3. Kapitel

 

»Victoria Station!«

Ein stämmiger Schaffner in einer blauen Uniform geht von Abteil zu Abteil und verkündet, dass wir gleich in London ankommen werden. Der Zug wird lan g samer. Dichte Dampfwolken ziehen in Schwaden am Fen s ter vorbei und lassen alles draußen wie einen Traum e r scheinen.

Mein Bruder Tom, auf dem Platz mir gegenüber, wacht auf, streicht seine schwarze Weste glatt und prüft penibel, ob seine Kleidung in Ordnung ist. In den vier Jahren, die wir getrennt w a ren, ist er sehr in die Höhe geschossen und seine Brust ist ein wenig breiter geworden, aber er ist i m mer noch dünn und mit seiner blonden Haarlocke, die ihm modisch über seine blauen Augen fällt, wirkt er jünger als zwanzig. »Mach kein so finsteres Ge sicht, Gemma. Du wirst nicht ins Zuchthaus gesteckt. Spence ist eine sehr g u te Schule und steht in dem Ruf, bezaubernde junge Damen hervorzubringen.«

Eine sehr gute Schule. Bezaubernde junge Damen. Es ist Wort für Wort das, was meine Großmutter sag te, nachdem wir zwei Wochen auf Pleasant House, ihrem englischen Landsitz, verbracht hatten. Sie hat te mich mit einem la n gen, zwei f el nden Blick b e trachtet, meine sommersprossige Haut und die widerspenstige Mähne roten Haars, mein ve r drießliches Gesicht, und war zu dem Schluss gekommen, ein anständiges Mädchenpensionat mü s se her, wollte ich je auf eine passende He i rat hoffen. »Ein Wunder, dass du nicht schon vor Jahren nach Hause geschickt wurdest«, meinte sie. »Jeder weiß, dass das Klima in Indien schlecht fürs Blut ist. Ich bin sicher, das wäre auch der Wunsch de i ner Mutter gewesen.«

Ich hätte sie gern gefragt, wie sie wissen könne, was der Wunsch meiner Mutter war, aber ich biss mir auf die Zun ge und unterdrückte die Frage. Meine Mutter wollte, dass ich in Indien blieb. Ich wollte unbedingt nach London und jetzt, wo ich hier bin, könnte ich gar nicht unglücklicher sein.

Drei Stunden lang, während der Zug auf seiner Fahrt durch grünes, hügeliges Weideland Meile um Meile zu rücklegte und der Regen eintönig gegen die Fenstersche i ben prasselte, hatte Tom geschlafen. Und ich hatte an das gedacht, was ich zurückgelassen hatte. Die heiße Ebene Indiens. Die Fragen der Polizei: Hatte ich jemanden ges e hen? Hatte meine Mutter Feinde? Was hatte ich allein auf der Straße gemacht? Und was war mit dem Mann, der sie auf dem Mark t platz angesprochen hatte –ein Kaufmann namens Amar? Kannte ich ihn? Waren er und meine Mu t ter (und dabei blickten sie verlegen drein und traten von einem Fuß auf den anderen, während sie nach einem Wort suchten, das nicht zu taktlos war) »alte Be kannte«?

Wie konnte ich ihnen sagen, was ich gesehen hatte? Ich wusste ja selbst nicht, was ich glauben sollte.

An den Fenstern des Zugs rattert immer noch die blühende englische Landschaft vorbei. Aber das Rü t teln des Waggons erinnert mich an das schaukelnde Schiff, das uns von Indien herbrachte. Die Küste Englands, die wie eine Warnung Gestalt annimmt. Meine Mutter, tief begraben in der kalten, unbar m herzigen Erde Englands. Mein Vater, mit glasigem Blick auf den Grabstein starrend –Virginia Doyle, geliebte Gattin und Mutter –, durch ihn hindurc h schauend, als könnte er allein durch seinen Willen das Ge schehene ungeschehen machen. Und da es nicht gelang, zog er sich in sein Arbeitszimmer zu der Laudanumflasche zurück, die seine ständige Begleiterin geworden war. Manchmal fand ich ihn schlafend in seinem Sessel, die Hunde zu seinen Fü ßen, die braune Flasche in Reichweite, der schwere Atem mit einem süßlichen Arzneigeruch g e tränkt. Dieser einst große, kräftige Mann war dünner g e worden, abgemagert durch Kummer und Opium. Und ich, die ich an allem schuld war, musste untätig zusehen, hilflos und stumm. Die Trägerin eines Geheimnisses, so schrec k lich, dass ich Angst hatte, überhaupt zu sprechen. Ich fürchtete, es könnte wie Kerosin aus mir herausfließen und jeden verbrennen.

»Du grübelst schon wieder«, sagt Tom und sieht mich misstrauisch an.

»Tut mir leid.« Ja, es tut mir leid, unendlich leid, alles.

Tom stößt die Luft aus, lange und heftig, und verleiht seiner Stimme den nötigen Nachdruck. »Es braucht dir nicht leidtun. Hör schon auf damit.«

»Ja, leid«, sage ich, ohne zu denken. Ich berühre das Amulett. Es hängt jetzt um meinen Hals, eine Erinnerung an meine Mutter und an meine Schuld, verborgen unter dem steifen schwarzen Krepp me i nes Trauerkleids, das ich nun sechs Monate lang tr a gen werde.

Durch den sich lichtenden Nebel vor unserem Fenster sehe ich die Gepäckträger am Zug entlangei len, mit den Wagen Schritt haltend, bereit, Holztreppen an die geöffn e ten Türen zu schieben, damit wir aussteigen können. En d lich kommt unser Zug äc h zend und mit einem Schwall von Dampf zum Halten.

Tom steht auf und streckt sich. »Los. Gehen wir, bevor alle Träger vergeben sind.«

 

 

Victoria Station der Bahnhof mit seiner Betrieb samkeit raubt mir den Atem. Auf dem Bahnsteig wimmelt es von Menschen. Am weit entfernten Ende des Zuges klettern die Passagiere der dritten Klasse heraus, ein Knäuel aus Armen und Beinen. Koffe r träger schleppen das Gepäck und Pakete für die Pa s sagiere der ersten Klasse. Zeitungsjungen halten die Tageszeitungen mit den sensationellsten Schlagze i len hoch in die Luft. Blumenverkäuferinnen gehen am Zug entlang, mit einem Lächeln auf dem Gesicht, das ebenso hart und abgenutzt wirkt wie die hölze r nen Tabletts, die sie vor sich hertragen. Ein Mann mit einem unter den Arm g e klemmten Regenschirm saust so knapp an mir vorbei, dass er mich fast über den Haufen rennt.

»Verzeihung«, murmle ich ärgerlich. Er nimmt keine Notiz von mir. Als ich einen Blick zum Ende des Bah n steigs werfe, erspähe ich etwas Seltsames. Einen weiten schwarzen Mantel, der mein Herz schneller schlagen lässt. Mein Mund wird trocken. Es kann unmöglich sein, dass er hier ist. Dennoch bin ich s i cher, dass er es ist, der soeben hinter einem Kiosk verschwindet. Ich versuche, näher zu ko m men, aber das Gedränge ist zu groß.

»Wo willst du hin?«, fragt Tom, als ich wie wild gegen den Strom ankämpfe.

»Ich will mich nur umsehen«, sage ich und hoffe, dass er die Angst in meiner Stimme nicht bemerkt. Ein Mann kommt hinter dem Kiosk hervor, mit einem Bündel Ze i tungen auf der Schulter. Sein Mantel, schwarz und ein paar Nummern zu groß, hängt wie ein weiter Umhang an ihm. Ich lache fast vor Er leichterung. Siehst du, Gemma? Du fängst an, dir Dinge einzubilden. Lass es gut sein.

»Wenn du dich schon umsehen willst, dann schau, ob du einen Träger für uns findest. Weiß der Teufel, wo die alle so schnell hin sind.«

Ein magerer Zeitungsjunge, der gerade vorbeikommt, bietet uns an, für zwei Pence eine schöne Droschke zu be sorgen. Mühsam schleppt er den Koffer mit meinen wenigen irdischen Habseligkeiten: eine Handvoll Kle i der, das Tagebuch meiner Mutter, ein roter Sari, ein g e schnitzter indischer Elefant und der geliebte Kricke t schläger meines Vaters, eine Er innerung an ihn aus glücklicheren Tagen.

 

 

Tom hilft mir in den Wagen und der Kutscher lässt die imposante, feine Dame namens Victoria Station hinter sich und rollt klipp-klapp dem Herzen von London entgegen. Die Luft ist trüb, geschwängert vom Rauch der Gaslate r nen, die die Straßen Londons säumen. Das neblige Grau taucht den späten Nac h mittag bereits in ein Dämmerlicht. Alles Mögliche könnte sich auf solch dunklen Straßen von hinten an einen heranschleichen. Ich weiß nicht, wieso ich das denke, aber ich tu ’s.

Über den düsteren Umrissen der Schornsteine ragen die nadeldünnen Türme des Parlamentsgebäudes hervor. Unten auf der Straße buddelt ein Trupp Mä n ner schweißgebadet tiefe Gräben in das Kopfstei n pflaster.

»Was tun die da?«

»Sie legen Leitungen für elektrisches Licht«, antwortet Tom und hustet dabei in ein weißes Taschen tuch, das in einer Ecke sein schwarz eingesticktes Monogramm trägt. »Das Gaslicht wird bald der Ve r gangenheit angehören und damit auch diese Hust e rei.«

Händler mit ihren Karren, von denen sie mit ihrem speziellen, unverwechselbaren Ruf –Scharfe Messer, frische Fische, Äpfel, saftig und süß –kommen Sie, schauen Sie, probieren Sie! –ihre Waren feilbieten, bevölkern die Str a ßen. Milchmädchen tragen die letzte Milch des Tages aus. Auf merkwürdige Weise erinnert die gesamte Szenerie an Indien. Die Scha u fenster der Läden locken mit allem, was man sich nur vorstellen kann –Tee, Wäsche, Porzellan und schöne Kleider nach der neuesten Pariser Mode. Ein Schild an einem Fens t er im zweiten Stock bietet Büroräume zur Vermietung an; Auskünfte im Haus. Fahrräder sausen an den vielen zweirädrigen Droschken auf den Straßen vorbei. Ich klammere mich fest für den Fall, dass das Pferd scheut, aber die Mähre, die uns zieht, scheint vollkommen unint e ressiert. Sie kennt das alles schon, im Unterschied zu mir.

Ein Omnibus, gedrängt voll mit Passagieren, überholt uns, gezogen von einem Gespann prächtiger Pferde. In den Sitzen auf dem Oberdeck hockt eine Gruppe feiner Damen. Um der Schicklichkeit Gen ü ge zu tun, verdeckt eine lange Holzlatte mit einer Seifenreklame die Knöchel der Damen. Der Anblick ist unbeschreiblich und weckt in mir den Wunsch, einfach immer weiter durch die Straßen von Lo n don zu kutschieren und die Atmosphäre in mich aufzune h men, die ich nur von Fotografien kenne. Männer in dun k lem Anzug und Melone treten aus Amtsg e bäuden, um nach Dienstschluss zufrieden den Heimweg anzutreten. Ich s e he die weiße Kuppel der Sankt-Pauls-Kathedrale, die sich über den rußg e schwärzten Dächern erhebt. Ein Plakat lädt zu einer Aufführung von »Macbeth« mit der amerikan i schen Schauspielerin Lily Trimble ein. Sie ist atembera u bend, mit ihrem offenen, wilden kastanienbraunen Haar und dem roten, schamlos tief ausgeschnittenen Kleid. Ich bin neugierig, ob die Mädchen in Spence genauso reizend und unbefangen sein werden.

»Lily Trimble ist sehr schön, nicht wahr?«, sage ich, um ein wenig Konversation mit Tom zu machen. Ein Fehl schlag, wie sich zeigt.

»Eine Schauspielerin«, entgegnet Tom verächtlich. »Was für eine Art von Leben ist das für eine Frau, ohne ein Zuhause, ohne Ehemann und ohne Kinder? Als sei sie ihr eigener Herr und Meister. Mit Siche r heit wird sie in der Gesellschaft nie als eine richtige Dame akzeptiert werden.«

Das kommt davon, wenn man Konversation machen will.

Einerseits möchte ich Tom für seine Überheblichkeit einen Tritt gegens Schienbein verpassen. And e rerseits muss ich leider zugeben, dass es mich bre n nend interessiert, was Männer bei einer Frau suchen. Mein Bruder mag arrogant und aufgeblasen sein, aber er weiß gewisse Dinge, die für mich von Nutzen sein könnten.

»Ich verstehe«, sage ich leichthin, als wollte ich mich erkundigen, was einen hübschen Garten aus macht. Ich bin taktvoll. Höflich. Damenhaft. »Und was macht eine richt i ge Dame aus?«

Mit einem Gesicht, als hätte er eine Pfeife im Mund, antwortet er: »Ein Mann möchte eine Frau, die ihm das Leben leicht macht. Sie soll attraktiv sein, wohlerzogen, sie soll etwas von Musik, Malerei und der Haushaltsführung verstehen, vor allem aber soll sie Unannehmlichkeiten von ihm fernhalten und niemals die Aufmerksamkeit auf sich selbst lenken.«

Das kann doch nur ein Scherz sein. Bestimmt wird er im nächsten Moment lachen und sagen, dass er einen Spaß gemacht hat, aber das selbstgefällige Lä cheln weicht nicht aus seinem Gesicht. Ich denke nicht daran, diese Beleid i gung unwidersprochen hi n zunehmen. »Mutter war Vater ebenbür t ig«, sage ich kühl. »Er erwartete nicht, dass sie wie ein unterwü r figes, willenloses Dummchen hinter ihm ging.«

Toms Lächeln schwindet. »Genau. Und du siehst, wohin es uns gebracht hat.« Dann herrscht wieder Schweigen. Draußen vor den Fenstern der Droschke rollt London vo r über. Tom wendet sein Gesicht von mir ab und schaut hi n aus. Zum ersten Mal nehme ich seinen Schmerz wahr, e r kenne ihn daran, wie er sich mit den Fingern durchs Haar fährt, ein ums andere Mal, und ich verstehe, was es ihn kostet, all das zu verbergen. Aber ich weiß nicht, wie ich dieses b e drückende Schweigen durchbrechen kann, und so fahren wir weiter, alles aufmerksam betrachtend, o h ne viel zu sehen, ohne zu reden.

»Gemma …«, Tom setzt zum Sprechen an. Er kämpft mit sich, irgendetwas brodelt in ihm und will heraus. »An jenem Tag mit Mutter … warum zum Teufel bist du we g gelaufen? Was hast du dir dabei gedacht?«

Meine Stimme ist ein Flüstern. »Ich weiß es nicht.« Auch wenn es stimmt, so ist es doch keine befriedigende Antwort.

»Die weibliche Unlogik.«

»Ja«, sage ich, nicht weil ich ihm zustimme, sondern weil ich ihm entgegenkommen will, irgendwie. Ich sage es, weil ich möchte, dass er mir verzeiht. Vielleicht könnte ich dann anfangen, mir selbst zu verzeihen. Vielleicht.

»Kanntest du diesen …«, er beißt sich an dem Wort fest, »Mann, den sie mit ihr ermordet aufg e funden haben?«

»Nein«, flüstere ich.

»Sarita sagt, du seist hysterisch gewesen, als sie und die Polizei dich fanden. Du hättest andauernd von einem ind i schen Jungen geredet und einer Vision von … von irgen d was.« Er schweigt und reibt die Handflächen an seiner Ho se. Er sieht mich noch i m mer nicht an.

Meine Hände zittern in meinem Schoß. Ich könnte es ihm sagen. Ich könnte ihm sagen, was ich bisher fest in mir verschlossen habe. Jetzt, in diesem Moment, mit dieser Haarlocke, die ihm in seine Augen fällt, ist er der Bruder, den ich vermisst habe, der mir einstmals Steine aus dem Meer gebracht hat und b e hauptete, es seien Juwelen eines Radschas. Ich möchte ihm sagen, dass ich Angst habe, langsam ve r rückt zu werden, und dass mir nichts mehr vollko m men real erscheint. Ich möchte ihm von der Vision erzählen, möchte, dass er mir auf diese ungelenke Art den Kopf streichelt und dass alles eine völlig einleuchtende medizinische Erklärung findet. Ich möc h te ihn fragen, ob es sein kann, dass ein Mädchen von Geburt an nicht li e benswert ist , oder ob es erst im Laufe der Zeit so wird. Ich möchte, dass er alles e r fährt und dass er versteht.

Tom räuspert sich. »Was ich sagen wollte, ich meine, ist dir etwas passiert? Hat er bist du ganz in Ordnung?«

Ich schlucke die Worte, die ich schon fast auf der Zunge hatte, wieder hinunter. »Du möchtest wissen, ob ich noch unberührt bin.«

»Wenn du es so direkt ausdrücken willst, ja.«

Jetzt erkenne ich, wie lächerlich es von mir war zu glauben, er möchte wissen, was wirklich geschehen ist. Es geht ihm ausschließlich darum, dass ich der Familie nicht i r gendwie Schande bereitet habe. »Ja, ich bin, um deine Au s drucksweise zu gebrauchen, ganz in Ordnung.« Über eine solche Lüge kann ich nur lachen –selbstverständlich bin ich nicht in Ordnung. Aber es funkti o niert, genau wie ich es erwartet habe. So ist das Leben in der feinen Gesel l schaft –eine einzige, große Lüge. Eine Illusion, wo jeder wegschaut und so tut, als würde überhaupt nichts Unang e nehmes existieren, keine finsteren Dämonen, keine Seele n pein.

Tom strafft erleichtert seine Schultern. »Dann ists ja gut.« Der Augenblick einer menschlichen Regung ist vo r bei und er hat sich wieder voll unter Kontrolle. »Gemma, der Mord an Mutter ist eine Schande für unsere Familie. Es wäre ein Skandal, wenn die Wahrheit bekannt würde.« Er starrt mich an. »Mutter ist an der Cholera gestorben«, sagt er mit Nachdruck, als würde er die Lüge jetzt selbst gla u ben. »Ich weiß, du bist damit nicht einverstanden, aber als dein Br u der sage ich dir, je weniger darüber geredet wird, desto besser. Es ist zu deinem eigenen Schutz.«

Er lässt nur seinen Verstand sprechen, nicht sein Herz. Seine Vernunft wird ihm später als Arzt von Nutzen sein. Ich weiß, dass er recht hat, aber ich ha s se ihn dafür, ich kann nicht anders. »Bist du sicher, dass es mein Schutz ist, um den du dir Sorgen machst?«

Sein Unterkiefer versteift sich wieder. »Diese letzte Bemerkung will ich überhört haben. Wenn du schon nicht an mich denkst und an dich selbst, so denk an Vater. Er ist ein gebrochener Mann, Gemma. Es ist nicht zu übersehen. Die Umstände von Mutters Tod haben ihn zugrunde gerichtet.« Er z upft an den Manschetten seines Hemds. »Wahrschei n lich weißt du, dass Vater in Indien einige sehr schlechte Gewohnheiten angenommen hat. Mit den Indern Wasse r pfeife zu rauchen, mag ihn zu einem beliebten Geschäft s mann gemacht haben, aber es war seiner Ge sundheit nicht zuträglich. Er hat sich immer ganz dem Genuss hingeg e ben. Der Flucht aus dem Al l tag.«

Vater kam meistens spät und völlig erschöpft von seinen Tagesgeschäften nach Hause. Ich erinnere mich, wie Mut ter und die Dienstboten ihn zu Bett gebracht haben –oft, nicht nur gelegentlich. Trot z dem tut es weh, das zu hören. Ich hasse Tom dafür, dass er mir das sagt. »Warum lässt du dann zu, dass er das Laudanum trinkt?«

»An Laudanum ist nichts auszusetzen. Es ist Medizin«, entgegnet er hitzig.

»In Maßen …«

»Vater ist nicht süchtig. Vater doch nicht«, sagt er, als müsse er ein Geschworenengericht überzeugen. »Er wird sich erholen, jetzt wo er wieder in England ist. Bloß denk daran, was ich dir gesagt habe. Kannst du mir wenigstens so viel versprechen? Bitte?«

»Ja, klar«, sage ich und fühle mich innerlich tot. Die in Spence wissen nicht, was sie erwartet, wenn sie mich bei sich aufnehmen, den Geist eines Mä d chens, das nicken und lächeln und seinen Tee trinken wird, aber nicht wirklich da ist.

Der Kutscher ruft uns zu: »Sir, der Weg führt durchs East, falls Sie die Vorhänge zuziehen wol len.«

»Was meint er damit?«, frage ich.

»Wir müssen durchs East End fahren. Meine Güte, die Slums, Gemma«, sagt er und bindet schon die Vorhänge auf beiden Seiten seines Fenster los, um die Armut und den Dreck auszusperren.

»Ich habe Slums in Indien gesehen«, sage ich und lasse meine Vorhänge, wo sie sind. Der Wagen rumpelt über Kopfsteinpflaster durch schmuddelige, enge Straßen. Du t zende schmutziger Kinder streunen herum und starren uns in unserer vornehmen Kutsche an. Es bricht mir das Herz, ihre mageren, dreckigen Gesichter zu sehen. Mehrere Frauen hocken zusa m mengedrängt unter einer Gaslaterne und nähen. Es lohnt sich für sie, das Licht der Straßenb e leuchtung zu nützen und nicht ihre eigenen kostbaren Ke r zen für diese undankbare Arbeit zu vergeuden. Der Ge stank in den Straßen –eine Mischung aus Kohl, Pferdeä p feln, Urin und Verzweiflung –ist in der Tat schrecklich und ich fürchte, mich übergeben zu mü s sen. Laute Musik und Geschrei dringen aus einer Ta verne. Ein betrunkenes Paar taumelt auf die Straße hinaus. Die Frau hat feuerrote Haare und ein stark geschminktes Gesicht. Sie suchen Streit mit unserem Kutscher und halten uns auf.

»Was ist denn los?« Tom klopft gegen das Verdeck des Wagens, um den Kutscher anzutreiben. Aber die Frau b e schimpft den Kutscher, dass ihm Hören und Sehen vergeht. Es scheint, als müssten wir die ganze Nacht hierbleiben. Der betrunkene Mann schielt nach mir, winkt, macht o b szöne Ge s ten.

Angewidert drehe ich mich weg. Tom lehnt sich aus seinem Fenster. Ich höre, wie er herablassend und ung e duldig versucht, das Paar auf der Straße zur Vernunft zu bringen. Aber irgendetwas ist komisch. Seine Stimme klingt plöt z lich gedämpft, wie das Rauschen einer Muschel, die man ans Ohr hält. Und dann höre ich nur noch mein Blut, das durch meine Adern rast und hart in meinen Schläfen pocht. Ein gewaltiger Druck erfasst mich und schnürt mir den Atem ab.

Es geschieht abermals.

Ich will nach Tom rufen, aber ich kann nicht. Wieder falle ich durch jenen Tunnel aus Farben und Licht. Und ebenso schnell gleite ich aus dem Wagen, trete leichtfüßig hinaus in eine sich verdunkelnde schmale Gasse mit fli m mernden Rändern. Da ist ein kleines Mädchen von ung e fähr acht Jahren, das auf dem schmutzigen, strohbedeckten Boden sitzt und mit einer zerlumpten Stoffpuppe spielt. Ihr Gesicht ist dreckverschmiert, doch davon abgesehen scheint sie nicht hierher zu passen, mit ihrem rosa Haa r band und ihrer gestärkten weißen Schürze, die eine Nu m mer zu groß für sie ist. Sie singt ein paar Takte einer Mel o die, die eine ferne Erinnerung an ein altes engl i sches Volkslied in mir weckt. Als ich näher komme, schaut sie hoch.

»Ist mein Püppchen nicht niedlich?«

»Du kannst mich sehen?«, frage ich.

Sie nickt und beginnt wieder, mit ihren Fingern das Haar der Puppe zu kämmen. »Sie sucht dich.«

»Wer?«

»Mary.«

»Mary? Was für eine Mary?«

»Sie hat mich geschickt, damit ich dich finde. Aber wir müssen vorsichtig sein. Es sucht auch nach dir.«

Die Luft bewegt sich und bringt eine feuchte Kälte mit. Ich zittere unkontrolliert. »Wer bist du?«

Hinter dem kleinen Mädchen bemerke ich eine Bewegung in der undurchdringlichen Dunkelheit. Ich blinzle, um klar zu sehen, aber es ist keine Tä u schung –die Schatten bewegen sich. Blitzschnell e r hebt sich das dunkle Etwas und nimmt seine furch t erregende Gestalt an, das blasse Skelettgesicht, die rot umrandeten Augenhöhlen. Der Mund öffnet sich und ein krächzendes Stöhnen entweicht.

Komm zu uns, mein schönes, schönes

»Lauf.« Das Wort ist ein ersticktes Flüstern auf meiner Zunge. Das dunkle Etwas wächst und kommt noch näher. Das Heulen und Stöhnen in seinem I n nern lässt jede Zelle meines Körpers zu Eis erstarren. Ein Schrei bahnt sich se i nen Weg in meine Kehle. Wenn ich ihn herauslasse, werde ich nie mehr aufh ö ren zu schreien.

Noch einmal, während mein Herz hart gegen meine Rippen klopft, sage ich, lauter diesmal: »Lauf!«

Das dunkle Etwas zögert, weicht zurück. Es schnuppert in die Luft, als würde es einen Geruch aufspüren. Das klei ne Mädchen wendet sich mir zu. »Zu spät«, sagt es, gerade als das Monster seine blicklosen Augen auf mich richtet. Die vermoderten Lippen klaffen auseinander, Zähne wie spitze Nägel entblößend. O Himmel, das Monster grinst mich an. Es öffnet seinen schrecklichen Mund weit und kreischt –ein Laut, der mir endlich die Zunge löst.

»Nein!« Und schon bin ich zurück in der Kutsche, lehne mich aus dem Fenster und schreie das Paar dort draußen an. »Gebt den verdammten Weg frei –sofort!« Gleichze i tig schlage ich mit meinem Schal nach dem Hinterteil des Pferdes. Die Mähre wiehert und bäumt sich auf, worauf das Paar schleunigst das Weite sucht und in die Taverne flüc h tet.

Der Kutscher beruhigt sein Pferd, während mich Tom in den Wagen zurückzieht. »Gemma! Was zum Teufel ist in dich gefahren?«

»Ich …« Ich schaue nach dem Monster aus und sehe es nicht. Da ist nur eine Straße, mit trübem Licht und ein paar schmutzigen Kindern, deren La chen von Ställen und halb verfallenen Schuppen w i derhallt. Die Szene verschwindet hinter uns in der Nacht.

»Sag schon, Gemma, ist alles in Ordnung?« Tom ist ehrlich besorgt.

Ich werde verrückt, Tom. Hilf mir.

»Ich wollte einfach nur weiter.« Der Laut, der aus meinem Mund kommt, ist eine Mischung aus einem Lachen und einem Heulen, wie das unartikulierte Lallen einer Ve r rückten.

Tom betrachtet mich wie eine seltene Krankheit, gegen die er kein Mittel weiß. »Um Himmels willen! Nimm dich zusammen. Und bitte achte in Spence auf deine Au s drucksweise. Ich will dich nicht schon wenige Stunden später wieder abholen, nachdem ich dich dort abgeliefert habe.«

»Ja, Tom«, sage ich, während der Wagen auf dem Kopfsteinpflaster ins Leben zurückrattert, fort von London und den dunklen Schatten.