6. Kapitel

 

Ich werde beobachtet. Das Gefühl verlässt mich wäh rend des ganzen langweiligen Abendessens aus Lammfleisch und Kartoffeln, gefolgt von Pudding, nicht. Wer sollte mich beobachten und warum? Das heißt, wer außer den Mädchen von Spence, die mich anstarren und miteinander flüstern und erst aufhören, als Mrs Nightwing eine von i h nen daran erinnert, dass sie ihre Gabel niedergelegt hat.

Nach dem Abendessen haben wir Zeit zur freien Verfügung, die wir im sogenannten Marmorsaal verbringen. Während dieser Zeit können wir uns nach Lust und Laune entspannen –lesen, lachen, uns unterhalten oder einfach nur herumsitzen. Eine Seite des riesigen Raumes wird von einem mächtigen o f fenen Kamin beherrscht, der die Mitte der Wand einnimmt. Der Marmorsaal verdankt seinen Na men sechs reich verzierten Marmorsäulen, die einen Kreis in der Mitte des Saals bilden. Das seltsame Dekor stellt mythologische Geschöpfe dar –geflügelte El fen, Nymphen und Satyrn.

Am einen Ende des Raumes sitzen die jüngeren Mädchen und spielen mit Puppen. Einige haben sich zum Lesen zusammengesetzt, andere zum Sticken und wieder andere zum Tratschen. In einer Ecke ha l ten Pippa und Felicity mit einigen weiteren Mädchen Hof. Felicity hat eine Schnur um eine Sitzgruppe g e spannt und diesen Bereich zu ihrem persönlichen Hoheitsgebiet erklärt, drapiert mit exotischen Schals, ähnlich dem Zelt eines Scheichs. Sie erzählt i r gendetwas und die and e ren hängen an ihren Lippen. Ich habe keine Ahnung, um was für aufregende Dinge es sich handelt, denn ich bin ja nicht eingeladen. Nicht, dass ich eingeladen sein möchte. Nicht sehr, jede n falls.

Ann ist nirgends zu sehen. Ich kann nicht wie eine Schwachsinnige mitten im Raum stehen bleiben, also suche ich mir einen ruhigen Platz in der Nähe des prasselnden Feuers und schlage das Tagebuch meiner Mutter auf. Heute Abend bin ich in der Stimmung, mich zu quälen. Im Schein des Feuers tanzt Mutters elegante Handschrift auf den Se i ten. Es ist überraschend, wie mir der bloße Anblick der Worte auf Pa pier die Tränen in die Augen treibt. So vieles von ihr hat bereits angefangen zu verblassen. Ich möchte es festhalten. Also lese ich, überfliege Seite um Seite Berichte über Teegesellschaften, Tempelbesuche und Haushaltsli s ten, bis ich zu ihrem allerletzten Eintrag komme.

 

2. Juni Gemma ist schon wieder böse auf mich. Sie will unbedingt nach London. Dieser eiserne Wille ist furchte r regend und ich bin von unseren Streitereien ziemlich e r schöpft. Was wird ihr Geburtstag bri n gen? Das Warten ist zermürbend und es schmerzt mich zutiefst, dass sie mich so verabscheut.

Die Sätze fließen im Strom meiner Tränen zusammen. Ich wünschte, ich könnte zurückfahren und alles ungesche hen machen.

»Was tust du?«, fragt Ann, während sie sich über mich beugt.

Ich wische mir mit dem Handrücken über meine nassen Wangen, halte den Kopf gesenkt. »Nichts.«

Ann setzt sich und zieht eine Strickarbeit aus ihrem Korb. »Ich lese auch gern. Hast du je Lucys do r niger Weg. Die wahre Geschichte eines Mädchens gelesen?«

Nein. Sicher nicht. Ich kenne die Art von Büchern, die sie meint billiger, sentimentaler Kitsch über arme verst o ßene Mädchen, die über alle Schicksalsschläge triumphi e ren, ohne je ihre allseits so hoch geschätzte, reizende, güt i ge weibliche Sanftheit einzubüßen. Alles in allem das g e naue Gegenteil von mir. Ich kann meinen Groll nicht lä n ger zurückha l ten.

»Ah ja, warte«, antworte ich. »Ist es nicht das, wo die Heldin ein armes, ängstliches Mädchen ist, das von allen tyrannisiert wird, weil sie so eine trübe Tasse ist? Sie liest den Blinden vor oder zieht einen lahmen Bruder auf oder einen blinden und lahmen Bruder. Und am Ende stellt sich heraus, dass sie in Wirklichkeit eine Herzogin ist oder sich so gema u sert hat, dass ein Prinz um ihre Hand anhält. Und das alles, weil sie ihr Los lächelnd und im Geiste christl i cher Nächstenliebe ertragen hat. Was für ein Quatsch!«

Die Stick-und-Tratsch-Gruppe hat alles mit angehört und kichert vor wonniger Entrüstung über mein schlechtes Be nehmen.

»Es könnte geschehen«, sagt Ann sanft.

»Ehrlich«, sage ich mit einem brüchigen Lachen, als wollte ich mich für die Grobheit meiner Worte entschuld i gen. »Kennst du irgendwelche Waisenmädchen, die aus i h rem tristen Dasein erlöst und zu Herzoginnen gemacht wu r den?« Nimm dich zusammen, Gemma. Du darfst nicht we i nen.

Anns Stimme gewinnt an Entschiedenheit. »Aber es könnte doch möglich sein. Oder nicht? Eine Wai se, von der niemand viel erwartet, die in eine Schule gesteckt wird, weil ihre Angehörigen sie als eine Last empfinden, ein Mädchen, das von den anderen Mädchen wegen seines Mangels an Grazie, Charme und Schönheit ausgelacht wird … dieses Mädchen könnte es ihnen allen einmal zeigen.«

Sie starrt ins Feuer und strickt wie wild drauflos, die Nadeln schlagen klappernd aneinander, zwei spitze Zähne in der Wolle. Zu spät wird mir klar, was ich getan habe. Ich habe mitten ins Herz von Anns Hoffnung getroffen, der Hoffnung, sie könnte ein anderer Mensch werden, jemand, der nicht den Rest seiner Tage damit wird verbringen mü s sen, als Gouvernante die Kinder irgendeines reichen Ma n nes zu erziehen, sie auf ein wundervolles Leben und auf Chancen vorzubereiten, die sie selbst nie haben wird.

»Ja«, sage ich mit heiserer Stimme. »Ja. Ich glaube schon, dass es möglich ist.«

»Diese Mädchen, die sie die Lucy so falsch einge schätzt haben. Eines Tages könnte es ihnen allen sehr lei d tun, nicht wahr?«

»Ja, gewiss«, stimme ich zu. Ich weiß nicht, was ich sonst noch sagen soll, also sitzen wir da und be o bachten das Prasseln und Funkensprühen des Feuers.

Schallendes Gelächter lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die gegenüberliegende Ecke. Pippa taucht aus dem Scheichszelt auf, in dem die anderen Mä d chen noch sitzen. Sie schlendert zu uns herüber und schiebt ihren Arm unter den von Ann.

»Ann, Schätzchen, Felicity und ich fohlen uns schrecklich elend, weil wir vorhin so gemein zu dir waren. Es war einfach unchristlich von uns.«

Anns Gesicht ist immer noch ausdruckslos, aber sie errötet und ich weiß, dass sie sich freut, dass dies der Beginn ihres neuen, wundervollen Lebens unter den Schönen ist. Das Ende von Anns dornigem Weg.

»Felicitys Mutter hat eine Schachtel Pralinen geschickt. Möchtest du uns Gesellschaft leisten?«

An mich ergeht keine Einladung. Das ist eine schwere Beleidigung. Die anderen Mädchen dort drüben warten ge spannt, wie ich es aufnehmen we r de. Ann sieht mich schuldbewusst an und ich weiß, wie ihre Antwort lauten wird. Sie wird sich zu ebe n jenen Mädchen setzen, die sie ständig quälen, und mit ihnen Schokolade essen. Und nun weiß ich, dass Ann genauso oberflächlich ist wie alle and e ren. Mehr denn je wünsche ich mir, ich könnte nach Hause g e hen, aber es gibt kein Zuhause mehr.

»Na ja …«, sagt Ann und schaut dabei auf ihre Füße hinunter.

Ich sollte sie einfach in ihrem Unbehagen zappeln lassen, a ber das wäre ein voller Erfolg für Pippa und Felicity und diesen Gefallen werde ich ihnen nicht tun.

»Dieses Angebot solltest du unbedingt annehmen«, sage ich und zaubere ein Lächeln hervor, das die Sonne b e schämen würde. »Ich muss wirklich mit meiner Lektüre fortfahren.«

Bloß keinen weiteren Gedanken daran verschwenden.

Pippa strahlt übers ganze Gesicht. »Das ist ein Wort. Komm, Ann.« Sie tänzelt mit Ann davon zum anderen En de des Raumes. Mit einem gespielten Gähnen an die A d resse der Mädchen, die mich aus dem Zelt heraus beobac h ten, mache ich es mir g e mütlich und schlage das Tagebuch meiner Mutter wieder auf. Ich versuche, den Eindruck zu erwecken, als kümmere es mich einen Dreck, ignoriert zu we r den. Ich blättere Seite für Seite um, als sei ich in die Lektüre vertieft, obwohl ich längst alles gelesen h a be. Wer glauben die zu sein, dass sie mich so behandeln? Ich blätt e re die nächste Seite um und die nächste. Noch mehr Gek i cher schallt aus dem Zelt. Die Schokolade ist wahrschei n lich aus Manchester. Und diese Schals sind einfach läche r lich. Felicity ist ungefähr so exotisch wie die Bank von England. Meine Finger stoßen auf etwas Zerknittertes und Steifes im Innern des Buches, etwas, das ich bisher nicht bemerkt habe. Ein Zeitungsausschnitt aus e i nem Londoner Boulevardblatt, eine jener Gazetten, die von der Obe r schicht angeblich nicht zur Kenntnis genommen werden. Der Artikel wurde so oft zusammengefaltet, dass die Dr u ckerschwärze in den Knicken und auch an anderen Stellen so verblasst ist, dass ich den Text kaum lesen kann. Ich e r fasse nur das Wesentliche, nämlich d ass es sich um »ska n dal ö se Geheimnisse in Mädchenpensionaten « handelt.

Natürlich ist es billige Sensationsheischerei. Aber genau das ist es ja, was es so faszinierend macht. Konkret beric h tet der Artikel von einer Schule in Wales, wo einige Mä d chen einen Spaziergang gemacht haben »und auf Nimme r wiedersehen ve r schwunden sind«. Weiterhin von einer »tugendhaften englischen Rose«, die in einer Schule in Schottland »ein tragisches Opfer des Selbstmords« wurde. Und vom Fall eines Mädchens, das in einen »obskuren Te u felskreis« hineingezogen wurde und daraufhin »vollko m men übergeschnappt« sei. Das Teuflische daran ist, dass i r gendjemand für diesen Schwachsinn Geld erhalten hat.

Ich will den Zeitungsausschnitt schon wegstecken, als ich ganz weit unten etwas über die Feuersbrunst in Spence vor zwanzig Jahren entdecke. Aber es ist zu verblasst, um es l e sen zu können. Das passt zu meiner Mutter, solch e i nen Schmutz-und-Schund-Artikel aufzuheben, um ihn zur Liste ihrer Sorgen hinzuzufügen. Kein Wunder, dass sie mich nicht nach London schicken wollte. Sie fürchtete, ich wü r de Schlagzeilen machen. Komisch, wie die Dinge, die mich an ihr am meisten genervt haben, mir jetzt die Brust zuschn ü ren.

Ein schriller Schrei dringt aus Felicitys Allerheiligstem.

»Mein Ring! Was hast du mit meinem Ring ge macht?« Die Schals fliegen auseinander. Ann ta u melt rückwärts heraus und die anderen stoßen sie zu Boden. Felicity zeigt anklagend mit dem Finger auf sie. »Wo ist er? Sag ’s mir augenblicklich!«

»Ich ha-ha-hab ihn nicht. Ich ha-ha-hab überha-ha-haupt nichts ge-ge-getan.« Ann stolpert über ihre Worte und plötzlich wird mir klar, dass ihre Starrheit, ihre Selbstb e herrschung zum Teil von der A n strengung kommen, nicht zu stottern.

»Du ha-ha-hast nicht? Warum g-g-glaub ich dir nicht?« Felicitys Stimme ist höhnisch und hasse r füllt. »Ich lade dich zu uns ein und das ist der Dank dafür? Mir den Ring zu stehlen, den mir mein Vater geschenkt hat? Ich hätte mir denken können, dass von einer wie dir nichts anderes zu erwarten ist.«

Wir alle wissen, was »von einer wie dir« bedeutet. Unterschicht. Gewöhnlich. Unansehnlich, arm und hoffnung s los. Du bist und bleibst es, für immer und ewig. So lautet die Vereinbarung.

Eine imposante Frau mit einem hübschen Gesicht steuert auf die Mädchen zu. »Was ist hier los?«, fragt sie, zwi schen die am Boden kauernde Ann und Fel i city tretend, die dreinblickt , als sei sie bereit, Ann am Spieß zu rösten.

Pippa macht große runde Augen wie eine Naive in einer Schmierenkomödie. »Oh, Miss Moore! Ann hat Felicitys Saphirring gestohlen.«

Felicity streckt zum Beweis ihren unberingten Finger vor und verzerrt in theatralischem Schmerz den Mund. »Vorhin hatte ich ihn noch, und erst nachdem sie hereing e kommen war, bemerkte ich, dass er fehlte.«

Die Vorstellung wirkt wenig überzeugend. Das Affchen des Drehorgelspielers ist ein besserer Schauspieler, aber die Frage, ob Miss Moore ihr Glauben schenken wird, e r übrigt sich. Felicity hat schließlich Geld und gesellschaftl i ches Ansehen u nd Ann besitzt nichts dergleichen. Es ist erstaunlich, wie einfach man sich Recht verschaffen kann, solange man diese zwei Trümpfe in der Hand hält. Ich sehe schon vor mir, wie Miss Moore ihr Rückgrat strafft und Ann vor allen demütigt, indem sie sie zwingt, ihr schändl i ches Vergehen zuzugeben –und ihr außerdem die schrec k lichsten Schimpfwörter an den Kopf wirft. Aber Miss Moore überrascht mich. Sie nimmt den Köder nicht auf.

»Also gut, dann wollen wir einmal den Fußboden absuchen. Vielleicht ist der Ring ja irgendwo heru n tergefallen. Kommen Sie, helfen wir alle gemeinsam Miss Worthin g ton, ihren Ring wiederzufinden, ja?«

Ann steht regungslos und stumm, mit gesenktem Kopf da, als erwarte sie, für schuldig befunden zu werden. Ich weiß, ich sollte Mitleid mit ihr empfinden, aber ich bin immer noch ein bisschen ve r schnupft, weil sie mich im Stich gelassen hat, und ein liebloser Teil von mir denkt, geschieht ihr recht, warum musste sie denen vertrauen. Die anderen r ü cken Stühle und schauen hinter Vorhänge, in dem halbherzigen Versuch, den Ring zu finden.

»Er ist nicht da«, verkündet einige Minuten später ein hohlwangiges Mädchen triumphierend, als der Ring nicht aufgetaucht ist.

Miss Moore stößt einen Seufzer aus, nagt einen Moment an ihrer Unterlippe. Als sie dann spricht, ist ihre Stimme leise, aber bestimmt. »Miss Bradshaw, haben Sie den Ring genommen? Wenn Sie es zugeben, wird die Strafe milder ausfallen.«

Ann hat rote Flecken im Gesicht. Sie antwortet stotternd. »N-n-nein, M-m-mam, ich ha-ha-hab ihn n-n-nicht ge-ge-nommen.«

»Das kommt davon, wenn man Leute ihrer Klasse eine Schule wie Spence besuchen lässt. Wir alle werden noch Opfer ihres Neids werden«, sagt Felicity ätzend. Die and e ren Mädchen nicken. Schafe. Ich stecke in einem Internat voller Schafe.

»Das reicht jetzt, Miss Worthington.« Miss Moore zieht eine Augenbraue hoch.

Felicity starrt zurück, stemmt eine Hand in die Hüfte. »Den Ring hat mir mein Vater zu meinem sechzehnten Geburtstag geschenkt. Ich bin sicher, er wäre sehr unglüc k lich, wenn er erfährt, dass der Ring gestohlen wurde und niemand etwas unternommen hat, um den Diebstahl aufz u klären.«

Miss Moore wendet sich Ann zu, streckt ihr eine Hand hin. »Tut mir leid, Miss Bradshaw, aber ich fürchte, ich muss Sie bitten, mich in Ihren Strickkorb schauen zu la s sen.«

So unglücklich wie man nur sein kann, übergibt Ann den Handarbeitskorb und plötzlich weiß ich ge nau, was als Nächstes passieren wird. Es ist ein übler Streich. Ein a b scheulicher, böser Streich. Miss Moore wird den Ring da r in finden. Der Vorfall wird in Anns Abschlusszeugnis vermerkt werden. Und we l che Familie wird schon ein Mädchen als Gouverna n te anstellen, das als Diebin entlarvt wurde. Die Ärm s te steht da, als könnte sie nicht bis zehn zählen, bereit, ihr Schicksal anzunehmen.

Miss Moore zieht einen blitzenden blauen Saphirring aus d em Korb, traurige Enttäuschung spricht aus ihren Augen, bevor sie sich besinnt und ihr Gesicht in eine Maske geb o tener Zurückhaltung verwandelt. »Nun, Miss Bradshaw, was haben Sie zu Ihrer Ve r teidigung zu sagen?«

In einer Mischung aus tiefer Verzweiflung und Resignation lässt Ann Kopf und Schultern hängen. Pippa verzieht den Mund zu einem breiten Grinsen, Felicity den ihren zu einem gezierten Lächeln, während sie rasche Blicke ta u schen. Die Frage drängt sich auf, ob dies Anns Strafe dafür ist, dass sie vorhin auf dem Weg zur Kapelle mit mir g e sprochen hat. Soll es mir als Warnung dienen, künftig auf der Hut zu sein?

»Wir gehen am besten zu Mrs Nightwing.« Miss Moore nimmt Ann an der Hand, um sie dem Scharfrichter vorzu führen. Und ich? Am besten wäre es, an meinen Platz am Feuer zurückzukehren und mein Buch zu lesen. Meine Vernunft sagt mir, verhalte dich ruhig, passe dich an, stell dich auf die Seite der Gewinner. An manchen Tagen muss sich meine Ve r nunft meinem Temperament geschlagen geben.

»Ann, meine Liebe«, sage ich, indem ich Pippas jovialen Ton nachahme. Alle scheinen überrascht zu sein, mich sprechen zu hören, niemand mehr als ich selbst in diesem Moment. »Sei nicht so bescheiden. Sag Miss Moore die Wahrheit.«

Ann schaut mich mit großen Augen fragend an. »Die W-w-wahrheit?«

»Ja«, sage ich und hoffe, dass mir schon das Richtige einfallen wird, während ich weiterrede. »Die Wahrheit –nämlich dass Miss Worthington ihren Ring heute im Ve r lauf der Abendandacht verloren hat. Dass du ihn gefunden und in d einen Handa r beitskorb gesteckt hast, um ihn sicher zu verwa h ren.«

»Warum hat sie ihn dann nicht gleich zurückgegeben?« Felicity tritt auf mich zu, ihr Gesicht dicht vor meinem, und schaut mich mit ihren grauen Augen herausfordernd an.

Raffiniert. Mach deine Sache gut, Gem. »Sie woll te dich nicht vor den anderen bloßstellen und alle wissen lassen, dass du offensichtlich nachlässig mit etwas so Kostbarem, einem Geschenk deines Vaters, umgegangen bist. Deshalb hat sie auf eine Gelege n heit unter vier Augen gewartet. Du weißt, wie gu t herzig Ann ist.« Ein bisschen Lucys dorniger Weg. Ein bisschen Revanche für Felicitys eigene, aus der Luft gegriffene Geschichte über ihren liebenden alten Va ter. Nicht schlecht, alles in allem.

Miss Moore nimmt den Ball auf. Sie lässt nicht erkennen, ob sie mir glaubt oder nicht. »Miss Bra d shaw, stimmt das?«

Komm schon, Ann. Spiel mit. Schlag zurück.

Ann schluckt und reckt ihr Kinn Miss Moore entgegen. »Ja, ge-ge-genauso w-w-war es.«

Gutes Mädchen.

Ich bin mit mir ziemlich zufrieden, bis ich Felicitys Blick auffange, die mich mit einer Mischung aus Bewu n derung und Hass ansieht. Diese Runde habe ich gewonnen, aber ich weiß, mit Mädchen wie Fel i city und Pippa wird es immer ein nächstes Mal g e ben.

»Ich bin froh, dass das geklärt ist, Miss …« Miss Moore starrt mich an.

»Doyle. Gemma Doyle.«

»Nun, Miss Doyle, wie mir scheint, stehen wir in Ihrer Schuld. Ich bin sicher, Miss Worthington möchte Ihnen beiden dafür danken, dass sie ihren verlorenen Ring wi e derhat, nicht wahr?«

Zum zweiten Mal an diesem Abend überrascht mich Miss Moore und ich bin mir fast sicher, ein zu friedenes Lächeln um die Winkel ihres korrekten br i tischen Mundes spielen zu sehen.

»Sie hätte früher damit herausrücken und uns diesen Schrecken ersparen können«, sagt Felicity anstatt eines Dankeschöns.

»Grazie, Charme und Schönheit, Miss Worthington«, ermahnt sie Miss Moore und hebt missbilligend ihren Fin ger.

Felicity macht ein Gesicht wie ein kleines Mädchen, dem soeben sein Lutschbonbon in den Schmutz gefallen ist. Aber dann lächelt sie wieder übers ganze Gesicht, ihr Groll ist verflogen. »Wie mir scheint, stehe ich tief in de i ner Schuld, Gemma «, sagt sie. Sie fordert mich mit der vertraulichen Anrede heraus, die ich ihr nicht angeboten habe.

»Ganz und gar nicht, Felicity«, gebe ich den Ball zurück.

»Dieser Ring war ein Geschenk von meinem Vater, Admiral Worthington. Vielleicht hast du von ihm gehört?«

Die halbe Englisch sprechende Welt hat von Admiral Worthington gehört einem Helden der Kriegsmarine, von Königin Viktoria persönlich mit einem Orden ausgezeic h net.

»Nein, sollte ich?«, frage ich scheinbar ahnungslos.

»Er ist sehr berühmt. Er schickt mir alle möglichen Sachen von seinen Reisen. Meine Mutter führt einen Salon in Paris, u nd wenn Pippa und ich unser Examen gemacht h a ben, fahren wir dorthin und Ma ma wird uns von den besten Couturiers von Fran k reich einkleiden lassen. Vielleicht nehmen wir dich auch mit.«

Das ist keine Einladung. Es ist eine Herausforderung. Sie wollen wissen, ob ich die Mittel habe, um mit ihnen mitzuhalten. »Vielleicht«, sage ich. Ann laden sie nicht ein.

»Es wird eine wundervolle Zeit, obwohl Pippa wahrscheinlich alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird«, sagt Felicity. Pippa strahlt bei diesen Worten. Sie ist so beza u bernd, dass die jungen Männer ihr in Scharen zu Füßen li e gen werden. »Du und ich we r den einfach gute Miene zum bösen Spiel machen müssen.«

»Und Ann«, sage ich.

»Ja, und Ann, natürlich. Ann, meine Liebe.« Felicity lacht und gibt Ann einen flüchtigen Kuss auf die Wange, der sie erröten lässt. Es ist, als wäre alles vergessen.

Die Uhr schlägt zehn und Mrs Nightwing erscheint in der Tür. »Schlafenszeit, meine Damen. Ich wünsche Ihnen allen eine gute Nacht.«

Die Mädchen schwärmen hinaus, in aufgekratzter Stimmung. Die Aufregung des Abends flackert in einem Ge flüster wieder auf, das von einem Mädchen zum andern überspringt. Wir steigen die gewundenen Treppen hoch, auf das Labyrinth von Türen zu, wo unsere Zimmer liegen.

Schließlich kann ich meinen Ärger über Ann nicht länger für mich behalten. »Warum hast du dich nicht selbst verteidigt?«

Sie zuckt die Schultern. »Was solls? Gegen die kann man nicht gewinnen.«

»Da bist du ja, Ann, meine Liebe.« Pippa kommt uns nach, sie nimmt Ann am Arm und hält sie auf, sodass Feli city neben mich schlüpfen kann.

Felicitys Stimme dringt in mein Ohr wie ein Beichtgeflüster . »Ich werde darüber nachdenken, wie ich mich bei dir dafür revanchieren kann. Wir haben eine Art priv a ten Klub, Pippa, Cecily, Eliz a beth und ich, aber es könnte auch für dich noch Platz sein.«

»Bin ich nicht ein Glückspilz? Ich mach mich gleich auf den Weg, um mir für diese besondere Ge legenheit einen neuen Hut zu kaufen.«

Felicitys Augen werden schmal, aber ihr Mund lächelt unentwegt weiter. »Es gibt Mädchen, die weiß Gott was dafür gäben, an deiner Stelle zu sein.«

»Schön. Dann frag sie.«

»Schau mal, ich biete dir eine Chance, in Spence nach oben zu kommen. Dazuzugehören. Sodass die anderen Mädchen bewundernd zu dir aufblicken. Du wärest gut b e raten, darüber nachzudenken.«

»Dazuzugehören, so wie ihr es heute Abend Ann vorgegaukelt habt?«, frage ich. Ich schaue zu Ann zurück, die jetzt ein paar Stufen hinter mir ist, wieder mit laufender Nase.

Felicity sieht das. »Es ist nicht so, dass wir Ann nicht mit dabeihaben wollen. Es ist nur, dass sie ein anderes Le ben vor sich hat als wir. Du denkst, wie freundlich du doch zu ihr bist, obwohl du ganz genau weißt, dass ihr draußen niemals Freundinnen sein könnt. Es ist grausam, sie gla u ben zu machen, es könnte anders sein.«

Sie hat recht. Ich traue ihr nicht weiter über den Weg, als ich in einem festgezurrten Korsett laufen kann, aber sie hat recht. Die Wahrheit ist hart und ungerecht, aber so ist es.

»Angenommen, ich wäre daran interessiert, bei euch mitzumachen was nicht heißen soll, dass ich es bin –, aber falls doch, was müsste ich tun?«

»Vorläufig nichts«, sagt sie und setzt ein Lächeln auf, das mir nicht behagt. »Keine Sorge –wir werden dich h o len.« Sie rafft ihre Röcke und läuft die Stufen hinauf, an allen anderen vorbeischießend wie ein Komet.