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Opfer

»Nicht zurückweichen!«, befahl Sensei Hosokawa. Die Roten Teufel näherten sich im Sturmschritt.

Die Schüler der Niten Ichi Ryu standen am oberen Ende eines Hangs und die Sensei wollten diesen Vorteil nicht durch einen zu frühen Eintritt in den Kampf verlieren. Die Schneise, welche die roten Berserker durch die Reihen der ashigaru schlugen, wurde immer länger.

Jack begann in Panik immer schneller ein- und auszuatmen. Die Atemzüge klangen unter Helm und menpo ohrenbetäubend laut und sein Herz schlug wie verrückt gegen den Brustpanzer. Trotz des vielen Trainings, der vielen gewonnenen Zweikämpfe und bestandenen Herausforderungen hatte er noch nie in seinem Leben eine solche Angst gehabt.

Er wünschte, sein Vater wäre noch am Leben und bei ihm. An Bord der Alexandria hatte seine Gegenwart ihn auch noch im heftigsten Sturm beruhigt. Die innere Kraft und Zuversicht seines Vaters hatte ihm Mut gemacht, wo es keine Hoffnung mehr zu geben schien. Jetzt stand er einer Armee blutrünstiger Krieger gegenüber, im Begriff, sein Leben für einen japanischen Fürsten zu opfern. Was konnte er noch hoffen?

Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung am Himmel war. Ein Pfeil! Wie gelähmt vor Angst konnte er nur zusehen, wie die stählerne Spitze direkt auf seinen Kopf zuflog.

Im letzten Augenblick fing eine Hand den Pfeil in der Luft ab. Sensei Kyuzo sah Jack verächtlich an. »Ich habe dich nicht ausgebildet, damit du noch vor Beginn der Kämpfe stirbst, Gaijin!«, schimpfte er. »Du erbärmliche Missgeburt eines Samurai!«

Jack wurde wütend bei diesen Worten. Er erwachte aus seiner Lähmung und fuhr mit dem Schwert in der Hand zu Sensei Kyuzo herum.

Sensei Kyuzo sah die Empörung in seinen Augen. »Das ist der richtige Kampfgeist«, sagte er barsch.

Plötzlich begriff Jack, dass Sensei Kyuzo ihn absichtlich provoziert hatte, um ihn aus seiner Starre zu wecken.

»Lang lebe die Niten Ichi Ryu!«, schrie Masamoto. Er hob sein Schwert und jagte sein Pferd mitten in das Kampfgetümmel.

Unter lautem Gebrüll stürzten die Schüler und Lehrer hangabwärts den Roten Teufeln entgegen. Mit klirrenden Schwertern und Speeren prallten beide Seiten aufeinander. Schon fand Jack sich von kämpfenden Samurai zu Fuß und zu Pferd umringt. Ein ashigaru fiel ihm vor die Füße. Er spuckte Blut und die scharfen Spitzen eines Dreizacks ragten aus seiner Brust.

Dahinter stand ein Roter Teufel. Er riss seinen Speer aus dem sterbenden ashigaru, griff Jack an und stieß mit dem Dreizack nach seinem Bauch. Jacks Training im waffenlosen Kampf machte sich jetzt bezahlt und er wich dem Dreizack rasch aus. Doch der Rote Teufel zog ihn so schnell zurück, dass Jack ihn nicht packen konnte. Dann stürzte er sich erneut auf Jack. Jack sprang auf die andere Seite und holte mit seinem Schwert aus, um dem Teufel den Kopf abzuschlagen. Der Samurai duckte sich, rammte Jack die Schulter in den Leib und stieß ihn nach hinten. Jack stolperte über den gefallenen ashigaru und stürzte.

Sofort stand der Rote Teufel über ihm. Das Blut seines vorigen Opfers tropfte noch von seiner Rüstung. Sein Helm war mit zwei großen goldenen Hörnern verziert und er trug eine furchterregende Gesichtsmaske mit einem schauerlichen Gebiss spitzer Zähne. Nur seine mordlustig glitzernden Augen waren zu sehen. Er hob den Dreizack, um Jack am Boden festzunageln.

Da kam aus dem Nichts ein hölzerner Stock geflogen und lenkte den Speer ab. Die tödlichen Zacken bohrten sich in die nasse Erde. Yamato sprang über Jack hinweg und versetzte dem Samurai einen Tritt in die Brust. Der Rote Teufel stolperte zurück und ließ den Dreizack los. Er riss sein Schwert aus der Scheide und wollte sich auf Yamato stürzen. Aber ein Pfeil Akikos stoppte ihn. Der Pfeil durchschlug den Brustpanzer des Samurai.

Ein einzelner Pfeil konnte einen Krieger wie ihn jedoch nicht ausschalten. Stöhnend vor Schmerzen brach er ihn ab und griff erneut an. Yamato setzte sich zur Wehr, während Akiko hastig einen neuen Pfeil einlegte. Jack sprang auf und beteiligte sich am Kampf.

Der Rote Teufel war ein erfahrener Krieger und drängte Yamato und ihn zurück. Seine Schwertschläge waren so kräftig, dass jedes Mal ein Ruck durch Jacks Arme lief. Akiko schoss einen zweiten Pfeil ab, doch war der Samurai diesmal darauf gefasst und schnitt ihn in der Luft in zwei Hälften. Anschließend warf er den fassungslosen Yamato mit einem überraschenden Vorwärtstritt zu Boden. Jack schlug mit dem Schwert nach seinem Kopf, doch der Samurai wehrte den Schlag ab und drängte ihn zurück. Dann hob er seinen Dreizack auf und holte damit aus, um Yamato am Boden zu töten.

Plötzlich fuhr aus seiner Brust eine stählern blitzende Schwertklinge. Der Rote Teufel ging taumelnd einen Schritt, spuckte Blut und brach tot zusammen.

»Die mit den goldenen Hörnern solltet ihr meiden«, rief Sensei Hosokawa. »Das sind Elitesoldaten.«

Er wandte sich ab, um wieder neben Masamoto zu kämpfen. Masamoto war abgestiegen und mähte mit seiner Technik der beiden Himmel jeden Roten Teufel um, der in seine Nähe kam. Sensei Yosa saß noch auf ihrem Pferd, ritt durch das Getümmel und streckte die Gegner mit ihren tödlichen Pfeilen nieder. Rechts von Jack kämpfte Sensei Kyuzo gegen zwei Rote Teufel gleichzeitig. In einer eindrucksvollen Demonstration des waffenlosen Kampfes entwaffnete er sie beide und spießte sie anschließend gegenseitig auf ihren Speeren auf. Ein schlohweißer Haarschopf zeigte an, wo Sensei Nakamura kämpfte. Tränen liefen ihr über das Gesicht, während sie an den Gegnern Rache nahm. Ihre Schwertlanze fuhr wie ein stählerner Raubvogel durch die Luft. Unweit von ihr wirbelte der Hüne Sensei Kano seinen bo durch die Luft und seine Gegner fielen wie die Fliegen. Der einzige Ruhepunkt inmitten des Chaos war Sensei Yamada, der in der Mitte eines Kreises von Leichen stand. Vor Jacks Augen griff erneut ein Roter Teufel den Zen-Meister an und ging plötzlich in die Knie. Ein zweiter Kiai Sensei Yamadas erledigte ihn vollends.

Yori spazierte unversehrt und wie betäubt zwischen den Kämpfenden hindurch. Er hatte das Schwert gehoben, aber niemand kämpfte gegen ihn. Weil er so klein war, fühlte sich keiner von ihm bedroht. Ein Roter Teufel stieß mit ihm zusammen, sah ihn an und lachte. Im nächsten Moment war ihm das Lachen vergangen. Sensei Yosa hatte ihm einen Pfeil durch die Kehle geschossen.

Einige Rote Teufel brachen jetzt zu Pferd durch das Gewühl und ritten auf die Schüler der Niten Ichi Ryu zu. Yori, der ihnen im Weg stand, drohte unter die Hufe zu geraten. Jack wollte ihn warnen, doch sein Schrei ging im Kampflärm unter. Er rannte an Yoris Seite und stieß ihn gerade noch rechtzeitig mit der Schulter aus dem Weg.

Anschließend half er ihm wieder auf. »Ich sagte doch, du sollst bei uns bleiben.«

Yori nickte kleinlaut. »Keiner will gegen mich kämpfen.«

»Jetzt beklagst du dich auch noch!«, rief Jack.

Yori lachte nervös. »Nein, natürlich nicht.« Dann riss er erschrocken die Augen auf. »Hinter dir!«

Jack fuhr herum. Ein Roter Teufel griff sie an. Jack hatte sein Langschwert fallen lassen, um Yori zu retten, deshalb zog er jetzt sein Kurzschwert. Doch er wusste, dass es bereits zu spät war. Der Samurai holte aus, um ihn zu köpfen.

»JAH!«

Die Augen des Roten Teufels verschwanden im Kopf. Er brach zusammen und blieb mit dem Gesicht nach unten liegen.

Yori sah Jack grinsend an. Er keuchte noch von der Anstrengung des Schreis.

»Kein Wunder, dass niemand gegen dich kämpfen will, Yori. Du bist zu gefährlich!« Jack hob sein Langschwert auf, bevor der nächste Samurai ihn angreifen konnte.

»Ich glaube, er ist nur bewusstlos.« Yori stieß den Samurai am Boden mit dem Fuß an. Der Rote Teufel stöhnte leise.

»Jack!«, rief Akiko und winkte ihm und Yori in höchster Aufregung.

Die beiden rannten zu ihr und Yamato. Emi lag auf dem Boden. Aus ihrem Schenkel ragte ein Pfeil. Sie war bleich und ihre Gamaschen und ihr hakama waren blutgetränkt.

»Wir müssen Emi unbedingt beschützen«, sagte Akiko und hob ihren Bogen.

Sofort bildeten sie einen Ring um die Tochter des Daimyo und vertrieben die unaufhaltsam vorrückenden Roten Teufel. Doch die Übermacht der Gegner war erdrückend. Daimyo Kamakuras Truppen waren dabei, Satoshis Armee zu zersprengen.

Die Schlacht war zu einem Blutbad geworden.

Von Roten Teufeln umringt schwang Sensei Nakamura voller Ingrimm ihre Schwertlanze. Ihre Haare leuchteten als einziges Weiß inmitten eines Meers von Rot. Plötzlich jedoch verschwand sie. Die gegnerische Armee hatte sie verschluckt.

Ein Bote mit einem goldenen sashimono rannte auf die Schüler zu. »Rückzug in die Burg!«, brüllte er.

Im nächsten Augenblick wurde er von einem Roten Teufel von hinten durchbohrt und sein goldenes Banner färbte sich blutrot.

»Zurückfallen!«, befahl Masamoto und bahnte zusammen mit den Sensei Hosokawa, Yosa und Kyuzo einen Weg durch die gegnerischen Truppen.

»Lasst mich hier liegen«, stöhnte Emi. Sie konnte nicht stehen. »Rettet euch selbst!«

Jack schüttelte den Kopf. »Entweder alle oder keiner.«

Er steckte seine Schwerter ein und half ihr auf. Emi verlor vor Schmerzen fast das Bewusstsein.

»Wir müssen gehen!«, drängte Akiko, die unentwegt Pfeile abschoss.

Unablässig kämpfend zogen sie sich zusammen mit Tausenden von anderen fliehenden Soldaten zur Burg zurück. Sie kamen nur langsam voran, nicht nur wegen der verwundeten Emi, sondern auch wegen des aufgewühlten, morastigen Bodens. Die Roten Teufel drangen von verschiedenen Seiten auf sie ein und drohten ihnen den Fluchtweg zum Haupttor abzuschneiden.

»Wir schaffen es nicht«, sagte Yamato. Ein Trupp berittener Roter Teufel folgte ihnen auf den Fersen. Er nahm Emis anderen Arm und half Jack, sie zu tragen. Vielleicht waren sie so schneller als der Feind.

Taro, der die Brücke bereits erreicht hatte, sah, wie sie sich abmühten, und rannte mit erhobenen Schwertern zu ihnen zurück.

»Geht weiter«, rief er. »Ich halte sie so lange wie möglich auf.«

Grimmig stellte er sich den feindlichen Reitern entgegen. Seine beiden Schwerter sausten durch die Luft und er tötete mit der Technik der beiden Himmel jeden Samurai, der sich in seine Nähe wagte. Doch hinter den Reitern kam Verstärkung, die ihn überwältigen würde, bevor die fünf die Brücke erreichten.

»Taro braucht Hilfe«, sagte Yori und rannte zurück.

»Nein!«, rief Jack, aber es war zu spät.

Yori trat neben Taro. Seine Schreie brachten einen Gegner nach dem anderen zu Fall. Gemeinsam konnten sie die Feinde aufhalten, bis Jack, Emi, Yamato und Akiko die Brücke überquert hatten.

»Yori! Taro! Kommt!«, schrie Jack.

Die beiden drehten sich um und rannten los.

Doch Yori war vom Kämpfen völlig erschöpft und außer Atem und seine kurzen Beine wollten ihn nicht schnell genug tragen.

Die Feinde kamen rasch näher.

Yori rutschte aus und fiel hin.

Taro blieb stehen, drehte sich um und zog seine beiden Schwerter.

»Was fällt ihm ein?«, rief Yamato aufgeregt.

»Er opfert sich für Yori«, sagte Akiko. Über ihre Wange lief eine Träne.

Taro kämpfte seinen letzten Kampf auf einer kleinen Anhöhe.

Er schlug einen Roten Teufel nach dem anderen nieder und brachte die gegnerische Flut für einen Moment ins Stocken. Dann durchbohrte ihn ein Hüne mit krummen goldenen Hörnern mit einem Speer. Taro taumelte, kämpfte aber weiter. Er konnte noch einige Gegner niederhauen, dann schlug der Samurai mit den goldenen Hörnern ihn mit seinem gewaltigen Schwert nieder. Taro ging in die Knie. Erbarmungslos hieb der Samurai ihm den Kopf von den Schultern. Die nachfolgenden Roten Teufel stürmten über ihn hinweg und rückten zur Burg vor.

Entsetzt starrte Jack auf die Stelle, an der Saburos Bruder zu Boden gegangen war.

Yori war freilich noch draußen vor dem Tor und rannte um sein Leben.

»Schneller!«, schrie Jack.

Der Gedanke an den grausamen Tod des treuen und mutigen Freundes drohte ihn zu überwältigen.

Die schweren Flügel des äußeren Tors begannen sich zu schließen.

»Halt!«, flehte Jack die Wachen an. »Yori ist noch draußen.«

»Ich habe Befehl, das Tor zu schließen«, knurrte der Anführer der Torwache.

Yori war völlig erschöpft. Die kiai-Rufe hatten ihn alle Kraft gekostet.

Der Spalt zwischen den Torflügeln wurde immer kleiner.

Jack betete stumm, der Freund möge es schaffen.

Durch den enger werdenden Spalt sah er Yori auf die Brücke stolpern. Dahinter preschte eine Flut roter Samurai heran und drohte ihn zu verschlingen.

Mit einem dumpfen Donnerschlag schlug das Tor zu.

»Nein!«, schrie Jack und hämmerte mit den Fäusten dagegen.