yori lächelte. »Ich wusste, dass der Tiger sprach und nicht du.«

»Der Tiger?« Jack sah ihn fragend an.

»Ich habe deinen Blick gesehen, als Takuan sagte, er wolle sich von Akiko zu einem Gedicht inspirieren lassen.«

»Das hat doch damit nichts zu tun«, murmelte Jack und schaute zu Takuan hinüber, der mit seinen Verehrerinnen durch den Garten spazierte. Neben ihm ging Emi.

Yori lächelte wissend. »Du solltest Akiko dein Haiku wirklich zeigen. Es gefällt ihr bestimmt.«

»Mein Haiku?« Jack runzelte die Stirn. »Das ist im Feuer verbrannt.«

»Nein.« Yori zog ein zerknittertes Blatt Papier aus dem Ärmel seines Kimonos. »Als ich deinen Daruma gerettet habe, habe ich es gesehen und eingesteckt.«

»Wie bitte?« Jack starrte Yori entgeistert an. »Die Schule wird angegriffen, die Halle der Löwen brennt und du rettest mein Gedicht?«

»Weißt du nicht mehr, was Sensei Yamada sagte? Wir müssten dafür sorgen, dass wir einen Frieden haben, für den es sich zu kämpfen lohnt. Damit meinte er genau so etwas wie dein Haiku. Deshalb musst du es Akiko schenken.«

Jack schwieg.

Yori seufzte ungeduldig, sprang von der Brunneneinfassung herunter und zog Jack in den Garten.

»Los«, drängte er. Akiko entfernte sich gerade von der Gruppe um Takuan und ging unter den Kirschbäumen am Rand des Teegartens entlang.

Jack machte stolpernd ein paar Schritte in Akikos Richtung. Wie betäubt ging er mit seinem Haiku in der Hand über eine Brücke und folgte ihr zwischen den Bäumen. Er warf einen Blick über die Schulter und sah Yori lächeln und ermutigend nicken.

Akiko setzte sich auf eine abgelegene Bank im Windschatten der Burgmauer. Sonst war niemand zu sehen. Kein Licht brannte, doch Sterne und Mond leuchteten dafür umso heller. Akiko wandte ihr friedlich entspanntes Gesicht dem Himmel zu. Jack blieb in einiger Entfernung im Schatten der Bäume stehen und versuchte sich ein Herz zu fassen.

»Ich traue Kamakura einfach nicht«, sagte eine Stimme im Dunkeln.

Jack erschrak und schlüpfte hinter einen Baumstamm. Drei Daimyos gingen vorbei. Er erkannte die Stimme von Emis Vater Daimyo Takatomi.

»Er hat uns eine Falle gestellt und wir sind blind hineingegangen.«

»Ganz meine Meinung«, bestätigte eine zweite Stimme ernst. »Meine Kundschafter berichten, dass seine Armee nur einen Tagesmarsch von hier entfernt lagert. Er kommt ganz sicher wieder.«

»Aber Daimyo Kamakura muss sich an das Friedensabkommen halten, das er mit seinem eigenen Blut unterzeichnet hat«, meinte der dritte Daimyo.

»Schon«, erwiderte Daimyo Takatomi, »aber wie Sie selbst wissen, hat er einen Teil seiner Soldaten zurückgelassen. Diese Leute wollten die äußere Mauer der Burg einreißen und den Burggraben auffüllen. Ihr Anführer meinte, aufgrund des Abkommens werde beides nicht mehr gebraucht!«

»Aber man hat sie aufgehalten und ist bereits dabei, die Schäden zu beheben, nicht wahr?«

»Das ist ja der springende Punkt«, sagte Emis Vater mit einem müden Seufzer. »Durch den Befehl, die Mauern wiederaufzubauen, hat Seine Hoheit Daimyo Kamakura in die Hände gespielt…«

Die drei Daimyos bogen um eine Ecke und Jack beugte sich lauschend vor.

»er wird behaupten, wir hätten gegen den Geist eines unverletzbaren Abkommens verstoßen… Er wird uns erneut den Krieg erklären, nur dass die Burg diesmal gefährlich geschwächt ist…«

Jack wollte nicht glauben, was er da hörte. Wenn Emis Vater Recht hatte, dann war dieser falsche Frieden nur die Ruhe vor dem Sturm.

»Du spionierst?«, zischte eine Stimme an seinem Ohr.

Erschrocken ließ Jack sein Haiku fallen und fuhr herum. Vor ihm stand mit lauerndem Gesicht Pater Bobadillo.

»Nein«, stotterte er und wollte gehen.

»Für mich sah es aber so aus«, sagte der Priester und packte ihn am Kragen seines Kimonos. »Hinter den Bäumen herumschleichen und Gespräche belauschen. Steckst du deine Nase gern in Dinge, die dich nichts angehen?«

Der Pater sah ihn wütend an und suchte in seinem Blick nach einem Eingeständnis seiner Schuld. Jack schüttelte den Kopf.

»Du weißt doch, dass Spionage mit dem Tod bestraft wird?« Pater Bobadillo betonte die letzten Worte genüsslich und verzog die Lippen zu einem hämischen Lächeln. »Ich muss den Vorfall leider melden.«

Jack wusste, dass er gegen den Priester keine Chance hatte. Pater Bobadillo würde alles in seiner Macht Stehende tun, ihn in Verruf zu bringen und zu erreichen, dass er als Spion hingerichtet oder zumindest verbannt wurde. Jacks Wort würde gegen das eines Gefolgsmanns des künftigen Herrschers stehen.

»Jack!«, rief da eine muntere Stimme.

Das Lächeln auf Pater Bobadillos Gesicht erlosch. Über die Schulter des Priesters sah Jack Takuan durch die Bäume näher kommen. Er hatte seine Freundinnen auf der Brücke zurückgelassen.

»Da bist du ja!«, rief er. »Wir spielen schon lange nicht mehr kakurenbo. Danke, Pater, dass Sie Jack gefunden haben. Beim Verstecken gewinnt er immer!«

Pater Bobadillo beäugte Takuan misstrauisch und warf Jack einen bösen Blick zu.

»Bitte sehr«, brummte er.

Er ließ Jacks Kimono los und entfernte sich in Richtung Teehaus.

»Danke«, sagte Jack mit einem erleichterten Seufzer.

»Was wollte der von dir? Ich sah, wie er dir folgte, und befürchtete, du seist in Schwierigkeiten.«

»Es ist nichts weiter«, antwortete Jack, der Takuan nicht in seine Probleme hineinziehen wollte. »Wir sind nur verschiedener Ansicht, was unsere Religion betrifft.«

Takuan nickte verständnisvoll. »Dann komm wieder mit uns feiern. Du hast schon so viel verpasst.«

Jack blickte über die Schulter zu der Bank, auf der Akiko immer noch im Dunkeln saß. Er würde ihr das Gedicht ein anderes Mal geben.

»Was ist das?«, fragte Takuan. Er bückte sich und hob ein Blatt Papier auf, das vor Jacks Füßen lag. »Ein Haiku!«

Jack wollte es ihm wegnehmen.

Doch Takuan war schneller. Er rannte schnell ein paar Schritte weg und las das Gedicht laut vor:

»In meinem Garten
wachsen nebeneinander
englische Rose und Kirschblüte.«

»Ist das von dir?«, fragte er.

»Gib es mir wieder«, bat Jack verlegen.

»Aber das ist ein schönes Gedicht! Ich wusste gar nicht, dass du so gut dichten kannst.«

»Kann ich ja auch gar nicht… deine Haikus sind viel besser.«

»Überhaupt nicht. Was hat dich denn dazu…?«

Takuan brach mitten im Satz ab. Er hatte Akiko auf der Bank bemerkt und sah nacheinander Akiko, das Haiku und schließlich Jack an. Auf seinem ebenmäßigen Gesicht erschien ein wissendes Lächeln.

»Rose? Kirsche? Das handelt von dir und Akiko, ja?«

»Nein…«, protestierte Jack schwach. Das Gedicht war ihm auf einmal schrecklich peinlich. Bestimmt verspottete Takuan ihn deshalb und erzählte den anderen davon. Es war noch schlimmer, als von Pater Bobadillo erwischt zu werden.

»Ich muss mich bei dir entschuldigen, Jack«, sagte Takuan und gab ihm das Gedicht mit einer tiefen Verbeugung zurück. »Wie taktlos von mir. Ich hatte keine Ahnung, dass du so viel für Akiko empfindest. Sonst hätte ich mich von ihr ferngehalten. Ich habe mich unehrenhaft verhalten. Bestimmt kannst du mich nicht ausstehen.«

»Nein, überhaupt nicht, es ist ganz anders«, beharrte Jack. Auf einmal wurde ihm klar, dass Takuan ein sehr ehrenwerter Mensch war und darüber hinaus ein Samurai von untadeligem Charakter. »Es ist nicht, wie du denkst. Wir sind nur Freunde.«

»Nur Freunde«, sagte Takuan und zog die Augenbrauen hoch. »Dabei redet sie die ganze Zeit von dir.«

»Wirklich?« Jack spürte gegen seinen Willen, wie sein Herz schneller zu klopfen begann.

»Ich lasse dich jetzt mit ihr allein, damit du ihr dein Haik-k-k…«

Takuan begann zu würgen und brach zusammen. Jack fing ihn auf.

In Takuans Hals steckte ein kleiner Giftpfeil.