11
Haiku
Jack kehrte in sein kleines, von Papierwänden umschlossenes Zimmer in der Halle der Löwen zurück und wechselte von seinem Festtagskimono in seinen Trainingskittel. Er faltete den Kimono ordentlich zusammen und legte ihn auf den mit Strohmatten bedeckten Boden. Dort waren schon seine Schwerter, der bokken und der kleine Inro, in dem er Akikos schwarze Perle aufbewahrte. Das in ein Tuch eingewickelte Messer des Ninjas schob er unter den Kimono. Dort war es besser aufgehoben und außerdem aus den Augen und aus dem Sinn.
Dann kam ihm noch eine Idee und er legte den Daruma auf den Kimono. Das Auge der Puppe, das Jack vor zwei Jahren ausgemalt hatte, starrte ihn gleichgültig an. Das zweite Auge sollte er ausfüllen, wenn das, was er sich beim Ausmalen des ersten Auges gewünscht hatte, in Erfüllung gegangen war. Leider war der Daruma seinem Ruf als Glücksbringer bisher noch nicht gerecht geworden. Also konnte er Jack wenigstens vor dem bösen Geist des Messers von Kunitome beschützen– obwohl Jack kein Wort von dem glaubte, was der Teehauswirt gesagt hatte.
Als er hörte, dass die anderen Schüler ihre Zimmer verließen, stand er auf und goss rasch noch den Bonsai, der auf dem Sims des kleinen Gitterfensters stand. Der kleine Baum sah sehr viel gesünder aus, seit Uekiya ihn wieder ein wenig gepflegt hatte. Dann eilte Jack nach draußen. Seine Freunde warteten bereits auf dem Hof.
Zusammen gingen sie zur Halle des Falken, wo ihre erste Unterrichtsstunde bei Sensei Nakamura stattfinden sollte. Noch wusste niemand, welche Kampfkunst sie unterrichtete. Jack hatte wie viele seiner Mitschüler vorsichtshalber sein Übungsschwert mitgebracht.
Drinnen erwarteten sie fünf ordentliche Reihen kleiner Holztische. Auf jedem Tischchen lagen ein Schreibpinsel aus Bambus, eine Tuschestange und einige Blätter unbeschriebenen Papiers.
»Legt eure Waffen an der Tür ab«, befahl Sensei Nakamura. Sie sprach leise, aber ihre Stimme war in der ganzen Halle zu hören.
Bewegungslos saß sie in ihrem schwarzen Kimono unterhalb des Schreines. Die Haare fielen ihr wie eine Schneewehe über den Rücken.
Die dreißig Schüler taten wie geheißen und Sensei Nakamura wartete geduldig, bis jeder an einem Tischchen saß. Jack fand einen Platz in der dritten Reihe zwischen Yamato und Saburo und setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden. Akiko, Kiku und Yori nahmen in der Reihe davor Platz. In der ersten Reihe sah Jack Emi, Cho und Kai. Sie hatten sich neben den neuen Jungen, Takuan, gesetzt. Kazuki und seine Skorpionbande dagegen besetzten die ganze letzte Reihe.
Immer noch wusste keiner, was gleich passieren würde. Die Spannung war mit Händen greifbar. Jack blickte sich suchend um, sah aber nirgends etwas, was einer Wurflanze ähnelte. Vielleicht übten sie ja ohne Waffen, obwohl sie im waffenlosen Kampf eigentlich schon bei Sensei Kyuzo unterrichtet wurden. Das Papier auf den Tischchen erinnerte ihn an Origami, aber für Zen-Buddhismus, Meditation und die geistigen Künste war Sensei Yamada zuständig. Tusche und Pinsel ließen eine schriftliche Prüfung befürchten. Zwar erteilte Akiko ihm Privatunterricht in den japanischen Schriftzeichen, aber er wusste, dass er es im Schreiben nie weit bringen würde.
Noch bevor Sensei Nakamura etwas sagte, wurde es im Raum wie auf ein stummes Kommando ganz still.
»Ich bin Sensei Nakamura«, begann sie schließlich leise, »und ich unterrichte euch in der Kunst des Haiku.«
Die Reaktion der Schüler darauf war unterschiedlich. Die meisten schienen enttäuscht, einige wenige begeistert.
»Was ist ein Haiku?«, flüsterte Jack. Er sah, dass Yori bereits erwartungsvoll zum Pinsel gegriffen hatte.
»Ein Gedicht«, stöhnte Saburo leise.
Sensei Nakamura blickte streng in Saburos Richtung und er verstummte.
»Für die, die solche Gedichte nicht kennen«, fuhr Sensei Nakamura an alle Schüler gewandt fort, »erkläre ich ihre wichtigsten Regeln: Ein Haiku ist ein kurzes Gedicht, das gewöhnlich aus siebzehn Klangsilben besteht und dessen Bilder zu einer bestimmten Jahreszeit passen. Doch können diese Grundregeln auch missachtet werden, denn es zählt vor allem der Geist des Haiku.«
Sie nahm ein Blatt Papier, das neben ihr lag, und las langsam vor, was darauf stand:
»Kraniche
fliegen
so hoch wie die Wolken–
erster Sonnenaufgang.«[1]
Einige Schüler begannen Beifall zu klatschen, die übrigen fielen ein. Sensei Nakamura dankte ihnen mit einem kurzen Nicken.
»Ein Haiku enthält eine genaue Beobachtung eurer Umgebung«, erklärte sie. »Ein gelungenes Haiku hält einen Moment fest und drückt seine Zeitlosigkeit aus.«
Sie nahm ein zweites Blatt von ihrem Stapel und las mit einer Stimme, die flüsternd in die Ohren der Schüler einzudringen schien:
»Sieh! Ein
Schmetterling
sitzt auf der Schulter
des großen Buddha.«[2]
Diesmal klatschten alle Schüler.
Yori beugte sich aufgeregt zu Kiku hinüber. »Hast du gemerkt, wie Sensei Nakamura die Vergänglichkeit des Schmetterlings mit dem ewigen Buddha vergleicht? Als ob kein Unterschied zwischen einem Lebewesen und einer steinernen Statue bestehe, die das Leben verkörpert.«
Kiku nickte atemlos. »Faszinierend!«
Saburo sah Jack an und verdrehte die Augen. »Yori ist unter die Dichter gegangen«, spottete er gutmütig.
Jack lachte. Yori war der Gelehrte von ihnen und der Einzige, der die Koans Sensei Yamadas lösen konnte. So abstrus die Rätselfragen auch klangen, die der Zen-Meister ihnen jede Woche stellte, Yori fiel irgendwie immer eine Antwort ein.
Sensei Nakamura sorgte mit einem lauten Händeklatschen wieder für Ruhe.
»Wie ich euch gezeigt habe, besteht ein Haiku also aus einer genauen Beobachtung eurer Umgebung und eures Platzes darin. Jetzt sollt ihr alle selbst ein Haiku verfassen. Denkt an einen Augenblick in eurem Leben und haltet ihn in einem Gedicht fest. Wegen der Form macht euch keine Sorgen. Achtet auf den Geist. Schreibt nicht über euch und eure Gedanken und Meinungen, sondern nur über den Moment.«
Alle beugten sich eifrig über ihre Tische und bereiteten die Tusche zum Schreiben vor.
Jack folgte dem Beispiel der anderen, aber er hatte keine Ahnung, worüber er schreiben sollte. Er sah aus dem Fenster. Die Nachmittagsonne schien auf die grünen Dachziegel der Buddha-Halle gegenüber.
Seine Gedanken begannen zu wandern.
Er musste an Kazukis Drohungen vom Vormittag denken. Dass Daimyo Kamakura die Jagd auf Christen belohnte, beunruhigte ihn. Zwar stand er innerhalb der Schule unter Masamotos Schutz und war einigermaßen sicher, doch war zu fürchten, dass ihn draußen alle möglichen Leute überfallen könnten, nicht nur Daimyo Kamakuras Samurai.
Die Lage in Japan schien sich zu verschlimmern, doch konnte er etwas dagegen tun? Unmittelbar nach seinem Ausschluss aus der Schule hatte er überlegt, ob er nach Nagasaki gehen sollte, um dort vielleicht ein Schiff nach England zu finden. Zu bleiben war ihm sinnlos vorgekommen, wenn er nicht die Ausbildung zum Samurai fortsetzen und die Technik der beiden Himmel erlernen konnte. Zugleich wusste er, dass er es auf eigene Faust als halb ausgebildeter Samurai kaum bis nach Nagasaki schaffen würde. Ohne Essen, Geld und Waffen kam er wahrscheinlich nicht weit über Kyoto hinaus. Außerdem hielt ihn jedes Mal, wenn er an Flucht dachte, etwas zurück. Nach zwei Jahren in Japan war ihm vieles an seiner neuen Heimat ans Herz gewachsen. Vor allem aber verdankte er Masamoto sein Leben und fühlte sich ihm gegenüber zum Bleiben verpflichtet.
Jetzt würde ihn sein Vormund auch noch in seine legendäre Technik des Kampfes mit zwei Schwertern einweihen. Wenn er diese Kunst erst beherrschte, so hoffte er, war er wie Masamoto unbesiegbar und musste nicht mehr um sein Leben bangen. Er stellte sich vor, wie er gegen Drachenauge kämpfte und ihn endgültig überwältigte.
Yamato neben ihm starrte ebenfalls ins Leere. Bestimmt beschäftigte ihn der bevorstehende Kampf gegen Kazuki und seine Bande.
Jack hatte den Freund davon abbringen wollen, aber die Anspielung, er sei nicht gut genug für die Technik der beiden Himmel, hatte Yamato zutiefst gekränkt. Dickköpfig weigerte er sich, vom Kampf zurückzutreten. Er schien fest entschlossen, sich entgegen aller Wahrscheinlichkeit zu beweisen.
Jack wusste nicht, wie lange er schon in Gedanken verloren so dasaß. Plötzlich merkte er, dass Sensei Nakamura ihn ansah.
»Brauchst du Hilfe?«, fragte sie.
»Entschuldigung, Sensei«, murmelte Jack, »aber ich weiß nicht, worüber ich schreiben soll.«
Sensei Nakamura nickte nachdenklich.
»Wenn ein Freund dich fragt ›Was ist los?‹ oder auch ›Was hat dich eben zum Lächeln gebracht?‹, dann ist ein Haiku die Antwort auf dieses ›was‹. Du kannst deine Gefühle anderen erst mitteilen, wenn du die Ursache dieser Gefühle zeigst. In einem Haiku bringst du sie auf den Punkt. Versuche es doch einmal.«
Jack nahm seinen Pinsel auf und tat so, als schreibe er. Zwar verstand er das Prinzip des Haiku jetzt ein wenig besser, aber sein Kopf blieb leer.
Die anderen schienen mit ihrer Aufgabe inzwischen gut voranzukommen. Sogar Saburo schrieb eifrig. Doch als Jack einen Blick zu ihm hinüberwarf, sah er, dass Saburo einen Samurai und einen Ninja zeichnete.
»Das ist nur was für Mädchen«, beschwerte Saburo sich leise.
Akiko drehte sich zu ihm um und sah ihn böse an.
»Stimmt überhaupt nicht«, sagte sie empört. »Die meisten berühmten Dichter sind Männer. Obwohl ihre Gedichte überhaupt nicht besser sind als die von Frauen. Sensei Nakamuras Haikus beweisen das.«
»Aber warum sollte ein Samurai lernen, Haikus zu dichten?«, beharrte Saburo. »Wir werden doch zu Kriegern ausgebildet, nicht zu Dichtern. Mit Worten kann man einen Gegner schlecht bekämpfen.«
»Wer am meisten redet, hört am wenigsten«, bemerkte Sensei Nakamura von ihrem Platz am Fuß des Schreins. Wieder sprach sie leise, aber mit einem solchen Nachdruck, als hätte sie die Ruhestörer angeschrien.
»Kommt mir trotzdem sinnlos vor«, murmelte Saburo. Er verbeugte sich und tauchte seinen Pinsel in die Tusche ein.
»Wer nur mit den Händen arbeitet, ist ein Arbeiter«, sagte Sensei Nakamura.
Jack bekam einen fürchterlichen Schreck. Die Lehrerin war lautlos wie ein Gespenst durch die Halle gegangen und stand plötzlich neben ihm.
»Wer mit Händen und Kopf arbeitet, ist ein Handwerker«, fuhr sie fort und betrachtete gelangweilt Saburos Zeichnungen. »Wer aber mit Händen, Kopf und Herz arbeitet, ist ein Künstler.[3] Dasselbe gilt für den Schwertkämpfer. Du hast vielleicht gelernt, deine Hände zu gebrauchen, Saburo-kun, aber du musst erst noch zeigen, dass du auch mit dem Kopf oder dem Herzen arbeiten kannst.«
Saburo schwieg beschämt, beugte sich über sein Blatt und begann zu schreiben.
Jack starrte wieder aus dem Fenster. Er hatte immer noch keine Idee und was ihm einfiel, kam ihm schwach oder dumm vor. Er sah, wie die Sonne langsam über das Dach des Tempels wanderte. Die Zeit zog sich endlos in die Länge.
Schließlich beendete Sensei Nakamura die Übung.
»Lest euer Haiku jetzt bitte eurem Nachbarn vor«, befahl sie. »Vielleicht können sie den Moment nachempfinden, den ihr ausdrücken wolltet.«
Jack sah Saburo an und zeigte auf sein leeres Blatt.
»Macht nichts«, sagte Saburo. »Aber ich glaube, meins wird dir gefallen.«
Er las Jack sein Gedicht leise vor.
Jack musste kichern.
»Was ist so lustig?«, fragte Sensei Nakamura.
»Nichts, Sensei.« Jack versuchte sein Grinsen zu unterdrücken.
»Vielleicht willst du dein Haiku allen vorlesen.«
Jack senkte den Blick verlegen. »Mir ist leider keins eingefallen.«
»Du hast kein einziges Wort zustande gebracht, obwohl du den ganzen Nachmittag Zeit hattest?«, sagte Sensei Nakamura enttäuscht. »Dann soll jetzt dein Freund seines vorlesen.«
Saburo sah sie ganz entsetzt an. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie ihre Haikus der ganzen Klasse vorlesen mussten.
»Muss das sein? Es ist nicht besonders gut.«
»Lass mich das beurteilen«, sagte Sensei Nakamura.
Saburo stand widerwillig auf. Das Blatt in seiner Hand zitterte. Er räusperte sich und begann zu lesen:
»Einen Furz
lassen–
man lacht nicht darüber,
wenn man allein ist.«[4]
Von der letzten Reihe kam lautes Gelächter. Doch die meisten Schüler unterdrückten ihr Grinsen schleunigst, als sie den eisigen Blick sahen, mit dem Sensei Nakamura Saburo musterte.
»Sehr lustig«, bemerkte sie. »So lustig, dass du das Haiku tausendmal abschreiben wirst.«
Saburo bereute seinen Scherz bereits. Verlegen setzte er sich.
»Ich hoffe doch, andere Haikus eignen sich besser zum Vortragen in der Klasse.«
»Sensei?«, meldete sich Emi und hob die Hand, in der sie ein Blatt hielt. »Ich glaube, das hier ist gut.«
Sensei Nakamura nickte. »Dann lass es uns hören.«
Emi gab das Haiku seinem Verfasser zurück.
Takuan nahm es lächelnd entgegen und stand auf. Er verbeugte sich bescheiden und las mit samtiger Stimme:
»Tempelglocke
abends
am Himmel angehalten
von Kirschblüten.«[5]
Auf seine Worte folgte andächtige Stille. Die Schüler nickten anerkennend, dann begannen sie zu klatschen.
»Gut beobachtet«, lobte Sensei Nakamura. »Aber alles andere hätte mich auch sehr enttäuscht.«
Takuan wirkte ein wenig niedergeschlagen über das schwache Lob der Mutter. Er setzte sich mit einer Verbeugung.
»Nächste Woche machen wir weiter. Bis dahin schreibt jeder noch mindestens ein weiteres Haiku.«
Die Schüler verbeugten sich und verließen die Halle. Nur Saburo blieb zurück, um sein Gedicht tausendmal abzuschreiben.
»Er kann von Glück sagen, wenn er vor dem Schlafengehen fertig wird«, sagte Yamato und schlüpfte in seine Sandalen.
»Geschieht ihm nur recht, wenn er so frech ist«, fand Akiko.
»Aber du musst zugeben, es war lustig«, sagte Jack. »Und du kannst nicht bestreiten, dass er einen Augenblick festgehalten hat.«
»Aber keine Jahreszeit!«, entgegnete Akiko.
»Macht es einen Unterschied, zu welcher Jahreszeit man furzt?«, fragte Yori unschuldig.
Jack und Yamato brachen in Lachen aus.
»Entschuldigt uns«, sagte Akiko gekränkt und bedeutete Kiku, mit ihr zu kommen. Takuan war aus der Halle getreten. »Wir wollen Takuan zu seinem schönen Haiku gratulieren.«
Takuan, der bereits von mehreren Bewunderern umringt wurde, verbeugte sich, als die beiden sich ihm näherten. Jack sah, dass Akiko ihren Fächer geöffnet hatte und damit fächelte, während sie mit Takuan sprach.
»Wie kann man durch ein einziges Gedicht so beliebt werden?«, rief er erstaunt.
»Keine Sorge«, tröstete Yamato ihn. »Ich wette, er kämpft mit dem Schwert nicht halb so gut wie du.« Sie machten sich auf den Weg zum Abendessen in der Halle der Schmetterlinge.