8. Kapitel

 

»Wohin gehen wir?«

Das kleine Mädchen antwortet nicht, sondern läuft los und taucht in einem Dickicht von Bäumen unter. Ihre strahlende Helli g keit weist den Weg durch die Nacht.

»Warte«, sage ich. »Nicht so schnell.«

»Wir müssen uns beeilen.«

Sie flitzt auf dem Pfad voraus. Was habe ich getan? Genau das, was ich auf keinen Fall tun sollte –neue Visionen heraufbeschwören. Aber wie konnte ich wissen, dass es willentlich funktioniert?

Wir befinden uns auf einer Art Lichtung. Vor uns erheben sich dunkle Felsen. Mit Schrecken erwarte ich, dass sie lebendig werden und ich jene grässliche Stimme aus der schmalen Gasse hören werde, aber das kleine Mädchen scheint gar nicht ängstlich zu sein. Unter einem überw u cherten Felsvorsprung liegt der Eingang zu einer Höhle verborgen. Die Kleine führt mich in die feucht riechende Dunkelheit hinein. Ihr Licht erfüllt die Höhle, trotzdem kann ich kaum etwas erkennen außer ei nem moosbewac h senen Felsbrocken.

»Hinter dem Felsen da.« Ihre Hand, hell leuchtend und klein, zeigt auf die Höhlenwand neben uns, an der ein wei terer Felsbrocken lehnt. »Sie sagt, Sie sollen dahinte r schauen .«

»Wer ist sie?«

»Mary natürlich.«

»Ich sagte dir bereits ich kenne keine Mary.«

Ich rede mit einer Vision, einem Geist. Gleich werde ich behaupten, ich sei die Königin von Rumänien, und mit ei nem umgehängten Betttuch den Waldweg entlangspazi e ren.

»Sie kennt Sie, Miss.«

Mary. Das ist bloß der häufigste weibliche Vorname in ganz England, sonst nichts. Was, wenn das Ganze nur eine Finte ist, ein Test, um zu sehen, wie ich reagiere? Er sagte, ich sei in Gefahr. Was, wenn dieses merkwürdige kleine Mädchen ein böser Geist ist, der mir etwas Schlimmes a n tun will? Was, wenn die Gutenachtgeschichten, mit denen man kleine Kinder gefügig macht –Geschichten von Gei s tern und Kobolden und Hexen –, wahr sind? Und nun bin ich hier in einer dunklen Höhle gefangen, in der Hand einer finsteren Macht, die sich als kleiner ve r irrter Kobold tarnt.

Ich schlucke schwer, aber der Kloß in meiner Kehle bleibt. »Ich glaube, ich will nicht dahinterscha u en.«

»Sie sagt, Sie müssen, Miss. Es ist die einzige Möglichkeit, damit Sie verstehen, was mit Ihnen g e schieht.«

Ich habe keine Ahnung, wovon sie redet. Ich weiß nur, dass ich ihr nicht unbedingt den Rücken zukeh ren möchte.

»Warum holst du es dann nicht?«

Sie schüttelt den Kopf. »Sie sagt, Sie müssen es selbst finden. Das gehört zu den Regeln.«

Mich friert und ich bin müde und nicht in der Stimmung für ein weiteres Rätsel. »Bitte, ich verste he kein Wort. Sag mir einfach, was das alles bede u tet.«

»Sie sollten sich beeilen, Miss.« Die großen braunen Augen huschen zum Eingang der Höhle und wieder zu rück. Mich schaudert bei dem Gedanken, vor was dort draußen in der Dunkelheit sie Angst haben könnte.

Was auch geschieht, ich kann hinterher nicht weniger verstehen, als ich jetzt verstehe. Der Felsbrocken ist mas siv, aber nicht unbeweglich. Mühsam schiebe ich ihn weg. Da ist ein Loch in der Höhlenwand, ungefähr eine Armlä n ge tief. Mein Herz rast, während sich meine Finger in den kalten, rauen Felsen hineintasten. Gott weiß, was da dri n nen heru m kriecht, und ich muss mir auf die Lippen beißen, um einen Schrei zu unterdrücken. Mein Arm steckt bis zur Schulter darin, als ich auf etwas Hartes stoße. Es sitzt fest und ich muss mit aller Kraft ziehen, um es ans Licht zu bringen. Es ist ein in Leder gebundenes Tagebuch. Ich schlage die erste Seite auf. Erdkrümel rieseln heraus. Im Ledereinband steckt ein Briefk u vert. Das Papier raschelt in meinen Fingern, als ich eines der losen Blätter herausziehe.

 

Was erschreckt Dich?

Was lässt Dir die Haare auf Deinen Armen zu Berge stehen, Deine Handflächen schwitzen, den Atem in Deiner Brust stocken ?

Ist es die Dunkelheit? Eine flüchtige Erinnerung an eine Gutenachtgeschichte mit Geistern und Kobolden und He xen, die sich in den Schatten verstecken ? Ist es das Au f kommen des Windes vor einem Sturm, ein Hauch von Feuchtigkeit in der Luft, dass Du am liebsten die Beine in die Hand nehmen und so schnell wie möglich nach Hause rennen möchtest in den Schut2 Deines Kaminfeuers?

Oder ist es etwas Abgründigeres, weitaus Erschrecke n deres, ein Monster tief im Innern, das Du nur stückweise erhascht hast, das weite Land Deiner Seele, wo Geheimni s se sich mit einer furchtbaren Macht verbinden, dem Unb e wussten.

Wenn Du bereit bist zuzuhören, will ich Dir eine Geschichte erzählen –eine, deren Geister nicht durch ein knisterndes Feuer gebannt werden können. Ich will Dir die Geschichte erzählen, wie wir uns in einem Reich gefunden haben, wo Träume wahr werden, das Schicksal sich en t scheidet und die Magie so wirklich ist wie Dein Fußa b druck im Schnee. Ich will Dir erzählen, wie wir selbst die Büchse der Pandora geöffnet haben, wie wir Freiheit g e kostet, Blutschuld auf uns geladen und die Welt in Angst und Schrecken versetzt haben, bis unser Orden völlig ze r stört war. Diese Seiten sind ein Geständnis all dessen, was zu diesem kalten, grauen Dämmerlicht geführt hat. Was nun geschehen wird, weiß ich nicht.

Klopft Dein Herz rascher?

Scheint es Dir, als würden sich die Wolken am Horizont zusammenballen?

Fühlt sich die Haut in Deinem Nacken an, als warte sie auf einen Kuss, den Du ebenso fürchtest wie herbeisehnst?

Willst Du dem Schrecken ins Auge sehen?

Willst Du die Wahrheit wissen:

Mary Dowd, 7. April 1871

 

Ist das die Mary, die meint, mich zu kennen? Ich kenne keine Mary Dowd. Mein Kopf tut weh und ich friere nur in meinem Nachthemd hier draußen.

»Sag Mary, sie soll mich in Ruhe lassen. Ich will von ihrem merkwürdigen Reich nichts wissen.«

»Sie könnte Ihnen sogar den Weg dorthin zeigen.«

»Nun, ich bin nicht gewillt zu folgen! Verstanden, Mary Dowd?« Ich brülle aus Leibeskräften, bis das Echo von den Wänden der Höhle in meinen Ohren widerhallt. Auf diese Weise gelingt es mir, die Vis i on abzuschütteln. Ich stehe allein in der Höhle, das Tagebuch in meinen Händen.

 

 

Das Leben von Mary Dowd liegt auf meinem Bett und verspottet mich. Ich könnte es verbrennen. Ich könnte es z u rücktragen und vergraben. Aber dafür ist meine Neugier zu groß. Ich zünde eine Kerze an, stelle sie auf das Fenste r brett und lese in dem schw a chen Licht, so viel ich kann. Ich entdecke, dass Mary Dowd im Jahr 1871 sechzehn ist. Sie liebt Waldsp a ziergänge, vermisst ihre Familie, wünscht, sie hätte eine schönere Haut. Ihre beste Freundin ist ein Mädchen namens Sarah Rees-Toome, »das beza u berndste und tugendhafteste Mädchen auf der Welt«. Sie sind wie Schwestern, u nzertrennlich. Ich bin eifersüchtig auf ein Mädchen, das ich nie gekannt habe. Die er s ten zwanzig Seiten des Tagebuchs sind, alles in a l lem, von quälender Langeweile und ich verstehe nicht, warum das kleine Mädchen wollte, dass ich es habe. Der Schlaf droht mich zu überwältigen, meine Augenlider flattern und mein Kopf sinkt mir auf die Brust. Also lege ich das Tagebuch ganz nach hinten in den Kleiderschrank zu Vaters Kricke t schläger. Und dann verbannt es der Schlaf aus meinen Ge da n ken.

Ich träume von meiner Mutter. Sie streicht mit sanften Händen mein Haar zurück, ihre warmen Finger durch kämmen es wie Sonnenlicht, machen mich glücklich und zufrieden. Ihre Arme umfangen mich, aber ich schlüpfe aus der Umarmung in die Ruinen eines alten Tempels. Am Fu ße eines mit tiefgrünen Weinreben überwucherten Altars gleiten Schlangen dahin. Ein heftiger Sturm kommt auf, dicke Wolken verdunkeln den Himmel. Mutters Gesicht ist angs t verzerrt. Plötzlich nimmt sie ihre Halskette ab und wirft sie mir zu. Die Kette hängt in der Luft, b e schreibt langsame Spiralen, bis sie in meinen Händen landet, wobei die scharfe Kante des silbernen Auges in meine Handfläche schneidet. Blut sickert aus der Wunde. Als ich hochblicke, schreit mir Mutter durch den Sturm etwas zu. Das Heulen des Windes übe r tönt es fast vollständig. Aber ein Wort dringt deutlich an mein Ohr.

Lauf.