7. Januar 1871
Es geschehen so furchtbare Dinge mit mir, liebstes Tagebuch, dass ich nicht den Mut habe, sie hier zu erzählen. Ich habe nicht den Mut, überhaupt darüber zu sprechen, nicht einmal mit Sarah. Was wird aus mir we r den?
Mir ist, als krampfe sich mein Magen zusammen. Was mochte so schrecklich sein, dass sie es nicht einmal ihrem Tagebuch anvertrauen konnte? Ein leichter Wind kommt auf und trägt Mädchenstimmen herüber. »Blindekuh!« Die nächste Aufzeichnung trägt das Datum vom 12. Februar. Mein Herz schlägt immer rascher, je mehr ich lese.
Liebstes Tagebuch, Gott sei Dank, was für eine riesige Erleichterung ! Ich bin nicht verrückt, wie ich g e fürchtet habe. Meine Visionen überfallen mich nicht mehr mit Gewalt, ich habe sie endlich unter Kontro l le. Oh, mein Tagebuch, sie sind nicht furchtbar, sondern schön! Sarah hat mir verspr o chen, dass es so sein würde, aber ich gestehe, dass ich zu große Angst hatte, um mich voll und ganz darauf einzula s sen. Ich kämpfte dagegen an und ließ mich nur widerstr e bend mit fortziehen. Aber heute, oh, es war in der Tat her r lich! Als ich dieses Fieber in mir aufsteigen füh l te, wehrte ich mich nicht. Ja, ich will es, sagte ich zu mir und befeuerte dadurch me i nen Mut. Ich fühlte keinen wachse n den Druck, der mich sonst zu ze r sprengen drohte. Dieses Mal war es nicht mehr als ein sanfter Schauder und da sah ich es vor mir –ein wunderb a res Tor aus Licht. Oh, mein Tagebuch, ich ging hindurch in ein Land von unsagbarer Schönheit, einen Garten mit einem plätschernden Bach und Blüten, die von Bäumen herabfallen wie der sanfteste Regen. Siehe da, man kann in seine e i gene Fantasie eintreten. Ich lief, schnell wie ein Reh, meine Beine trugen mich kraftvoll dahin und ich war von einer Freude erfüllt, die ich nicht beschreiben kann. Es schien, als hätte ich Stu n den dort verbracht, aber als ich wieder durch das Tor kam, w ar es, als wäre ich gar nic h t fort gewesen. Ich war wieder in meinem Zimmer, wo Sarah auf mich wartete, um mich zu umarmen. »Mary, mein Schatz, d u hast es g e schafft! Morgen werden wir uns Hand in Hand dorthin b e geben und eins mit unseren Schwestern werden. Dann werden wir alle Geheimnisse des Magischen Reichs ke n nenlernen.«
Ich zittere. Mary und Sarah hatten Visionen. Ich bin nicht allein. Irgendwo dort draußen sind zwei Mäd chen –zwei Frauen –, die mir vielleicht helfen kö n nen. Ist es das, was sie mich wissen lassen will? Ein Tor aus Licht. So etwas habe ich noch nie ges e hen –oder solch einen Garten. Nichts war schön, überhaupt nichts. Was, wenn meine Vi sionen anders sind als ihre? Kartik sagte mir, sie würden mich in Gefahr bringen, und alles, was ich erlebt habe, scheint ihm recht zu geben. Aber was, wenn er sich irrt? Oder lügt?
Es ist zu viel für meinen Kopf, zu viel, um es alles auf einmal erfassen zu können. Ich stecke das Buch wieder weg und gehe tiefer in den Wald hinein. Ich schlängle mich zwischen mächtigen Bäumen hi n durch und lasse meine Finger über ihre raue Rinde gleiten. Der Boden ist übersät mit Eicheln, trockenen Blättern und dürren Zweigen.
Ich gelange auf eine Lichtung und vor mir liegt ein kleiner, glasklarer Weiher. Auf der gegenüberliege n den Seite steht ein Bootshaus. Ein abgewetztes bla u es Ruderboot mit nur einem Ruder ist an einem Baumstumpf vertäut. Das Boot schaukelt i m leichten Wind hin und her, sodass sich die Wasseroberfläche leise wellt. Es ist niemand da, der mich sieht, also binde ich das Boot los, klettere hinein und mache es mir bequem. Die Sonne ist ein warmer Kuss auf meinem Gesicht. Ich denke an Mary Dowd und ihre sch ö nen Visionen von einem Tor aus Licht, einem fantastischen Garten. Wenn ich meine Visionen ko n trollieren könnte, würde ich mir am allermeisten wünschen, das Gesicht me i ner Mutter zu sehen.
»Ich würde sie mit aller Kraft herbeiwünschen«, flüstere ich und blinzle die Tränen fort. Lass sie doch einfach fli e ßen, Gem. Ich schluchze leise in meinen Arm, bis ich e r schöpft bin und meine Augen bre n nen. Das rhythmische Schlagen der Wellen gegen die Bootswand lullt mich ein und bald umfängt mich tröstender Schlaf.
Ich träume. Ich laufe im nächtlichen Nebel barfuß über Waldboden, der Atem flockt in kleinen weißen Wölkchen aus meinem Mund. Ich jage einem Reh nach, sein braunes Fell flimmert durch die Bäume wie ein Irrlicht, das mich foppt. Aber ich komme n ä her. Meine Beine werden schnell und schneller, bis ich fast fliege. Ich strecke meine Hände nach der Flanke des Rehs aus. Meine Finger fassen das Fell, aber es ist nicht länger ein Reh, sondern das blaue Kleid meiner Mutter. Es ist meine Mutter. Ein Lä cheln breitet sich auf ihrem Gesicht aus.
»Wo bin ich?«, ruft sie und läuft weg.
Ihr Rocksaum verfängt sich an einem Ast, sie reißt ihn los, aber ein Stück davon bleibt hängen. Ich pa cke den Stoffstreifen, stecke ihn in mein Mieder und folge ihr durch den Ne b elwald bis zur Ruine eines alten Tempels, dessen Boden mit den Blütenblättern von Lilien übersät ist. Ich fürchte, dass ich sie verl o ren habe, aber sie winkt mir vom Pfad her. Durch den Nebel jage ich ihr nach, bis wir die muffigen Hallen von Spence erreichen, die endlosen Tre p pen hoch und den Flur im dritten Stock entlang. Ich folge ihrem Lachen die letzte Treppenflucht hinauf, bis ich –allein –oben stehe, vor der verschlossenen Tür zum Os t flügel. Die Luft wispert mir ein Schlaflied zu … Komm zu uns, komm zu uns, komm zu uns. Ich stoße mit meiner fl a chen Hand die Tür auf. Es ist nicht länger eine ausgebran n te Ruine. Der Raum ist erfüllt von Licht, mit goldenen Wänden und schimmernden Böden. Meine Mutter ist ve r schwunden. Dafür sehe ich das kleine Mädchen, das seine Puppe an sich drückt.
Ihre Augen sind groß und sehen mich an. »Sie haben mir mein Püppchen versprochen.«
Ich will sagen: Tut mir leid, ich verstehe nicht, aber die Wände schmelzen hinweg. Wir sind in einer Gegend mit kahlen Bäumen, Schnee und Eis und klirrender Winterkä l te. Etwas Dunkles, die Dunke l heit an sich bewegt sich am Horizont. Das Gesicht eines Mannes taucht auf. Ich kenne ihn. Amar, Ka r tiks Bruder. Er läuft vor etwas davon, das ich nicht sehen kann. Und dann spricht das dunkle Etwas zu mir.
»So nahe …«
Ich wache schlagartig auf. Das Gleißen der Sonne blendet mich und einen Moment lang ist mir nicht klar, wo ich bin. Ich spüre, wie mein Herz in meiner Brust hämmert. Der Traum scheint wirklicher zu sein als das Wasser, in das ich m eine Finger tauche. Und meine Mutter. Sie war nahe genug, um die Hand nach mir auszustrecken. Warum ist sie weggelaufen? Wohin hat sie mich geführt?
Unterdrücktes Gekicher dringt in meine Gedanken, es kommt hinter dem Bootshaus her. Ich bin nicht allein. Wieder dieses Gekicher und jetzt erke n ne ich Felicitys Stimme. Über mir schlägt alles z u sammen. Die Sehnsucht nach meiner Mutter, die mir sogar im Traum entgleitet. Die unergründbaren Ge heimnisse in Marys Tagebuch. Die blinde Wut, die ich gegen Felicity und Pippa und all jene empfinde, die achtlos durchs Leben gehen. Sie haben den falschen Tag, das falsche Opfer für grausame Streiche g e wählt. Ich werde es ihnen grausam heimzahlen. Ich könnte ihre schlanken Hälse wie Zweige knicken.
Vorsicht. Ich bin ein Monster. Nehmt lieber die Beine in die Hand und rennt. Fliegt davon auf euren Bambihufen.
Und schon bin ich aus dem Ruderboot, lautlos wie eine Feder, und schleiche im Schutz der Büsche zum Bootshaus. Nicht ich werde heute den Schrecken meines Lebens b e kommen. Das Gekicher ist in leises Gemurmel übergega n gen. Und jetzt höre ich noch etwas. Eine tiefere Stimme. Männlich. Die Folterzwillinge sind nicht allein. Umso be s ser. Na wartet. Ich werde es euch zeigen. Ihr sollt wissen, dass ich nie wieder euer williges Werkzeug sein werde.
Zwei Schritte noch, dann springe ich hervor – ge rade im rechten Moment, um Felicity in enger Umarmung mit e i nem Zigeuner zu finden. Sie sieht mich und stößt einen markerschütternden Schrei aus. Ich schreie. Sie schreit wieder.
Und jetzt ringen wir beide nach Atem, während der Zigeuner in seinem weißen Hemd ratlos von einer zur and e ren schaut. Schreck und Verwirrung bl i cken aus seinen goldgesprenkelten Augen unter den hochgezogenen, b u schigen dunklen Brauen.
»Was … was machst du hier?«, keucht Felicity.
»Dasselbe könnte ich dich fragen«, sage ich, mit dem Kinn auf ihren Begleiter deutend. Allein mit einem Mann überrascht zu werden ist schockierend –ein Grund, um so schnell wie möglich die Hochzeit auszurichten. Aber mit einem Zigeuner überrascht zu werden! Wenn ich das erzä h le, ist Felicity für ihr ganzes Leben erledigt. Wenn ich es erzähle.
»Ich bin Ithal«, sagt er mit einem breiten Romani-Akzent.
»Sag ihr nichts«, zischt Felicity, noch immer zitternd.
Mrs Nightwings schrille Stimme dringt durch den Wald, kommt auf uns zu. »Mädchen! Mädchen!«
Panische Angst flackert in Felicitys grauen Augen. »Lieber Gott, mach, dass sie uns nicht findet.«
Ein Dutzend Stimmen ruft unsere Namen. Sie kommen näher.
Ithal will den Arm um Felicity legen. »Besser so. Sollen sie uns finden. Dieses Versteckspiel gefällt mir nicht.«
Felicity stößt ihn weg, ihre Stimme ist abweisend. »Schluss jetzt! Bist du wahnsinnig? Man darf mich nicht mit dir sehen. Verschwinde.«
»Komm mit mir.« Er nimmt ihre Hand und will sie mit sich ziehen, aber sie widersetzt sich.
»Verstehst du nicht? Ich kann nicht mit dir gehen.« Felicity dreht sich zu mir. »Du musst mir he l fen.«
»Ist das die Bitte eines Mädchens, das mich neulich nachts in der Kapelle eingesperrt hat?«, frage ich, die Arme vor meiner Brust verschränkend.
Ithal versucht, einen Arm um ihre Taille zu schlingen, aber sie reißt sich los.
»Ich hab mir nichts dabei gedacht. Es war nur ein Scherz, sonst nichts.« Als sie sieht, dass ich keine Miene verziehe, versucht sie eine andere Taktik. »Bitte, Gemma. Ich gebe dir, was du willst. Mein Federmäppchen. Meine Handschuhe. Meinen Saphi r ring!«
Sie will den Ring von ihrem Finger ziehen, aber ich halte ihre Hand fest. Es wäre mir eine Wonne, mit anzusehen, wie sich Felicity unter Mrs Nigh t wings Befragung windet. Aber noch besser ist es zu wissen, dass sie ihre Rettung meiner Großmut ve r dankt. Das sollte Strafe genug für sie sein.
»Du schuldest mir etwas.«
»Verstanden.«
Ich schubse sie zum Weiher hin.
»Was tust du?«
»Dich retten«, sage ich und stoße sie hinein. Während sie im kalten Wasser spritzend und kreischend um sich schlägt, bedeute ich Ithal, sich in Richtung Wald zu entfe r nen. »Gehen Sie, wenn Sie sie jemals wiedersehen wo l len.«
»Ich werde nicht fortlaufen wie ein Feigling.« Trotzig nimmt er eine – wie er wohl meint –helde n hafte Pose ein.
»Glauben Sie denn, Sie würden je irgendwas von Felicitys Vermögen sehen? Sie würde bis auf den letzten Cent enterbt werden. Falls Sie nicht zuvor in Eise n ketten gelegt und in Newgate gehängt werden«, sage ich, den Namen von Londons berüchtigtstem Ge fängnis erwähnend. Sein Gesicht wird bleich, aber er weicht nicht von der Stelle. Männlicher Stolz. Wenn ich den Burschen nicht von hier wegbeko m me, sind wir verloren.
Kartik taucht überraschend hinter einem Baum auf. Mit Ausnahme seines schwarzen Umhangs ist er wie ein Zi geuner gekleidet –um den Hals geknüpftes Taschentuch, farbenfrohe Weste, die Hosenbeine in hohe Stiefel g e steckt. In schleppendem Romani spricht er zu Ithal. Ich weiß nicht, was er gesagt hat, aber der Zigeuner geht wor t los mit ihm davon. Auf dem Pfad schaut Kartik noch ei n mal zurück und u n sere Blicke begegnen sich. Ich nicke ein stummes Dankeschön. Er nickt kurz zurück und die beiden entfernen sich rasch.
»Hier, nimm meine Hand.« Ich ziehe die wütende Felicity aus dem See. In ihrem verzweifelten Kampf, sich über Wasser zu halten, hat sie von alldem nichts mitbekommen.
»Was hast du dir bloß dabei gedacht!« Sie ist triefnass, ihre Wangen glühen vor Zorn.
Mrs Nightwing hat uns gefunden. »Was ist hier los? Was hat dieses Geschrei zu bedeuten?«
»Oh, Mrs Nightwing! Felicity und ich wollten mit dem Boot auf den Weiher hinausrudern und sie ist zufällig hi neingefallen. Es war furchtbar dumm von uns und wir b e dauern es zutiefst, Sie alle erschreckt zu haben«, sprudle ich schnell hervor. Felicity ist offenbar verstummt, abges e hen von einem w ohlberechneten Niesen, das Mrs Nigh t wing sofort in hell s te Aufregung versetzt.
»Miss Doyle, legen Sie Ihr Cape um Miss Worthington, bevor sie sich den Tod holt. Wir gehen jetzt alle zur Schule zurück. Das hier ist kein geei g neter Ort für junge Damen. In diesem Wald treiben sich manchmal Zigeuner herum. Mich schaudert, wenn ich daran denke, was hätte passieren können.«
Felicity und ich blicken die ganze Zeit wie gebannt auf unsere Füße. Zu meiner Überraschung stupst sie mich mit dem Ellbogen in die Rippen. »Ja«, sagt sie mit todernster Miene. »Das ist tatsäc h lich ein furchtbarer Gedanke, Mrs Nightwing. Wir beide sind Ihnen wirklich dankbar für di e sen wer t vollen Hinweis.«
»Nun gut, sehen Sie zu, dass Sie in Zukunft vorsichtiger sind«, seufzt Mrs Nightwing, ein wenig g e schmeichelt durch Felicitys geschicktes Manöver. »Also dann, Mä d chen, zurück in die Schule.«
Ich werfe mein Cape um Felicitys Schulter. »Das war ein bisschen melodramatisch, nicht wahr? ›Wir beide sind Ihnen wirklich dankbar für diesen wer t vollen Hinweist«
»Immerhin hat es funktioniert, oder? Wenn du sagst, was sie hören wollen, kümmern sie sich nicht weiter um dich«, erklärt Felicity.
Pippa kommt atemlos herübergerannt. »Himmel, was ist denn passiert? Erzählt, bevor ich vor Neugier sterbe!«
Ann ist ebenfalls plötzlich bei uns. Sie sagt nichts, schlurft nur wie selbstverständlich neben mir her.
»Es ist genau, wie Gemma gesagt hat«, lügt Felicity. »Ich bin ins Wasser gefallen und sie hat mich herausgez o gen.«
Pippa kann ihre Enttäuschung nicht verhehlen. »Das ist alles?«
»Ja, das ist alles.«
»Mehr war nicht?«
»Genügt es nicht, dass ich fast ertrunken bin?«, zischt Felicity. Sie ist so überzeugend, dass ich schwören könnte, sie glaubt es beinahe selbst. Nun weiß ich, dass sie ihrer besten Freundin Pippa kein Wort über ihren Zigeuner-Romeo anvertraut hat. Felicity und ich haben ein Gehei m nis, das sie sonst mit niemandem teilt. Pippa ahnt, dass wir nicht die ganze Wahrheit sagen. In ihre Augen tritt jener misstrau i sche, verwundete Blick eines Mädchens, das seine beste Freundin verloren hat. Verloren an eine andere, ohne zu wissen, wann und wie das passieren konnte.
Sie beugt sich dicht zu Felicity. »Was hast du mit ihr gemacht?«
»Ich glaube, eine Direktorin ist genug, Pippa«, sagt Felicity spöttisch. »Wirklich, du hast eine so blühende Fant a sie, dass du sie früher oder später als Romanschriftstellerin nützen solltest. Gemma, komm mit mir.«
Sie hakt mich unter und wir lassen Pippa stehen, der nichts anderes übrig bleibt, als den Spieß umzu drehen, Ann die kalte Schulter zu zeigen und rüber zu den übrigen Mä d chen zu laufen.
»Sie kann manchmal so kindisch sein«, sagt Felicity, als wir ein paar Schritte zurückgefallen sind.
»Ich dachte, ihr seid beste Freundinnen.«
»Ich liebe Pippa. Wirklich. Aber sie ist so überbehütet. Es gibt Dinge, die ich ihr niemals anvertrauen könnte. Wie das mit Ithal. Aber du kannst es verst e hen. Das weiß ich. Ich glaube, wir zwei werden wunderbare Freundinnen sein, Gemma.«
»Würden wir auch dann wunderbare Freundinnen sein, wenn ich nicht Mitwisserin deines Geheimnis ses wäre?«, frage ich.
»Haben Freundinnen nicht immer Geheimnisse?«
Würde ich jemals meine Geheimnisse mit einem von diesen Mädchen teilen? Würden sie entsetzt die Flucht er greifen, wenn sie die Wahrheit über mich wussten? Ein Stück weiter oben treibt Miss Moore die Herde der jüng e ren Mädchen durch die Bäume und auf die große Rasenfl ä che hinaus. Sie beobachtet uns mit einem merkwürdigen Ausdruck, als hätte sie ein Déjà-vu .
»Kommt schon, Mädchen«, ruft sie. »Trödelt nicht.«
»Trödeln? Ich bekomme kaum Luft bei diesem Galopp«, schnauft Felicity.
»Seit wann unterrichtet Miss Moore schon in Spence?«, frage ich.
»Sie ist seit vergangenem Sommer hier. Sie hat etwas frischen Wind in diese öden alten Mauern ge bracht, das kann ich dir sagen. Oh, was ist das?«, sagt Felicity.
»Was ist was?«, frage ich.
»Dieser Stofffetzen in deinem Mieder. Ein bisschen zerrissen. Pfui, und schmutzig. Wenn du ein sauberes Ta schentuch brauchst, musst du ’s nur s a gen. Ich habe ganze Stapel davon.«
Sie legt den Fetzen in meine offene Hand. Er ist aus blauer Seide, an den Rändern ausgefranst und verschmutzt, als wäre er an einem Ast hängen geblieben und abgerissen. Meine Beine zittern so heftig, dass ich mich an den näch s ten Baum lehnen muss.
Felicity schaut verwirrt drein. »Was ist los?«
»Nichts«, sage ich mit erstickter Stimme.
»Als hättest du einen Geist gesehen.«
Das könnte gut möglich sein.
Die schmutzige blaue Seide ist ein Versprechen in meinen Händen. Meine Mutter war hier. Ich würde sie mit a l ler Kraft herbeiwünschen. Das war ’s, was ich gesagt habe, bevor ich eingeschlafen bin. I r gendwie habe ich die Dinge geändert. Mit dieser seltsamen Kraft, die mir zu eigen ist, habe ich meine Mutter zurückgeholt. Jetzt will ich alles darüber wi s sen. Wenn Kartik es mir nicht sagt, werde ich es selbst herausfinden. Ich werde Mary Dowd ausfindig machen und sie dazu bringen, mir zu sagen, was ich wissen muss. Niemand kann mich davon abhalten.
Felicity zieht mit einem Ruck an meiner Hand. »Ich komme schon«, sage ich und beschleunige mei ne Schritte, bis ich aus den Bäumen heraustrete und wieder an der warmen Sonne bin.