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Shogun

Jack saß unter dem Kirschbaum. Die Sonne ging rot über Toba unter und er betrachtete die unaufhörlich wechselnden Farben des Himmels. Im Hintergrund hörte er das beruhigende Plätschern des kleinen Wasserfalls, der den Bach speiste. Der Bach wand sich durch den Garten und mündete in den Seerosenteich. Um Jack wuchsen die herrlichsten Blumen und Büsche, alle liebevoll gepflegt und perfekt geschnitten. Die Umgebung war so schön und friedlich, als sei Japan das Paradies auf Erden.

Hier fand Jack die Ruhe und Kraft, die er so dringend brauchte. Er musste erst wieder lernen, an das Gute zu glauben und daran, dass für ihn nicht alle Hoffnung verloren war. Oder wie Yori gesagt hätte, an einen Frieden, für den es sich zu kämpfen lohnte.

Im Stamm des Baumes über seinem Kopf steckte der Pfeil, der Drachenauge drei Jahre zuvor verfehlt hatte.

Er soll uns daran erinnern, dass wir nie in unserer Wachsamkeit nachlassen dürfen.

Jack packte den Schaft und zog den Pfeil heraus.

Der Schatten, der ihn gejagt hatte, war verschwunden.

Der Mörder, der Masamoto und seine Familie verfolgt hatte, würde nie mehr zurückkehren.

Jack zerbrach den Pfeil.

In einer Oase der Ruhe wie diesem Garten war kein Platz für eine kriegerische Waffe.

Ein alter Mann mit einem strähnigen grauen Bart kam über die kleine Brücke gehumpelt. Sein Stock klopfte bei jedem Schritt auf die Bretter.

»Wie geht es Akiko?«, fragte Jack.

»Sie erholt sich rasch«, antwortete Sensei Yamada. Sein Blick fiel auf den zerbrochenen Pfeil in Jacks Händen. »Von einem einzigen Pfeil lässt sie sich nicht unterkriegen.«

Sein Zen-Lehrer sah älter und erschöpfter aus als je zuvor. Die Kämpfe hatten ihren Tribut gefordert und jede Falte seines Gesichts schien die in der Schlacht erlebten Gräuel zu bezeugen. Ächzend vor Schmerzen sank er auf die steinerne Bank neben dem Bach.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte Jack.

»Mich kann nur die Zeit umbringen«, antwortete er mit einem traurigen Lächeln und rieb sich mit seiner knochigen Hand die Knie. »Aber die Frage ist: Wie geht es dir?«

»Ich lebe«, sagte Jack ohne Begeisterung. »Ich weiß, dass ich dankbar sein sollte. So viele von uns haben es nicht geschafft. Aber ich spüre in mir nur… Leere. Und ich fühle mich schuldig. Schuldig dafür, dass Yamato und einige Freunde und Lehrer meinetwegen gestorben sind. Und jetzt? Daimyo Kamakura hat gesiegt. Was für eine Hoffnung gibt es noch für einen Gaijin und Samurai in Japan?«

»Wenn es dunkel genug ist, sieht man die Sterne«[12], sagte Sensei Yamada mit einem Blick zum Himmel.

Jack schüttelte verwirrt den Kopf. Er sprach über seine Schuldgefühle und Sorgen und Sensei Yamada betrachtete die Sterne.

»Es gibt immer Hoffnung, auch in den schlimmsten Zeiten«, fügte der Zen-Meister erklärend hinzu. »Es stimmt, wir haben gute Freunde verloren. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass ihr Opfer viele gerettet hat. Sensei Kano konnte mit unseren Schülern aus der Burg entkommen, Sensei Yosa wurde aus Achtung vor Sensei Hosokawa, der sie so tapfer und treu verteidigt hat, verschont. Von Sensei Kyuzo habe ich nichts gehört, aber er ist ein schlauer Fuchs. Es würde mich nicht wundern, wenn er ebenfalls überlebt hätte.«

»Wissen Sie auch, was mit Masamoto-sama geschehen ist?«, fragte Jack und begann entgegen aller Wahrscheinlichkeit zu hoffen.

Sensei Yamada lächelte. »Ich habe eine gute Nachricht.« Er wurde ernst. »Aber auch eine schlechte.«

Jack hielt die Luft an.

»Daimyo Kamakura hat Masamoto-sama nicht getötet. Er erlaubte ihm allerdings auch nicht, seppuku zu begehen und in Ehre zu sterben.«

»Wo ist er?«

»Daimyo Kamakura war sehr stolz auf seinen Sieg über einen so legendären Schwertkämpfer. Er verbannte Masamoto-sama für den Rest seines Lebens in ein buddhistisches Kloster auf dem Gipfel des Iawo.«

»Können wir ihn befreien?«

Sensei Yamada schüttelte den Kopf. »Soweit ich weiß, ist er freiwillig dorthin gegangen. Er sollte eigentlich in Daimyo Kamakuras Dienste treten, weigerte sich aber aus Ehrerbietung vor den Gefallenen. Er wollte keinem Tyrannen dienen.«

Jack war erleichtert und traurig zugleich. Sein Vormund lebte, doch unter für einen so großen, vornehmen Krieger schmählichen Verhältnissen, wie Jack fand.

»Es wird ihm dort gut gehen, Jack-kun«, sagte Sensei Yamada, der Jack die Enttäuschung an den Augen ablas. »Masamoto-sama hat oft gesagt, dass er seine letzten Jahre gern in stiller Einkehr verbringen würde. Er wollte schon immer die Technik der beiden Himmel für künftige Generationen von Schwertkämpfern aufschreiben. Vielleicht hat er jetzt Gelegenheit dazu.«

Jack lachte. Sein Zen-Meister sah hinter jeder Regenwolke die Sonne.

»Wissen Sie auch, was mit Daimyo Takatomi und Emi geschehen ist?«, fragte er.

Sensei Yamada nickte. »Emi-chan geht es gut. Daimyo Takatomi ist ein sehr weiser Mann und Daimyo Kamakura mag skrupellos sein, aber er weiß, dass er für seine Vision eines neuen Japan kluge Fürsten wie Takatomi braucht.«

»Heißt das, Daimyo Takatomi dient ihm jetzt?«, rief Jack. »Dann hat er uns betrogen!«

»Unser Fürst ist kein Betrüger«, erwiderte Sensei Yamada streng. »Wir haben den Krieg verloren und Daimyo Takatomi hat erkannt, dass er Japan im Dienst der neuen Regierung mehr nützen kann als ein verbannter oder toter Fürst.«

»Aber steuert Japan nicht auf einen Abgrund zu? Sollte er nicht einen Aufstand organisieren?«

Sensei Yamada klopfte mit seinem Stock auf den Boden. »Nach dem Regen wird die Erde wieder härter.«

Jack sah den Zen-Meister verständnislos an und wünschte sich, er würde nicht immer in Rätseln sprechen.

»Japan ist heute stärker als vor dem Krieg. Auch wenn viele einen anderen Herrscher bevorzugt hätten: Es fällt Daimyo Kamakura zu, unser Land zu einen. Nobunaga hat den Reis gesammelt und Hasegawa den Teig geknetet, Daimyo Kamakura darf den Kuchen essen!«

Sensei Yamada lachte über das witzige Bild, dann wurde er wieder ernst. »Er hat sich zum Shogun erklärt.«

»Zum Shogun?«

»Zum eigentlichen Herrscher Japans. Er hält jetzt alle Macht in den Händen und beruft sich auf die Abstammung von den Minamoto. Der Kaiser ist nur noch die Galionsfigur unseres Landes, in Wirklichkeit wird Japan vollkommen von Daimyo Kamakura beherrscht. Und damit kommen wir zu dir, Jack-kun. Hast du dir Gedanken über deine Zukunft gemacht?«

Jack nickte zögernd. »Einige ja, aber sie bieten allesamt keinen Anlass zur Hoffnung.«

Der Sensei schnalzte missbilligend mit der Zunge und hob tadelnd den Zeigefinger. »Soviel ich weiß, hast du selbst zu Yori gesagt: ›Wo Freunde sind, da ist auch Hoffnung.‹ Sehr weise Worte.«

Er blickte zum Haus, wo in diesem Augenblick eine Schiebetür aufging.

»Da wir von klugen Worten sprechen, hier kommt eine kleine Quelle der Weisheit.«

Yori eilte über die Brücke. In der Hand hielt er eine Pflanze.

Jack hatte über das Durchhaltevermögen des Freundes gestaunt. Am Tag nach der Flucht von der Tenno-ji-Ebene waren sie Sensei Yamada und Yori begegnet. Es war höchste Zeit gewesen. Akiko verlor immer wieder das Bewusstsein und Jack wusste nicht mehr, was er tun sollte. Sensei Yamada hatte die Pfeilspitze entfernt und die Wunde mit Kräutern behandelt.

Auf dem Weg nach Toba hatte Yori Jack von seiner Flucht erzählt. Kurz bevor die Roten Teufel ihn niedertrampeln konnten, hatte er sich von der Brücke in den Burggraben geworfen. Dort hatte er sich zwischen den blutenden und verstümmelten Leichen gefallener Samurai verstecken müssen, um nicht gefangen genommen zu werden. Nach Einbruch der Dunkelheit hatte er allein die Tenno-ji-Ebene überquert und war zuletzt auf Sensei Yamada gestoßen.

Dass seine Freunde noch lebten, freute Yori über die Maßen und er glaubte darum noch fester an Buddha. Doch Jack wusste, dass Yori seit seiner Flucht unter schrecklichen Albträumen litt. Er hörte ihn jede Nacht angstvoll aufschreien.

Yori trat lächelnd zu Jack und überreichte ihm den Schössling.

»Uekiya meint, wir sollten diesen Kirschbaum zu Yamatos Ehren pflanzen«, sagte er. »Akiko fand, du als sein Bruder solltest die Stelle bestimmen.«

Jack nahm den kleinen Baum aus Yoris Hand. In seinen Augen standen Tränen.

Am Abend pflanzten Sensei Yamada, Yori, Akiko und Jack ihn bei Sonnenuntergang feierlich ein.

Jack füllte das Loch vorsichtig mit Erde und sprach ein Gebet.

»Wir pflanzen diesen Baum nicht nur zur Erinnerung an unseren Freund, sondern auch als Zeichen der Hoffnung für unsere Zukunft.«