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Das Leben eines Samurai

»Zieh dich hoch, Yamato!«, rief Jack und zerrte in Panik an Akikos Seil.

»Geht nicht«, keuchte Yamato. Der Stock knackte wieder. »Drachenauge klettert mein Bein hinauf!«

»Halte dich fest, ich komme!«, rief Jack. Er wusste, wenn der Ninja auf den Balkon zurückkehrte, waren sie alle tot.

»Nein, rette Akiko!«, beharrte Yamato. Eine behandschuhte Hand klammerte sich an seinem Obi fest.

»Aber dann stirbst du…«

Yamato nickte mit bleichem Gesicht. Sein Entschluss war gefasst. »Ich sterbe einen ehrenhaften Tod.«

Wieder knackte der Stock. Gleich würde er brechen.

»Sage meinem Vater, dass ich weiß, was es bedeutet, ein Masamoto zu sein. Man muss bereit sein, sich zu opfern. Für den Fürsten, die Familie und die Freunde.«

Hinter Yamatos Schulter erschien Drachenauges boshaft funkelndes grünes Auge.

»Du warst ein treuer Freund, Jack. Sayonara, mein Bruder.« Damit ließ Yamato los und nahm Drachenauge mit sich in die Tiefe.

Jack nahm die schluchzende Akiko in die Arme.

Sie hatte alles mit ansehen müssen– wie Drachenauge, einer Spinne, einer Schwarzen Witwe, gleich, an Yamatos Bein hochgeklettert war und wie die beiden in die Nacht hinuntergestürzt waren.

»Yamato ist für uns gestorben«, flüsterte sie heiser. Ihre Haut war dort, wo das Seil eingeschnitten hatte, wund und aufgescheuert.

Stumm hielt Jack sie in seinen Armen. Kummer überwältigte die Freude darüber, dass wenigstens sie überlebt hatte. Er brachte keinen Ton heraus.

Masamoto hatte gesagt, der Weg des Kriegers erfülle sich im Tod. Jack verstand jetzt, was er gemeint hatte. Yamato hatte die Ideale des Bushido gelebt. Seine unerschütterliche Treue hatte ihnen beiden das Leben gerettet. Sein Entschluss loszulassen war sehr mutig gewesen. Und indem er bis zum bitteren Ende gegen den Ninja gekämpft hatte, der seinen Bruder ermordet hatte, war er einen ehrenhaften Tod gestorben. Er hatte das Leben eines wahren Samurai gelebt.

In den Trümmern des Zimmers sah Jack die zerrissene Kapuze Drachenauges liegen. Sie bewegte sich im Wind.

Zu seiner Überraschung empfand er beim Tod des Ninjas gar nichts, weder Freude noch Genugtuung. Nicht einmal Erleichterung. Er spürte nur eine Art Taubheit und schmerzhafte Leere über den Verlust seines Vaters. Auch Drachenauges Tod konnte ihm den Vater nicht zurückbringen. Diese Wunde seines Herzens war nicht geheilt.

Wahrscheinlich würde sie nie heilen.

Akiko wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und blickte zu Jack auf.

Jack wusste, dass sie ebenfalls trauerte, nicht nur um Yamato, sondern auch um ihren Bruder. Mit Drachenauges Tod war jede Hoffnung geschwunden, sein Schicksal aufzuklären.

»Auf ewig miteinander verbunden«, flüsterte sie und nahm Jacks Hand.

Er wollte etwas antworten, da schlug eine weitere Kanonenkugel in den Turm ein. Das Zimmer begann einzustürzen. Trümmerteile fielen auf Jacks Kurzschwert und drohten auch ihn und Akiko unter sich zu begraben.

»Wir müssen gehen«, sagte er. Er half Akiko auf und steckte den Portolan wieder ein.

Er hatte das Logbuch wieder. Dafür hatte er fast alles verloren. Masamotos Schwerter, seinen Freund Yori und einen Bruder, der Samurai war wie er selbst.

Auf keinen Fall durfte er auch noch Akiko verlieren.

Nur noch ein Gedanke beherrschte ihn: wie sie von hier entkommen konnten.