38. Kapitel

 

Es gibt keine Vögel. Keine Blumen. Keinen Sonnen untergang. Alles jenseits des leuchtenden Tors ist von einem unheimlichen Grau. Das leere Boot ist immer noch auf dem Fluss, es steckt in einer dünnen Eisschicht fest.

»Wenn du mich willst, hier bin ich«, rufe ich. Das Echo hallt ringsum wider. Bin ich. Bin ich. Bin ich.

»Gemma? Gemma!« Meine Mutter taucht hinter einem Baum auf. Ihre Stimme, sicher und kräftig, zieht mich an wie ein Magnet.

»Mutter?«

Ihre Augen schwimmen in Tränen. »Gemma, ich hatte Angst aber du bist wohlauf.« Sie lächelt und mein ga n zes Inneres drängt zu ihr. Ich bin müde und unsicher, aber nun ist sie da. Sie wird mir helfen, a l les in Ordnung zu bringen.

»Mutter, es tut mir leid. Ich habe etwas Schreckliches angerichtet. Du hast mir gesagt, ich soll die Magie noch nicht nutzen, aber ich hab es trotzdem getan und jetzt ist alles zerstört und Pippa ist …« Mehr bringe ich nicht über die Lippen, kann es nicht einmal denken.

»Schhh, Gemma, keine Zeit für Tränen. Du bist hier, um Pippa zurückzuholen, stimmts?«

Ich nicke.

»Dann ist keine Zeit zu verlieren. Schnell, bevor das Ungeheuer zurückkommt.«

Ich folge ihr durch den silbernen Torbogen bis tief in den Garten, in die Mitte jener hohen Kristalle, die so große Macht besitzen.

»Lege deine Hände an die Stäbe.«

Ich zögere, ich weiß nicht, warum.

»Gemma«, sagt sie und ihre grünen Augen werden schmal. »Du musst mir vertrauen oder deine Freun din ist für immer verloren. Willst du dein Gewissen damit b e lasten?«

Ich denke daran, wie sich Pippa im eisigen Wasser verzweifelt gewehrt hat. Wie ich sie zurückgelassen habe. Meine Hände schweben über den Kristallen.

»Gut so, mein Liebling. Jetzt ist alles vergessen. Bald sind wir wieder zusammen.«

Ich lege meine linke Hand auf einen der Kristalle. Die Schwingung geht durch mich hindurch. Ich bin geschwächt von unseren vorherigen Ausflügen und die Magie beginnt, mich mit Macht in die Tiefe zu ziehen. Es ist zu viel für mich. Mutter streckt mir i h re geöffnete Hand hin. Da ist sie, rosig und lebendig und offen. Ich brauche sie nur zu ergreifen. Mein Arm hebt sich. Meine Finger strecken sich nach den ihren aus, bis meine Haut von ihrer Nähe prickelt. Unsere Finger berühren sich.

»Endlich …«

Im selben Augenblick taucht der dunkle Geist auf, der sich in der Gestalt meiner Mutter verborgen hat, und erhebt sich so hoch wie die Kristalle selbst. Mit einem wilden Schrei packt dieses dunkle Etwas me i nen Arm. Ich fühle seine Kälte durch meinen Arm gleiten, spüre, wie die Kälte in meine Adern, zu me i nem Herzen kriecht. Die Wärme weicht aus mir. Ge gen diese Kreatur bin ich machtlos.

Alles fällt. Wir fallen gemeinsam mit rasender Geschwindigkeit, vorbei an dem Berg und dem br o delnden Himmel, durch den Schleier, der das Mag i sche Reich von der sterblichen Welt trennt. Der dunkle Geist juchzt vor Freude.

»Endlich endlich …«

Diese neue Magie überrascht mich, denn während sie mich durchströmt, vereint sie sich mit meinem Willen. Die rohe Urgewalt dieser Kraft ist überwält i gend. Ich will sie nie wieder hergeben. Ich könnte sie nützen, um zu kontro l lieren, zu verwunden, zu g e winnen.

Der dunkle Geist triumphiert. »Ja es ist berau schend, nicht wahr?«

Ja, o ja. Ist es das, was meine Mutter und Circe fühlten, was sie um keinen Preis verlieren wollten –eine Macht, die sie in ihrer eigenen Welt nicht haben konnten? Zorn. Fre u de. Ekstase. Raserei. Alles ihrs. Alles meins.

»Wir sind fast da«, flüstert der dunkle Geist.

Wie ein kostbarer Fächer breitet sich London unter mir aus, prächtig und elegant. Eine Stadt, die ich se hen wollte, als ich in Indien war. Eine Stadt, die ich immer noch sehen will. Allein.

Der dunkle Geist bemerkt mein Unbehagen. »Du könntest sie beherrschen«, sagt er und leckt dabei fast an me i nem Ohr.

Ja, ja, ja.

Nein. Nicht wirklich. Nicht verbunden mit dieser heuchlerischen Kreatur. Die Macht würde nie mein sein. Der dunkle Geist würde mich kontrollieren. Nein, nein, nein. Lass ihn gewinnen. Schließ dich mit ihm zusammen. Ich habe es satt, Entscheidungen zu treffen. Es macht mich schwer. So schwer, dass ich für immer schlafen möchte. Lass Circe gewinnen. Verlass deine Familie und deine Freunde. Treibe stromabwärts.

Nein.

Mit einem Mal scheint der dunkle Geist schwächer zu werden. Du musst dich selbst kennen, musst wis sen, was du willst. Das hatte Mutter zu mir gesagt. Was ich will … was ich will …

Ich will zurück. Und das Ungeheuer kommt mit. Plötzlich schrumpft London zu einer Nadelspitze, unerreichbar. Ich ziehe das dunkle Etwas mit mir fort, zurück zu dem Berggipfel, zurück zu der Grotte und den Kristallen.

Gekreisch und Geheul, die grässlichen Schreie der Verdammten branden mir entgegen. »Du hast uns betrogen !«

Das dunkle Etwas dehnt sich zu einer grauenhaften, schäumenden Wand, die bis zum Himmel reicht. Nie habe ich etwas Entsetzlicheres gesehen und e i nen Moment lang bin ich vor Furcht wie gelähmt. Die Skeletthände schließen sich fest um meinen Hals, drücken zu. In panischer Angst setze ich mich zur Wehr, versuche mithilfe der Magie, den dunk l en Geist an seiner empfindlichsten Stelle zu treffen. Immer wieder kommt er zurück und mit jedem Mal raubt er mir mehr und mehr von meiner Energie.

Wieder legen sich die Hände um meinen Hals, doch ich habe kaum noch Kraft, um mich zu wehren.

»Es ist so weit. Liefere dich mir aus.«

Ich kann nicht denken. Kann kaum atmen. Der Himmel über uns ballt sich grau und schwarz zusammen. Hier ha ben wir gesessen und Wolken im Blau beobachtet. Blau wie das Seidenkleid meiner Mutter. Blau wie ein Verspr e chen. Eine Hoffnung. Sie ist zurückgekommen, um mich wiederzusehen. Ich kann sie nicht dem hier überlassen.

Die schwarzen, kreisenden Pupillen kommen näher. Der Geruch nach Fäulnis steigt in meine Nase n löcher. Tränen brennen in meinen Augen. Ich habe nichts mehr übrig als diese winzige Hoffnung und ein Flüstern.

»Mutter ich verzeihe dir.«

Der Griff lockert sich. Die Augen des Ungeheuers weiten sich, der grässliche Mund klappt auf. Seine Macht schwindet. »Nein!«

Ich fühle meine Lebenskraft zurückkehren. Meine Stimme festigt sich, die Worte verselbstständigen sich. »Ich verzeihe dir, Mutter. Ich verzeihe dir, Ma ry Dowd.«

Das Ungeheuer windet sich unter Gebrüll. Ich schlüpfe aus seinem Griff. Es verliert den Kampf, beginnt zu schrumpfen. Es heult vor Schmerz, aber ich höre nicht auf. Ich wiederhole es wie ein Mantra, während ich einen Stein packe und die erste Rune zertrümmere. Sie zersplittert in einem Hagelschauer aus Kristallen und ich nehme mir die zweite vor.

»Haiti Was tust du da?«, kreischt es.

Ich zertrümmere die dritte und die vierte Rune. Für einen Augenblick wechselt das Ungeheuer seine Gestalt, wird meine Mutter, die zitternd und schwach auf einem Flecken vertrockneten Grases sitzt.

»Gemma, bitte hör auf. Du tötest mich.«

Ich zögere. Sie wendet mir ihr sanftes, tränenüberströmtes Gesicht zu. »Gemma, ich bin ’s. Deine Mu t ter.«

»Nein. Meine Mutter ist tot.«

Ich zertrümmere die fünfte Rune und falle rückwärts auf die harte Erde. Mit einem wilden Aufschrei entlässt der dunkle Geist die Seele meiner Mutter aus seinem Griff. Er schrumpft in sich zusammen, wird zu einer dünnen Säule, die sich stöhnend windet, bis sie vom Himmel aufgesogen wird und alles still ist.

Ich liege bewegungslos.

»Mutter?«, sage ich. Im Grunde erwarte ich keine Antwort und erhalte auch keine. Jetzt ist sie wirklich fort. Ich bin allein. Und irgendwie ist es gut so.

Die Mutter, an die ich mich erinnere, war gewissermaßen ebenso eine Illusion wie die Blätter, die wir auf uns e rem ersten Ausflug in das Magische Reich in Schmetterli n ge verwandelten. Ich werde mich von ihr lossagen müssen, um die Mutter zu a k zeptieren, die ich gerade erst entdecke. Eine Mutter, die fähig war, einen Mord zu begehen, die aber den dunklen Geist so lange wie möglich bekämpft hat, um zu r ückzukommen und mir zu helfen. Eine verschrec k te, hilflose Frau und ein machtvolles Mitglied eines uralten Geheimbunds. Sogar jetzt will ich das nicht wirklich wah r haben. Es wäre ja so leicht, mich in die Sicherheit jener Illusionen zu flüchten und für immer dort zu verharren. Aber das werde ich nicht. Ich will versuchen, Platz zu schaffen für das, was wirklich ist, für die Dinge, die ich anfassen und ri e chen, schmecken und fühlen kann –Arme um meine Schultern, Tränen und Wut, Enttäuschung und Liebe, das seltsame Gefühl, das mich überkam, als Kartik mich vor seinem Zelt anlächelte und als meine Freundi n nen meine Hände hielten und sagten, wir folgen dir …

Am wirklichsten ist, dass ich Gemma Doyle bin. Ich bin immer noch hier. Und zum ersten Mal nach langer Zeit bin ich sehr dankbar dafür.

 

 

Es gibt eine ganze Menge, worüber ich nachdenken muss, aber jetzt stehe ich am Rand des Flusses. Pi p pas blasses Gesicht stößt von unten gegen das Eis, ihre langen, dun k len Haare breiten sich unter der Oberfläche aus. Ich nehme einen Stein, um das Eis zu durchbrechen. Wasser strömt durch die Sprünge.

Ich muss meine Hand in jenen trüben, verbotenen Fluss stecken. Er ist warm wie ein Bad. Verlockend und sanft. Ich bin versucht, selbst in jenes Wasser einzutauchen, aber jetzt noch nicht. Ich habe Pippas Hand gefasst und ziehe mit aller Kraft, befreie sie mit einem Ruck von dem Ge wicht des Was s ers, bis sie am Ufer ist. Sie hustet und spuckt, erbricht Flusswasser in das Gras.

»Pippa? Pippa!« Sie ist bleich und kalt. Tiefe dunkle Ringe liegen unter ihren Augen. »Pip, ich bin gekommen, um dich zurückzuholen.«

Die veilchenblauen Augen öffnen sich.

»Zurück.« Sie verleiht dem Wort einen weichen Klang, blickt sehnsüchtig nach dem Fluss, dessen Geheimnisse ich kennen und gleichzeitig von mir fernhalten will. »Was wird aus mir werden?«

Ich habe keine Kraft mehr übrig, um zu lügen. »Ich weiß es nicht.«

»Dann also Mrs Bartleby Bumble?«

Ich antworte nicht. Sie streichelt mit ihrer kalten, nassen Hand seitlich über meine Wange und ich weiß schon, was sie denkt, nicht weil ich übersinnliche Kräfte besitze, so n dern weil sie meine Freundin ist und ich sie liebe. »Bitte, Pip«, sage ich und schlucke, weil ich ein bisschen weinen muss. »Du musst z u rückkommen. Du musst einfach.«

»Du musst mein ganzes Leben bestand daraus.«

»Es könnte sich ändern …«

Sie schüttelt den Kopf. »Ich bin keine Kämpferin. Nicht so wie du.« Im dürren Gras findet sie eine Handvoll ver schrumpelter Beeren, nicht größer als Samenkörner. Sie liegen wie Münzen in ihrer Hand.

Meine Kehle zieht sich schmerzhaft zusammen. »Aber wenn du sie isst …«

»Was sagte Miss Moore? Es gibt keine sicheren Entscheidungen . Nur unterschiedliche.« Sie blickt noch einmal auf den Fluss und ihre Hand fliegt zum Mund. Einen Mo ment lang ist es so still, dass ich meinen abgehackten Atem hören kann. Und dann fließt Farbe unter ihrer Haut, das Haar ringelt sich zu Locken, die Wangen röten sich. Sie strahlt. Rings um mich erwacht die Landschaft in einem Geriesel von Blüten und goldenen Blättern zum Leben. Am Hor i zont wird ein neuer, rosafarbener Himmel geboren. Und der Ritter steht wartend, ihren Handschuh in seiner Hand.

Die warme Brise hat das Boot an unser Ufer getragen.

Es gilt, Abschied zu nehmen. Aber ich hatte in der letzten Zeit zu viele Abschiede zu verschmerzen und so sage ich nichts. Sie lächelt. Ich erwidere das Lä cheln. Mehr ist nicht nötig. Sie steigt ins Boot und lässt sich von ihm über den Fluss tragen. Als sie die andere Seite erreicht, hilft ihr der Ritter heraus, in das sanfte grüne Gras. Unter dem si l bernen Torbogen, der Pforte zum Garten, steht Mutter El e nas kle i nes Mädchen, Carolina, und guckt. Aber bald merkt sie, dass es nicht die ist, auf die sie wartet, und entschwi n det mit ihrer Puppe im Arm.

 

 

Bei meiner Rückkehr finde ich Felicity vor Pippas Zimmer sitzend, den Rücken gegen die Wand gepresst. Schluch zend wirft sie ihre Arme um mich. Unten im Flur schnü f felt Brigid , während sie einen Spiegel mit einem Tuch ve r hängt. Ann kommt aus Pippas Zimmer, mit roten Augen und laufender Na se.

»Pippa …« Sie bricht ab. Aber sie muss nicht zu Ende sprechen.

Ich weiß schon, dass Pippa tot ist.

 

 

Am Morgen von Pippas Begräbnis regnet es. Ein kalter Oktoberregen, der den Klumpen Erde in me i ner Hand in Schlamm verwandelt. Als ich am off e nen Grab stehe, rutscht der Matsch durch meine Fi n ger auf Pippas polierten Sarg hinunter, wo er mit e i nem leisen, dumpfen Geräusch auftrifft.

Den ganzen Vormittag war Spence eine gut geölte Maschine von Aktivität. Jeder tat seine kleinen Handgriffe r u hig und effizient. All die kleinen, einfachen, bewussten Handlungen des täglichen Lebens werden unwillkürlich zu einer Abwehr gegen das Sterben und den Tod, der immer an unserer Seite ist.

Die Mädchen der Abschlussklasse durften die dreißig Meilen zum Landsitz der Familie Cross fahren, um am Be gräbnis teilzunehmen. Mrs Cross bestand darauf, dass Pi p pa mit dem Saphirring, ihrem Verlobungsring, beerdigt wird, was Mr Bumble zweifellos sehr schmerzt. Während der ganzen Ze remonie prüft er unentwegt seine Taschenuhr und schneidet Grimassen. Mit tiefer, volltönender Sti m me spricht der Vikar von Pippas Schönheit und ihrer unfehlb a ren Herzensgüte. Dieses flache Abziehbild eines Mädchens kenne ich nicht. Am liebsten würde ich aufstehen und ein vollständiges Por t rät von Pippa liefern –der Pippa, die eitel und egoistisch und verliebt in ihre romantischen Vorstellu n gen war; der Pippa, die auch mutig und entschlossen und großzügig war. Und selbst wenn ich ihnen all das sa g te, würde es ihr nicht völlig gerecht. Man kann einen and e ren Menschen niemals ganz kennen. Deshalb ist es so beängstigend, jemandem zu vertrauen, in der Hoffnung, dass er oder sie dir ebenfalls ve r traut. Es ist eine so wackelige Balance, dass es ein Wunder ist, dass wir es überhaupt tun. Und trotzdem …

Der Vikar spendet seinen letzten Segen. Der Rest bleibt den Totengräbern überlassen. Sie setzen sich die Kappen auf ihre Köpfe und beißen mit ihren Schaufeln in die nasse Erde, um ein Mädchen zu b e graben, das meine Freundin war. Die ganze Zeit sp ü re ich, wie er mich beobachtet. Als ich mich umdrehe, sehe ich hinter einem großen Marmo r grabstein seinen schwarzen Mantel hervorschauen. Sobald Mrs Nightwing sich Trost spendend den Angehörigen widmet, stehle ich mich fort zu Kartiks Versteck.

»Es tut mir leid«, sagt er. Es ist einfach und direkt, ohne den Unsinn über Gott, der einen zu jungen En gel heimruft, und wer wir denn seien, seine geheimnisvollen Wege i n frage zu stellen. Der Regen pra s selt in stetem Rhythmus auf meinen Schirm.

»Ich habe es zugelassen«, sage ich stockend, froh, endlich eine Art Beichte abzulegen. »Wahrscheinlich hätte ich mich mehr bemühen können, sie davon a b zuhalten. Aber das habe ich nicht getan.« Kartik lässt mich ausreden.

Wird er den Rakschana sagen, was ich getan habe? Nicht dass es von Bedeutung wäre. Ich habe meine Entscheidung getroffen. Ich trage jetzt die Verantwortung für das Mag i sche Reich. Irgendwo dort draußen wartet Circe und ich habe die Aufgabe, einen zersprengten Orden wieder z u sammenzuführen, Fehler wiedergutzumachen, vi e le Dinge allmählich in den Griff zu bekommen.

Kartik schweigt. Nichts außer dem unablässig strömenden Regen antwortet mir. Nach unendlichen Minuten sagt er: »Ihr Gesicht ist schmutzig.«

Ich wische mit dem Handrücken ziellos über meine Wangen. Er schüttelt den Kopf, um mir zu verst e hen zu geben, dass ich den Schmutz nicht entfernt habe. »Wo?«, frage ich.

»Hier.« Nur sein Daumen streicht behutsam über meine Unterlippe, aber mir ist, als stehe die Zeit still und diese Berührung dauere ewig. Es ist kein Zauber, den ich kenne, aber seine Magie ist so stark, dass ich kaum atmen kann. Schnell zieht er seine Hand weg, da er merkt, was er ang e richtet hat. Aber die Wärme seines Daumens bleibt.

»Mein Beileid«, murmelt er und wendet sich rasch zum Gehen.

»Kartik?« Er hält inne. Er ist bis auf die Haut durchnässt, schwarze Locken kleben wirr an seinem Kopf. »Es gibt keinen Weg zurück.«

Er legt seinen Kopf schief und mir wird klar, er ist sich nicht sicher, was ich meine –dass ich mich von meinen magischen Kräften nicht mehr lossagen kann oder von se i ner Berührung. Ich setze zu einer Kla r stellung an, merke aber, dass ich mir selbst nicht sicher bin. Und wie auch immer, er ist fort, unterwegs in die Sicherheit des Planw a gens, den ich auf der Straße unten sehen kann.

Als ich zu den anderen zurückkomme, starrt Felicity auf das frische Grab, tränenüberströmt im str ö menden Regen. »Sie ist wirklich tot, nicht wahr?«

»Ja«, sage ich und bin selbst überrascht, wie überzeugt es klingt.

»Was ist mit mir dort auf der anderen Seite geschehen, mit diesem Monster?«

»Ich weiß es nicht.«

Wir schauen hinunter auf die Trauernden, schwarze Kleckse in einem grauen Regenmeer. Felicity bringt es nicht über sich, mich anzusehen. »Manc h mal bilde ich mir Dinge ein, glaube ich. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie man sich über mich lustig macht, und dann ist es vorbei. Und diese Träume. Solche schrecklichen Träume. Was, wenn mir i r gendetwas Schlimmes passiert, Gemma? Was, wenn ich beschädigt werde?«

Ich schiebe meinen Arm unter ihren. »Wir alle sind irgendwie beschädigt.«