15. Kapitel
»Ich kann nicht glauben, dass er mir rote Nelken g e schenkt hat. Wisst ihr, was das in der Sprache der Blumen bede u tet? Bewunderung! ›Ich bewundere Sie.‹ Das ist genau das Richtige, um das Herz eines Mädchens zu gewinnen.« Pi p pa zerfetzt die Nelken eine nach der a n deren und streut das blutige Gemetzel über den Hö h lenboden.
»Ich finde Nelken sehr schön«, sagt Ann.
»Ich bin siebzehn! Meine Debütantinnen-Saison hat gerade erst begonnen. Ich habe die Absicht, sie zu genießen und nicht den erstbesten pickeligen alten Winkeladvokaten zu heiraten, der Geld hat.« Pippa zerpflückt die letzte Ne l ke in ihrer Hand, bis nur ein kahler Stängel zurückbleibt.
Ich habe bis jetzt kein Wort gesagt. Ich kaue noch immer an dem boshaften Brief von heute Vormittag und daran, dass Felicity einen von Pippas neuen Handschuhen trägt und Pippa den anderen, wie Wahrzeichen ihrer Freun d schaft.
»Warum hat es deine Mutter denn so eilig, dich zu verheiraten?«, fragt Ann.
»Sie will nicht, dass jemand erfährt …« Pippa hält er schrocken inne.
»Dass jemand was erfährt?«, frage ich.
»Was sie bekommen, bevor es zu spät ist.« Sie wirft die Blumenstängel zu Boden.
Ich habe keine Ahnung, was sie meint. Pippa ist schön. Und ihre Familie mag dem Kaufmannsstand angehören, aber sie sind wohlhabend und angesehen. Außer dass sie eitel, gehässig und ein Opfer romant i scher Verblendung ist, ist Pippa in Ordnung.
»Was macht man, wenn man sich mit einem Rechtsanwalt trifft?«, fragt Ann. Sie zeichnet mit einer geköpften Nelke kleine Kreuze in den Staub.
Pippa seufzt. »Ach, im Allgemeinen ist’s immer das Gleiche. Man muss ihnen schöne Augen machen. Wenn sie dir dann in aller Ausführlichkeit einen Rechtsfall geschi l dert und dich damit zu Tode g e langweilt haben, musst du die Augen niederschlagen und etwas sagen wie: ›Mein Gott, ich hatte ja keine Ahnung, dass die Rechtswisse n schaft so faszinierend sein kann, Mr Bumble. Aber so wie Sie das erzählen, ist es spannend wie ein Roman! ‹«
Wir biegen uns vor Lachen. »Nein! Das hast du nicht wirklich gesagt!«, ruft Felicity.
Pippa schüttelt ihre Niedergeschlagenheit ab. »O doch, das habe ich! Und wie findet ihr das?« Sie klimpert mit den Wimpern und setzt eine reizende, schüchterne Miene auf. »Nun ja, vielleicht könnte ich ein Stückchen Schokolade vertragen …«
Ich muss darüber lachen, ob ich will oder nicht. Wir alle wissen, dass Pippa eine heimliche Nasch katze ist.
»Ein Stückchen Schokolade?«, ruft Felicity. »Mein Gott, wenn er sehen könnte, wie du eine ganze Schachtel Sahne bonbons verdrückst, wäre er schockiert ! Nach deiner Hochzeit wirst du sie in de i nem Boudoir verstecken und in dich reinstopfen müssen, wenn er nicht hinschaut.«
Pippa kreischt und tut so, als würde sie Felicity mit dem Nelkenstängel verprügeln. »Du bist unmög lich ! Ich werde Mr Bumble auf keinen Fall heiraten. Du lieber Himmel, ein Mann namens Bumble ! Das allein ist schon ein Fluch fürs Leben !«
Felicity rückt außer Reichweite des Nelkenstängels. »O doch, du wirst ihn heiraten ! Er hat inzw i schen viermal um dich angehalten. Ich wette, deine Mutter bereitet schon die Hochzeit vor, während wir uns hier unterhalten !«
Pippas Lachen bleibt ihr im Hals stecken. »Das glaubst du nicht wirklich, stimmt’s?«
»Nein«, sagt Felicity rasch. »Nein, es war nur ein schlechter Scherz.«
»Ich möchte aus Liebe heiraten. Ich weiß, das ist dumm, aber ich kann’s nicht ändern.«
Pippa sieht plötzlich so klein aus, während sie da zwischen ihren verstreuten Blütenblättern sitzt, dass ich fast vergesse, wie wütend ich auf sie bin. Ich kann nie lange auf jemanden böse sein.
Felicity hebt mit einem Finger Pippas Kinn hoch. »Und das wirst du auch. Lasst uns jetzt zur Tagesordnung über gehen. Pip, willst du nicht die Zerem o nie leiten?«
Sie holt den Whiskey wieder hervor. Ich stöhne innerlich.
Als die Flasche bei mir ankommt, setze ich sie mit Todesverachtung an die Lippen und stelle fest, dass es nicht so schlimm ist, wenn man kleine Schlüc k chen nimmt. Diesmal trinke ich gerade nur so viel, dass ich mich warm und leicht fühle, keinen Tropfen mehr.
»Wir müssen eine Lesung aus dem Tagebuch unserer Schwester, Mary Dowd, abhalten. Gemma, willst du heute Nacht diese ehrenvolle Aufgabe übernehmen?« Mit einer Verbeugung überreicht mir Felicity das Tagebuch. Ich räuspere mich und begi n ne.
21. März 1871 Heute standen wir zwischen den Ru nen des Orakels. Unter Eugenias Leitung berüh r ten wir sie einen kurzen Moment lang mit den Fi n gern und überließen uns der Macht der Magie. Das Ge fühl war überwältigend. Es war, als könnte jede von uns die geheimsten Gedanken der anderen lesen, als wären wir ein und dasselbe Wesen.
Felicity zieht eine Augenbraue hoch. »Klingt ziemlich verdächtig. Mary und Sarah sind wahrscheinlich Sapphieri n nen .«
»Was zum Teufel sind Sapphierinnen?«, fragt Pippa gelangweilt, wieder ganz sie selbst. Sie wickelt die Enden ihrer dunkelbraunen Ringellocken um ihren unbehan d schuhten Finger.
»Muss man dir alles erklären?«, fragt Felicity spöttisch.
Auch ich habe keine Ahnung, was Sapphierinnen sind, aber ich werde mich hüten, das zuzugeben.
»Von Sappho, einer griechischen Dichterin, die sich der Liebe zu Frauen hingab.«
Pippa hört auf zu wickeln. »Was soll das nun wieder heißen?«
Felicity schenkt Pippa einen tiefgründigen Blick. »Sapphierinnen geben in der Liebe Frauen den Vo r zug vor Männern.«
Jetzt habe ich verstanden und auch Ann hat es offensichtlich kapiert, sonst würde sie nicht so nervös ihre Rö cke glatt streichen und ängstlich vermeiden, jemanden a n zusehen. Pippa fixiert Felicity, als kön n te sie den Sinn des Gesagten von ihrer Stirn ablesen. Dann steigt ihr langsam Röte in die Wangen und sie stöhnt: »O mein Gott, du kannst nicht allen Ernstes meinen, dass … dass sie … wie Mann und Frau …?«
»Ja, genau.«
Pippa ist wie betäubt. Die Röte weicht nicht aus ihrem Gesicht und von ihrem Hals. Auch ich bin schockiert, aber ich lasse es mir nicht anmerken. »Kann ich bitte weiterl e sen?«
Die Zigeuner sind heute zurückgekommen und haben ihr hager aufgeschlagen. Als wir den Rauch von ihrem Feuer sahen, sind Sarah und ich hingelaufen, um Mutter Elena aufzusuchen.
»Mutter Elena?«, stößt Ann hervor.
»Die Verrückte mit dem zerfetzten Kopftuch?« Pippa rümpft angeekelt die Nase.
»Schhh! Lies weiter«, sagt Felicity.
Sie empfing uns freundlich mit Kräutertee und Erzählungen von ihren Reisen. Wir gaben Carolina Bonbons, die sie gierig verschlang. Mutter Elena g a ben wir fünf Pence. Und dann versprach sie, uns die Karten zu legen, wie sie es schon früher ge t an hatte. Aber kaum hatte sie Sarahs Ka r ten in der üblichen kreuzförmigen Anordnung aufgedeckt, hielt sie inne und schob die Karten wieder zu einem Stop zusa m men. »Die Karten haben heute schlechte Laune«, sagte sie mit einem schmalen Lächeln, aber in Wir k lichkeit schien sie von einer bösen Vorahnung erfüllt zu sein. Sie bat mich, meine Handfläche vorzuzeigen, und zeichnete mit ihrem spitzen Fingernagel die Li nien meiner Hand nach. »Du bist auf einer dunklen Reise«, sagte sie, meine Hand wie einen heißen Stein fallen lassend. »Ich sehe nicht, w o hin sie führt.« Dann bat sie uns ganz abrupt, wieder zu g e hen, weil sie im Lager nach dem Rechten sehen müsse.
Ann schielt über meinen Arm und versucht vorauszulesen. Ich ziehe das Buch weg, mit dem Erfolg, dass es mir aus den Händen rutscht und die losen Blätter herausfla t tern.
»Bravo, damit kannst du im Zirkus auftreten!«, ruft Feli city Beifall klatschend.
Ann hilft mir, die Blätter wieder aufzusammeln. Jede Unordnung ist ihr ein Gräuel. Ein Stück ihres Unterarms ist entblößt. Ich kann die roten kreuzstichartigen Striemen s e hen, frisch und zornig. Das war kein Unfall. Ann fügt sich diese Wunden selbst zu. Sie bemerkt meinen Blick und zerrt an ihrem Ärmel, um ihr Geheimnis zu bedecken.
»Nun komm schon«, sagt Felicity ungeduldig. »Was wird uns das Tagebuch von Mary Dowd heute Nacht noch enthül len?«
Ich greife eine Seite heraus. »Also gut«, sage ich. Es ist nicht die Seite, mit der wir aufgehört haben, aber egal.