2. Kapitel

 

Ich renne durch Scharen von Händlern, bettelnden Kindern und stinkenden Kamelen, weiche mit kna p per Not zwei Männern aus, die eine Stange mit Saris zwischen sich tragen. Ich stürme eine schmale Seitenstraße hinunter und immer weiter, den g e wundenen, verschlungenen Gassen folgend, bis ich anha l ten muss, um wieder zu Atem zu kommen. Heiße Tränen ri n nen über meine Wangen. Nun, wo es niemand sieht, weine ich hemmungslos.

Gott bewahre mich vor den Tränen einer Frau, denn dagegen bin ich machtlos. Das würde mein Va ter jetzt sagen, wenn er hier wäre. Mein Vater mit seinen zwinkernden Augen und seinem buschigen Schnurrbart, seinem drö h nenden Lachen, wenn ich ihm Freude bereite; und seinem in die Ferne schwe i fenden Blick –als wäre ich Luft –, wenn ich mich wenig damenhaft benommen habe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er wahnsinnig beglückt sein wird, wenn er hört, wie ich mich verhalten habe. Schlimme Di n ge zu sagen und einfach davonzure n nen, ist nicht die Art von Benehmen, die im Zwe i felsfall für ein Mädchen spricht, das nach London möchte. Mein Magen krampft sich zusammen, als ich mir a lles noch einmal vor Augen führe. Wie konnte ich mich nur so gehen lassen?

Es bleibt mir nichts anderes übrig, als meinen Stolz hinunterzuschlucken, nach Hause zu gehen und um Verze i hung zu bitten. Wenn ich den Weg finde. Nichts kommt mir im Mindesten bekannt vor. Zwei alte Männer sitzen im Schneidersitz auf dem Boden und rauchen kleine braune Zigaretten. Sie beobac h ten mich, während ich vorbeigehe. Mir wird bewusst , dass ich zum ersten Mal allein in der Stadt bin. Ohne Anstandsdame. Ohne Begleitperson. Eine vornehme Engländerin ohne Schutz und Schirm. Ich habe mich in eine skandalöse Lage gebracht. Mein Herz schlägt schneller und ich beschleunige meine Schritte.

Die Luft steht vollkommen still. Ein Unwetter ist im Anzug. In der Ferne höre ich hektisches Treiben auf dem Marktplatz, Geschäfte in letzter Minute, die rasch noch a b geschlossen werden, ehe die Waren vor dem nachmittägl i chen Regenschauer in Sicherheit gebracht werden. Ich fo l ge den Geräuschen und lande wieder an meinem Au s gangspunkt. Die alten Männer grinsen mich an, eine junge Dame allein in den Straßen von Bombay. Ich könnte sie fragen, wie ich zum Marktplatz zurückkomme, obwohl mein Hindi nicht halb so gut ist wie das meines Vaters und die Frage »Wo ist der Marktplatz?« aus meinem Mund vielleicht so klingt wie »Ich begehre die sch ö ne Kuh deines Nachbarn«. Trotzdem, einen Versuch ist es wert.

»Verzeihung«, sage ich zu dem älteren der beiden Männer, dem mit dem weißen Bart. »Ich glaube, ich habe mich verlau f en. Könnten Sie mir sagen, wo es hier zum Mark t platz geht?«

Das Lächeln des Mannes verschwindet und macht einem angstvollen Gesichtsausdruck Platz. Er spricht zu dem a n deren Mann in scharf herausgestoßenen Worten eines Di a lekts, den ich nicht verstehe. Aus Fenstern und Haustüren schauen Leute, um zu sehen, was los ist. Der alte Mann ist aufgestanden und zeigt auf mich, auf die Halskette. Gefällt sie ihm nicht? Irgendetwas an mir hat ihn erschreckt. Er scheucht mich fort, geht ins Haus und schlägt mir die Tür vor der Nase zu. Gut zu wissen, dass meine Mutter und Sa rita nicht die Einzigen sind, die mich unausstehlich finden.

Die Menschen verharren an den Fenstern und beobachten mich. Der erste Regentropfen fällt und hi n terlässt einen Flecken auf meinem Kleid. Der Himmel kann jeden Mo ment seine Schleusen öffnen. Ich muss zurück. Nicht au s zudenken, wenn Mutter vom Regen durchweicht wird und ich daran schuld bin, weil sie mich sucht. Warum habe ich mich nur wie ein eigensinniger Fratz benommen? Jetzt wird sie mich nie und nimmer nach London schicken. Ich werde in einem österreichischen Kloster enden, u m geben von Frauen mit Schnurrbärten, halb erblindet vom Sticken komplizierter Spitzenmuster für die Aussteuer fremder Mädchen. Ich verfluche mein hi t ziges Temperament, aber das hilft mir jetzt auch nicht weiter. Schlag eine Richtung ein, Gemma –irgendeine Richtung –, nur geh. Ich nehme den Weg nach rechts. Die unbekannte Straße mündet in eine andere und diese wieder in eine andere, und gerade als ich um eine Ecke b iege, sehe ich ihn kommen. Den jungen Mann vom Marktplatz.

Keine Panik, Gemma. Geh einfach nur langsam weg, bevor er dich sieht.

Ich mache zwei hastige Schritte rückwärts. Mein Absatz bleibt an einem Stein hängen, ich verliere den Halt und schlittere auf die Straße. Als ich mich au f richte, starrt mich der junge Mann mit einem Blick an, den ich nicht deuten kann. Einen Moment lang rührt sich keiner von uns. Wir stehen so reglos wie die Luft, die uns umgibt und Vorbote eines drohe n den Sturms ist.

Eine plötzliche Angst befällt mich, durchfährt mich wie ein kalter Windstoß, verstärkt durch Ge sprächsfetzen, die ich im Arbeitszimmer meines Va ters aufgeschnappt habe –über das Schicksal einer unbegleiteten Frau, die von üblen Männern überwä l tigt wurde und deren Leben dadurch für immer ze r stört war. Aber das sind nur Geschichten. Dieses hier ist ein realer Mann, der mit energischen Schritten auf mich zukommt.

Er will mich fangen, aber ich werde es nicht zulassen. Mein Herz klopft mir bis zum Hals. Ich raffe meine Röcke, bereit loszurennen. Ich versuche, einen Schritt zu machen, doch meine Beine zittern wie die eines Kälbchens. Der Bo den unter mir schwankt.

Was geschieht da?

Bewegen. Ich muss mich bewegen, aber ich kann nicht. Ein seltsames Kribbeln befällt mich, es beginnt in meinen Fingern, wandert den Arm hinauf, in me i ne Brust. Mein ganzer Körper zittert. Ein schreckl i cher Druck schnürt mir den Atem ab, zwingt mich hinunter auf die Knie. Panik wuchert wie Unkraut in meinem Mund. Ich will schreien. Aber ich bringe kein Wort heraus. Keinen Laut. Der Mann erreicht mich, als ich zu Bo den sinke. Ich will ihm sagen, er soll mir helfen. Ich richte meinen Blick auf sein Ge sicht, seine vollen, schön geschwungenen Lippen. Seine dichten dunklen Locken fallen über seine Augen, tiefe braune A u gen mit endlos langen Wimpern. Erschrockene Augen.

Hilfe.

Das Wort steckt in mir fest. Ich fürchte nicht mehr, meine Unschuld zu verlieren. Ich weiß, ich muss sterben. Ich versuche, den Mund zu öffnen, um ihm das zu sagen, aber es kommt nur ein würgender Laut aus meiner Kehle. Ein starker Geruch nach Ro sen und Gewürzen überwältigt mich, der Horizont verschwimmt. Meine Lider flattern, während ich krampfhaft versuche, bei Bewusstsein zu ble i ben. Seine Lippen sind es, die sich öffnen, sich bewegen, sprechen.

Seine Stimme, die sagt: »Es geschieht.«

Der Druck nimmt zu, bis ich das Gefühl habe zu zerbersten. Ein wirbelnder Tunnel aus blendenden Farben und Licht zieht mich hinab wie ein Sog. Ich falle ins Bodenl o se. Bilder rasen vorbei. Ich sehe mich selbst als Zehnjähr i ge, ich spiele mit Julia, der Stoffpuppe, die ich ein Jahr später bei einem Pic k nick verloren habe; ich bin sechs und Sarita wäscht mir vor dem Abendessen das Gesicht. Die Zeit dreht sich zurück und ich bin drei, zwei, ein Baby und dann ein bleiches und fremdes Etwas, ein Geschöpf nicht größer als eine Kaul q uappe und genauso ze r brechlich. Der starke Sog erfasst mich abermals mit Macht, zieht mich durch einen Schleier aus Schwä r ze, bis ich vor mir wieder die gewundene Straße in Indien sehe. Ich bin eine Zu schauerin und bewege mich in einem Wachtraum, höre keinen Laut außer dem Klopfen meines Herzens, mein Ein - und Au s atmen, das Rauschen meines eigenen Bluts, das durch meine Adern strömt. Auf den Dächern über mir tollt das Äffchen des Drehorgelspielers herum, zähnebl e ckend. Ich versuche zu sprechen und stelle fest, dass ich es nicht kann. Das Affchen springt auf ein anderes Dach. Ein La den, wo getrocknete Kräuter von der Dachrinne hängen und ein kleines Auge-und-Mond-Symbol –das gleiche wie an der Halske t te meiner Mutter –an der Tür angebracht ist. Eine Frau kommt mit schnellen Schritten die abschüssige Straße herauf. Eine Frau mit rotgoldenem Haar, e i nem blauen Kleid und weißen Handschuhen. Meine Mutter. Was macht meine Mutter hier? Sie sollte bei Mrs Talbot sein, Tee trinken und sich über Mode u n terhalten.

Mein Name kommt über ihre Lippen. Gemma. Gemma. Sie ist gekommen, um mich zu suchen. Der Inder mit dem Turban ist direkt hinter ihr. Sie b e merkt ihn nicht. Ich rufe ihr zu, aber aus meinem Mund kommt kein Ton. Mit einer Hand stößt sie die Tür des Ladens auf und tritt ein. Ich fo l ge ihr hinein, mein Herz schlägt immer lauter und schne l ler. Sie muss doch wissen, dass der Mann hinter ihr ist. Sie muss seinen Atem hören können. Aber sie schaut nur nach vorn.

Der Mann zieht einen Dolch aus seinem Mantel, aber noch immer dreht sie sich nicht um. Übelkeit steigt in mir hoch. Ich will sie aufhalten, sie fortzi e hen. Jeder Schritt ist wie ein Tritt in die Luft, das Heben meiner Beine eine ble i erne Qual. Der Mann bleibt stehen, horcht. Seine Augen weiten sich. Er hat Angst.

Etwas lauert zusammengerollt in der dunklen Tiefe des Ladens. Es ist, als hätte die Dunkelheit selbst begonnen, sich zu bewegen. Wie ist das möglich? Aber sie tut es, mit einem unangenehmen, schlurfenden Geräusch, das mir e i nen kalten Schauer über die Haut jagt. Ein dunkles Etwas kriecht aus seinem Versteck, dehnt sich aus. Es wächst, bis es jeden Winkel des Raumes erreicht. Aus seinem Innern dringt ein grässliches Schreien und Stöhnen hervor.

Der Mann stürmt vorwärts und das dunkle Etwas stülpt sich über ihn. Es verschlingt ihn. Jetzt erhebt es sich über meiner Mutter und spricht zu ihr mit e i ner zischelnden Stimme.

»Komm zu uns, meine Schöne. Wir haben auf dich gewartet …«

Mein Schrei explodiert in mir. Mutter blickt zurück, wie Lots Weib, sieht den Dolch, der dort liegt, packt ihn. Das dunkle Etwas heult vor Wut auf. Mu t ter ist zum Kampf bereit. Sie wird es schaffen. Eine einzelne Träne rollt über ihre Wange, während sie ihre verzweifelten Augen schließt und sanft wie ein Gebet meinen Namen sagt: Gemma. Mit einer r a schen Bewegung hebt sie den Dolch und stößt ihn sich ins Herz.

Nein!

Ein gewaltiger Sog reißt mich aus dem Laden. Ich bin zurück in den Straßen von Bombay, als wäre ich nie weg gewesen, wild schreiend und um mich schlagend, worauf der junge Inder meine Arme herunterdrückt und sie fes t hält.

»Was hast du gesehen? Sags mir!«

Ich trete mit den Füßen nach ihm und winde mich unter seinem Griff. Ist hier niemand, der mir helfen kann? Was passiert hier? Mutter! Ich versuche, me i ne Gedanken unter Kontrolle zu bringen, logisch, vernünftig zu überlegen. Meine Mutter ist zum Tee bei Mrs Talbot. Ich werde hi n gehen und mich davon überzeugen. Sie wird ärgerlich sein und mich mit Sarita nach Hause schicken und es wird ke i nen Champagner geben und kein London, aber es wird mir nichts ausmachen. Sie wird lebendig und woh l auf sein und mir Vorhaltungen machen und ich we r de überglücklich sein, von ihr bestraft zu werden.

Er schreit immer noch in meine Ohren. »Hast du meinen Bruder gesehen?«

»Lass mich los!« Meine Beine haben ihre Kraft wiedergefunden und ich trete nach ihm, so fest ich kann. Ich treffe ihn an seiner empfindlichsten Stelle. Er krümmt sich vor Schmerz und ich reiße mich los und rase blindlings die Straße hinunter und um die nächste Ecke, vorwärts getri e ben von Angst. Eine kleine Menschenmenge hat sich vor einem Laden versammelt. Einem Laden, wo getrocknete Kräuter vom Dach hängen.

Nein. Das Ganze ist ein schrecklicher Albtraum. Ich werde in meinem Bett aufwachen und Vaters lau te, tiefe Stimme h ören, während er einen seiner endlosen Witze e r zählt, und danach Mutters gedämpftes Lachen.

Auf steifen, verkrampften Beinen wanke ich auf den Menschenauflauf zu und bahne mir einen Weg durch die Menge. Das Affchen des Drehorgelspielers springt vom Dach herunter, neigt seinen Kopf nach links und rechts und beäugt neugierig den am Boden liegenden Leichnam. Die Letzten, die noch vor mir sind, machen mir Platz. Ich ne h me eine Einzelheit nach der anderen wahr. Einen umg e drehten Schuh mit abgebrochenem Absatz. Eine gespreizte Hand, die Finger starr und steif. Den Inhalt einer Handt a sche verstreut im Schmutz. Einen nackten Hals, der aus dem Mieder eines blauen Kleides herausschaut. Die viel gerühmten grünen Augen offen und leer. Mutters Mund leicht geöffnet, als habe sie noch etwas sagen wollen, b e vor sie starb.

Gemma.

Eine dunkelrote Blutlache breitet sich unter ihrem leblosen Körper aus. Das Blut sickert in die staubige, rissige Erde und erinnert mich an Kali, die dunkle Göttin, die Blut vergießt und Knochen zermalmt. Ka li, die Vernichterin. Meine Schutzpatronin. Ich schließe die Augen und wü n sche mir, das alles möge sich in nichts auflösen.

Es ist nicht wahr. Es ist nicht wahr. Es ist nicht wahr.

Aber als ich die Augen öffne, ist sie immer noch da und starrt mich anklagend an. Es ist mir egal, ob du überhaupt wieder nach Hause kommst. Das war das Letzte, was ich zu ihr gesagt habe. Bevor ich weggerannt bin. Bevor sie mir gefolgt ist. Bevor ich sie in einer Vision habe sterben s e hen. Eine p lötzl i che Taubheit zieht meine Arme und Beine nach u n ten. Ich sinke zu Boden, wo das Blut meiner Mutter den Saum meines besten Kleides tränkt. Und dann bricht der Schrei, den ich bis jetzt zurückgehalten habe, aus mir heraus, ohrenbetäubend und schrill wie das Pfeifen des Zu ges. Im selben Moment öffnet sich der Himmel und ein ungeheurer Regen strömt herab, der jeden Laut erstickt.