6. April 1871

Was wir getan haben, kann nicht ungesc h e h en gemac h t werden. Heute Nac h t bin ic h mit Sara h in den Wald gega n gen, der Mond stand dick und rund am Hi m mel. Es dauerte nic h t lange und Mutter Elenas kleine Toc h ter Carolina tri p pelte uns entgegen. Wir h atten ihr eine Puppe verspr o c h en.

»Habt ihr mir mein Püppch en zurückgebrac h t?«

»Ja«, erklärte ihr Sarak. »Es ist sauber und neu und wartet gleic h h inter diesen Bäumen auf dic h . Komm, Car o lina, wir bringen dic h h in.«

Es war eine schamlose Lüge, h inter der wir unsere en t setzlic h e Absic h t versteckten.

Aber das Kind glaubte uns. Die Kleine nahm uns e re Hände und h üp f te vergnügt zwisc h en uns h er, die Melodie eines alten Volkslieds trällernd.

Als wir die Schule erreichten, fragte sie: »Wo ist mein Püppchen?«

»Dort drinnen«, sagte ich und mein Herz wurde zu Stein.

Aber das Kind fürchtete sich und weigerte sich hineinzugehen.

»Dein niedliches Püppchen vermisst dich. Und außerdem haben wir herrliche Sahnebonbons«, sagte Sarah.

»Und du darfst meine schöne weiße Schürze tragen«, sagte ich, streifte ihr die Schürze über und schloss die Bänder im Rücken. »Sieh nur, wie hübsch du bist.« Das heiterte sie beträchtlich auf und sie folgte uns in das Tur m geschoss des Ostflügels, wo wir unsere Kerzen anzündeten.

 

Miss Moore macht eine Pause. Es ist totenstill im Raum. Das wars wohl. Jetzt fehlt nur noch, dass sie das Buch z u klappt und es ins Feuer wirft. Aber sie hat nur aufgehört, um sich zu räuspern, und nach wenigen Sekunden fährt sie fort.

 

»Wo ist mein Püppchen?«, quengelte die Kleine und Sarah warf ihr die alte Lumpenpuppe zu. Damit hatte sie nicht gerechnet und sie begann zu weinen.

»Schhh, Schhh«, machte ich und versuchte sie zu beruhigen.

»Lass sie«, zischte Sarah. »Kommen wir zur Sache, Mary.«

Es gibt in jedem Leben einen Zeitpunkt, an dem die Weichen g estellt und folgenschwere Entsche i dungen getroffen werden. Ich h ätte einen anderen Weg wählen können. Aber das tat ich nicht.

Während ich das Kind festhielt und dabei meine Hand auf seinen Mund drückte, um dieses Geschrei zu ersticken, rief Sarah den dunklen Geist aus seinem Versteck im He r zen der Winterwelt. »Komm zu uns«, rief sie mit hoch e r hobenem Arm. »Komm und ve r leihe mir die Macht, die mir gebührt.«

Und dann, welch ein Graus. Wir wurden in eine Vision hineingezogen, in jene Welt des Zwielichts. Ein riesiges schwarzes, leeres Nichts näherte sich und nahm die Form eines gesichtslosen Ungeheuers an. Oh, ich wäre am lieb s ten weggerannt, wenn ich nur Beine gehabt hätte, um es zu tun. Die Schreie der Verdammten ließen mein Herz bein a he stillstehen. Doch Sarah lächelte, außerstande, sich dem Sog zu entziehen. Die Kleine schlug in panischer Angst wild um sich und ich presste meine Hand noch fester auf ihren Mund, um sie und meine eigenen Furcht zum Schweigen zu bringen. Dann schob ich langsam me i ne Hand nach oben und legte sie auch auf ihre kleine Nase. Sie wusste, was ich vorhatte, und wehrte sich aus Leibe s kräften. Aber ihr Leben stand gegen das unsere oder jede n falls sah ich es so. Ich drückte zu, bis sie sich nicht mehr wehrte und sie still auf dem Fußboden des Ostflügels lag, mit weit offenen Augen, tot. Voll Entsetzen erkannte ich, was ich getan hatte.

Der dunkle Geist kreischte vor Zorn. »Ich brauchte sie lebend! Euer Opfer ist jetzt wertlos für mich.«

»Aber du hast versprochen …«, flüsterte ich.

Sarahs Augen loderten. »Mary, du hast alles kaputtgemacht ! Du wolltest gar nicht, dass ich die Macht erlange, wolltest nie meine Schwester sein! Ich hätte es wissen mü s sen.«

»Ich will Ersatz!«, rief der dunkle Geist und packte Sarahs Arm. Sie schrie und dann fand ic h meine Beine wi e der, o Tagebuch, ich fand sie und rannte wie der Wind zu Eugenia, sagte ihr alles und sie nahm ihr Umhängetuch und die Kerze. Als wir a n kamen, lag das Kind da, meine Schuld bezeugend, aber Sarah war fort.

Eugenias Mund nahm einen entschlossenen Zug an. »Wir müssen in die Winterwelt eilen.«

Und schon befanden wir uns in jener Welt aus Eis und Feuer, mit feindlichen, kahlen Bäumen und ewig währen der Nacht. Der dunkle Geist hatte sein Werk begonnen. Sarahs Augen wurden schwarz und leblos wie Steine. Eu genia richtete sich hoch auf.

»Sarah Rees-Toome, du wirst nicht an die Winterwelt verloren sein. Komm zurück mit mir. Komm zu rück.«

Das Ungeheuer fuhr zu ihr herum. »Sie hat mich gerufen. Sie muss bezahlen oder das Gleichgewicht des Mag i schen Reichs geht verloren.«

»Ich werde statt ihrer gehen«, sagte Eugenia bestimmt.

»Nein!«, rief ich, während sich der Mund des Ungeheuers nach einem Augenblick der Überraschung zu einem grässlichen Grinsen verzog.

»So sei es. Wir können jemanden, der so mächtig ist, gut gebrauchen. Wir könnten endlich eine Bresche in die and e re Welt schlagen.«

In dem Moment begann Sarah zu stöhnen. Eugenia warf mir ihr Amulett des Mondauges zu. »Mary, lauf! Nimm Sa rah mit durch das Tor und dann musst du das Magische Reich verschließen!«

Das Ungeheuer heulte vor Wut. »Niemals!«

Ich konnte mich nicht bewegen, keinen Gedanken fassen. »Nein! Das darfst du nicht!«, rief ich. »Wir dürfen das Magische Reich nicht verlieren!«

Das Ungeheuer fügte Eugenia Schmerz zu, sodass sie gequält aufschrie. Ihre Augen flehten so verzwei felt, dass es mir den Atem nahm, denn ich begriff, dass es ums Ganze ging. »Das Magische Reich wird so lange verschlossen bleiben, bis jemand den Weg dorthin wiederfindet. Jetzt –lauft!«, rief sie. Und, o mein Tagebuch, ich tat es und riss Sarah mit. Eugenia ließ für uns das Tor erscheinen und wir sprangen hindurch in Sicherheit. Wir sahen noch, wie Eu genia von der Dunkelheit verschluckt wurde. Dann hielt ich das Amulett gegen das Mondauge auf der Oberfläche des Tors und versperrte es fest.

»Schließ das Tor wieder auf, Mary.« Sarah pflanzte sich drohend vor mir auf. Das Ungeheuer war in sie geschlüpft, die beiden waren miteinander ve r bunden.

»Nein, Sarah. Die magische Kraft ist nun erschöpft. Wir haben sie aufgebrauc ht. Sc h au.« Das Tor aus Licht b e gann vor unseren Augen zu ve r schwinden.

Sie stürzte sich auf mich, dabei warf sie die Kerze um. Innerhalb weniger Sekunden ging der Raum in Flammen auf. Ich kann nicht sagen, was danach g e schah, denn ich rannte aus dem Haus, rannte so schnell ich konnte in den Wald und beobachtete, wie ein seltsamer Lichtschein den Himmel über dem Os t flügel erhellte, beobachtete, wie das Feuer diesen verzehrte und mit ihm meine liebste Freu n din. Die Magie des Magischen Reichs ist also verloren g e gangen. Ich fühle, wie ihre Spuren b eim ersten Licht des Morgens von der Erde verschwinden. –Gena u so wie Mary Dowd. Sie existiert ni c ht mehr.

Heute Nacht ist sie in den dunklen Wald gegangen und ich fürchte, sie wird bis ans Ende meiner Tage im dunklen Wald meiner Seele leben.

 

Miss Moore schlägt das Buch zu. Wir sind sprachlos.

»Bitte, lesen Sie weiter«, sagt Pippa fast im Flüsterton.

Miss Moore blättert in den Seiten. »Ich kann nicht. Das wars. Hier endet die Geschichte, in einem dun k len Wald, wie es scheint.« Sie steht auf und streicht ihren Rock glatt. »Danke, dass Sie mich daran tei l haben ließen. Es war sehr interessant.«

»Ich kann nicht glauben, dass Mary das kleine Mädchen umgebracht hat«, sagt Ann, als wir wieder allein sind.

»Ja«, sagt Felicity. »Wer würde so etwas tun?«

»Ein Monster«, sage ich. Sie existiert nicht mehr. Das waren die Worte meiner Mutter. Irgendwie h a ben sie sich in mir eingenistet und wollen das Nest nicht mehr verla s sen. Ich weiß nicht, warum.

 

 

Ich kann nicht schlafen, in meinen Adern fließt immer noch zu viel Magie. Die Geschichte von Mary und Sarah bereitet mir ein solches Unbehagen, als müsste ich den Beweis erbringen, dass das, was wir tun, etwas anderes ist. Nun denn, sei ’s drum. Ich ziehe mich rasch an und durc h streife den Wald, bis ich auf Kartiks Zelt stoße. Er sitzt d a vor und liest.

Ich trete hinter einem Baum hervor und er blickt überrascht hoch. »Was wollen Sie hier?«, fragt er.

»Ich konnte nicht schlafen.«

Er wendet sich wieder seinem Buch zu. Er soll wissen, dass ich gut bin, anders als Mary und Sarah. Niemals wür de ich die schrecklichen Dinge tun, die sie getan haben. Aus i r gendeinem Grund wünsche ich mir verzweifelt, dass er mich gern hat, dass er von mir träumt und schweißgeb a det, doch klaren Sinnes aufwacht. »Kartik, was wäre, wenn ich Ihnen beweisen könnte, dass die Rakschana sich irren? Was, wenn ich Ihnen zeige, dass die Magie Wunder wirken kann?«

Er sieht mich mit großen Augen an. »Sagen Sie mir, dass Sie nicht getan haben, was ich denke.«

Ich trete näher. Ich erkenne meine Stimme nicht, so verzweifelt und den Tränen nahe. »Es ist nichts falsch daran. Es ist gut … Ich bin …«Ich möchte s a gen »gut«, aber ich schaffe es nicht, weil ich gleich zu weinen anfange.

Er schüttelt den Kopf, weicht zurück. Ich verliere ihn. Ich sollte es gut sein lassen. Verschwinden. Aber ich kann nicht.

»Geben Sie mir die Chance, es Ihnen zu beweisen. Kommen Sie mit mir. Lassen Sie uns gemeinsam nach Ih rem Bruder suchen!«

Ich fasse nach seiner Hand, aber er entzieht sich und flüchtet hinter das Zelt. »Nein. Ich will nichts sehen. Ich will nichts wissen.«

»Nehmen Sie einfach nur meine Hand. Bitte!«

»Nein!«

Warum habe ich geglaubt, ich könnte ihn überreden? Warum habe ich gedacht, ich könnte ihn dazu bringen, mich zu mögen?

Ich drehe mich um, nehme die Beine in die Hand und renne. Er folgt mir nicht.

 

 

Niedergeschlagen schleppe ich mich die endlose Treppe zu meinem Zimmer hinauf, als mich Brigid überrascht, Kerze in der Hand, Nachtkappe auf dem Kopf. »Wer ist da?«

»Ich bins nur, Brigid«, sage ich, in der Hoffnung, dass sie nicht näher kommt und merkt, dass ich komplett ang e zogen bin.

»Was haben Sie mitten in der stockfinstern Nacht draußen zu suchen?«

»Bitte sagen Sies Mrs Nightwing nicht. Ich konn te nur nicht schlafen.«

»Haben wohl an Ihre Mum gedacht, ja?«

Ich nicke und die feige Lüge bleibt mir im Hals stecken.

»Also gut. Von mir erfährt niemand was. Aber jetzt schaun Sie, dass Sie ins Bett kommen.«

Brigids plötzliche Freundlichkeit gibt mir einen Stich ins Herz. Ich fühle, wie alles in mir aus den Fugen gerät. »Gu te Nacht«, flüstere ich, während ich mich an ihr vorbeidr ü cke.

»Ach, übrigens, ich hab über diesen Fantasienamen nachgedacht, den sich Sarah selbst geg e ben hat. Stand plötzlich so klar wie der Tag vor mir, mitten beim A b wasch heute Abend. Da erinnerte ich mich, was Mrs Spe n ce einmal zu mir gesagt hat: ›Unsere Sarah denkt, sie ist eine alte griechische Göttin.

Das fiel mir ein, als ich die Porzellantassen mit dem griechischen Mäandermuster spülte.«

»Ja?«, frage ich. Plötzlich bin ich todmüde und nicht in der Stimmung, mir eine von Brigids langen, umständlichen Geschichten anzuhören.

»Circe«, sagt sie, schon auf dem Weg nach unten. »So nannte sie sich selbst Circe.«

 

 

Circe ist niemand anderes als Sarah Rees-Toome.

Sarah Rees-Toome, die nicht vor fast fünfundzwanzig Jahren bei einem Brand gestorben, sondern lebendig und gesund ist –und auf mich wartet. Sie ist nicht länger ein feindlicher Schatten, sondern aus Fleisch und Blut. Eine lebendige Person, die ich finden muss, bevor sie mich fi n det. Wenn ich nur den Schimmer einer Idee hätte, wo sie sich aufhalten könnte oder wie sie aussieht.

Aber ich habe keine Ahnung. Ich bin ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Oder vielleicht doch nicht?

Circe, Sarah Rees-Toome, war eine Schülerin in Spence, aus dem Jahrgang 1871. Ein Mädchen auf einer Fotografie, die entfernt wurde, aber sicherlich noch irgendwo existiert. Dieses Foto zu finden ist kein Spiel mehr, um meine Ne u gier zu befriedigen. Es ist eine Notwendigkeit, mein einz i ges Mittel, um Sarah zu finden, bevor sie mich findet.