32. Kapitel
Ich warte, bis sich die anderen zum Abendessen versam melt haben, dann stehle ich mich fort in mein Zimmer. In der zunehmenden Dunkelheit verschwimmen allmä h lich die Umrisse. Alles schrumpft bis auf sein inner s tes Wesen zusammen. Ich bin bereit. Mit geschlossenen Augen rufe ich das Tor he r bei. Der bekannte pulsierende Energiestrom fließt durch meine Adern, ich durchschreite das Tor, allein, und trete in die andere Welt ein, den Garten, wo süß du f tende Blumen rings um mich wie Asche herabri e seln.
»Mutter«, rufe ich. Meine Stimme klingt fremd und schwerfällig in meinen Ohren.
Eine leichte Brise kommt auf. Dahinter, wie Regen, der Duft von Rosenwasser. Sie kommt.
»Wo bin ich?«, ruft sie mit einem Lächeln. Ein Lächeln, das ich nicht erwidern kann. Ich kann sie nicht mal anse hen.
»Was ist los?«
Meine Mutter ist kein bisschen die Mutter, für die ich sie gehalten habe. Ich habe sie nie wirklich ge kannt. Sie ist Mary Dowd. Eine Lügnerin und eine Hexe. Eine Mörderin.
»Du bist Mary Dowd.«
Ihr Lächeln schwindet. »Du weißt es?«
Etwas in mir hatte sich an die Hoffnung geklammert, dass ich mich geirrt habe, dass sie lachen und mir sagen würde, alles wäre nur ein dummes Mis s verständnis, das jetzt aufgeklärt sei. Die Wahrheit ist schwer zu ertragen.
»Niemand kam zu dir und erzählte dir dieses und jenes über mich. Du wusstest alles. Du warst selbst ein Mitglied des Ordens. Alles, was du mir gesagt hast, war erfunden.«
Ihre Stimme ist überraschend sanft. »Nein. Nicht alles.«
Ich blinzle die Tränen fort. »Du hast mich belogen.«
»Nur um dich zu schützen.«
»Das ist noch eine Lüge.« Ich bin so voller Hass, dass es mich fast krank macht. »Wie konntest du nur?«
»Ich habe versucht, es zu vergessen, Gemma.«
»Das ist deine Entschuldigung? Du hast das kleine Mädchen in den Ostflügel gelockt. Du hast es get ö tet!«
»Ja. Und ich habe jeden Tag meines Lebens dafür gebüßt.« Ein Vogel schmettert von einem Zweig ein Aben d lied. »Alle dachten, ich sei tot, und in gewisser Weise war ich es. Mary war gestorben und an ihre Stelle trat Virginia. Ich habe mir ein neues Leben aufgebaut, mit deinem Vater und dann mit Tom und dir.«
Die Tränen fallen heiß und nass auf meine Wangen. Sie versucht, meine Hand zu nehmen, aber ich trete rasch zur Seite.
»Oh, Gemma, wie hätte ich dir sagen können, was ich getan hatte? Das ist der Fluch der Mütter, weißt du. Wir sind nie darauf vorbereitet, wie sehr wir unsere Kinder li e ben, wie sehr wir uns wünschen, wir könnten sie dadurch beschützen, d ass wir selbst vol l kommen sind.« Sie kämpft mit den Tränen. »Ich dachte, ich könnte noch einmal neu anfangen. Das alles vergessen und frei sein. Aber ich war es nicht.« Ihre Stimme hat einen Anflug von Bitterkeit. »Lan g sam wurde mir klar, dass du anders warst. Dass die lange versiegte Kraft des Ordens und des Magischen Reichs sich in dir wieder zu regen begann. Es machte mir Angst. Ich wollte dich vor dieser Bürde bewa h ren. Ich dachte, ich könnte dich davor bewahren, i n dem ich schwieg, bis die Magie vielleicht verkü m merte und wieder in die Legende einging. Für immer. Aber natürlich irrte ich mich. Wir können unserem Schicksal nicht entkommen. Und dann war es zu spät und Circe fand mich, bevor ich eine Chance hatte, dir alles zu sagen.«
»Sie ist nicht bei dem Brand ums Leben kommen.«
»Nein. Bis vor einem Jahr dachte ich es, dann kam Amar zu mir und sagte, sie nutze ihre Verbindung mit dem dunk len Geist, um uns alle zu finden. Sie hatte gehört, es gebe jemanden, der das Tor zum Magischen Reich wieder öf f nen könne. Sie wusste nur nicht, wer.« Sie lächelt mich an, aber es ist ein gequältes Lächeln.
Ich trockne meine Tränen. Zorn wächst in mir und verdrängt jedes andere Gefühl. »Schön. Du hast dir die Last von deiner Seele geschafft. Du hast mir die Wahrheit g e sagt«, spucke ich ihr ins Gesicht. »Wa rum gehst du jetzt nicht einfach und lässt mich in Ruhe?«
»Die Last meiner Seele liegt in deinen Händen«, sagt sie mit jener sanften Stimme, die mich einst in den Schlaf ge sungen hat. »Die Entscheidung liegt bei dir.«
»Was könnte ich jetzt wohl für dich tun?«
»Mir verzeihen.«
Das Schluchzen, das ich in Schach gehalten habe, bricht aus mir heraus. »Du willst, dass ich dir verzei he?«
»Nur so kann ich Frieden finden.«
»Und was ist mit mir? Glaubst du, ich werde jemals wieder Frieden finden, bei allem, was ich weiß?«
Ihre Hand berührt meine Wange. Ich pralle zurück. »Es tut mir leid, Gemma. Aber wir können nicht allzeit im Licht leben. Du musst so viel an Licht in die Dunkelheit mit hineinnehmen, wie du tragen kannst.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich habe niemals um irgendetwas von alldem gebeten und ich habe mich noch nie in meinem Leben so allein gefühlt. Ich möchte ihr we h tun.
»Du hattest unrecht mit den Kristallen. Wir haben uns zweimal ihrer Magie bedient und es ist nichts passiert.«
Ihre Augen flackern. »Ihr habt was? Ich habe dir gesagt, dass du das nicht darfst. Es ist nicht sicher, Gemma.«
»Und wenn das wieder eine deiner Lügen ist? Warum sollte ich irgendetwas glauben von dem, was du sagst?«
Sie hält erschrocken eine Hand vor ihren Mund. »Circes dunkler Geist könnte schon hier gewesen sein und eine von uns zu seinem Werkzeug gemacht haben. Gemma, wie konntest du?«
»Dasselbe könnte ich dich fragen«, sage ich, mich entfernend.
»Wohin gehst du?«
»Zurück«, sage ich.
»Gemma. Gemma!«
Ich verlasse den Garten. Die Jägerin überrascht mich. Ich habe gar nicht gehört, dass sie mir gefolgt ist, Pfeil und Bogen schussbereit in Händen.
»Das Wild ist ganz in der Nähe. Willst du mit mir jagen?«
»Ein anderes Mal«, murmle ich zwischen meinen vom Weinen salzigen Lippen.
Sie bückt sich, um ein paar Beeren zu pflücken, und steckt sich eine in den Mund. Das Büschel pen delt vor meinem Gesicht hin und her. »Möchtest du eine Beere?«
Sie weiß, dass ich die Frucht nicht essen darf. Warum bietet sie sie mir dann an?
»Nein, danke«, sage ich und gehe schneller.
Sie steht vor mir, als ob ich mich überhaupt nicht fortbewegt hätte, die Beeren in ihrer ausgestreckten Hand. »Bist du sicher? Sie sind köstlich.«
Meine Nackenhaare sträuben sich. Irgendetwas stimmt nicht.
»Tut mir leid, aber ich muss jetzt gehen«, sage ich. Doch als ich über den grünen Samt des Grasteppichs neben dem Fluss laufe, höre ich hinter mir eine dü n ne, krächzende Stimme.
»Endlich … endlich …«
Ann steht im Dunkeln an meinem Bett. »Gemma? Bist du wach?«
Ich halte die Augen geschlossen und hoffe, sie merkt nicht, dass ich immer noch weine.
Felicity und Pippa rütteln mich, bis ich gezwungen bin, mich umzudrehen und sie anzusehen.
»Gehen wir«, flüstert Felicity. »Die Höhle wartet, schönes Kind.«
»Ich fühle mich nicht gut.« Ich drehe mich zur Seite und studiere wieder die Risse in der Wand.
»Sei keine Spielverderberin«, sagt Pippa und stupst mich in die Seite.
Ich sage nichts, sondern starre weiter auf meinen Fleck an der Wand.
»Was ist bloß los mit ihr?«, schnaubt Pippa.
»Ich hab dir gesagt, du sollst die Leber nicht essen«, sagt Ann.
»Nun gut«, seufzt Felicity nach einer Weile. »Ich hoffe, du erholst dich. Aber glaub ja nicht, dass du morgen Abend auch so leicht davonkommst.«
Ich habe nicht die Absicht, noch einmal meinen Fuß in das Magische Reich zu setzen. Weder morgen noch ir gendwann sonst.