4. Kapitel
»Hier ist die Schule, Sir«, ruft der Kutscher.
Eine Stunde lang sind wir durch hügeliges, mit Bäumen durchsetztes Gelände gefahren. Die Sonne geht unter, der Himmel ist in blaues Zwielicht g e taucht. Wenn ich aus meinem Fenster schaue, sehe ich nichts als einen Baldachin von Zweigen über mir und durch das Blätterwerk den Mond, reif wie eine Melone. Unser Kutscher scheint auch unter Sinne s täuschungen zu leiden, denke ich schon, doch da erreichen wir einen Hü gelkamm und Spence liegt in seiner ganzen Pracht vor uns.
Ich hatte ein hübsches kleines Anwesen erwartet, wie sie in Groschenromanen beschrieben werden, wo Mädchen mit rosigen Wangen auf gepflegtem gr ü nem Rasen Tennis spielen. Spence hat nichts Heimeliges an sich. Das Gebä u de ist riesig, das vergessene Schloss eines Größenwahnsi n nigen, mit mächtigen runden Ecktürmen und unzähligen kleinen Türmchen. Zweifellos würde man ein Jahr bra u chen, nur um alle Räume in seinem Innern zu besuchen.
»Brrr!« Der Kutscher hält mit einem Ruck den Wagen an. Irgendjemand ist auf der Straße.
»Wer ist da drin?« Eine Frau kommt auf meine Seite der Kutsche und schaut herein. Eine alte Zi geunerin. Ein reich bestickter Schal ist fest um ihren Kopf g e schlungen und ihr Schmuck ist aus purem Gold, aber sonst trägt sie nur Lu m pen am Leib.
»Und was nun?«; seufzt Tom.
Ich strecke meinen Kopf hinaus. Als das Mondlicht auf mein Gesicht fällt, werden die Züge der Frau weich. »Oh, du bist ’s. Du bist zurückgeko m men.«
»Tut mir leid, Madam. Sie müssen mich mit jemandem verwechseln.«
»Oh, aber wo ist Carolina? Wo ist sie? Habt ihr sie mitgenommen?« Die Frau beginnt leise zu wimmern.
»Kommen Sie, gute Frau, lassen Sie uns vorbei«, ruft der Kutscher. »Na also, warum nicht gleich.«
Mit einem Schnalzen der Zügel setzt sich die Kutsche wieder in Bewegung und die alte Frau ruft uns hinterher. »Mutter Elena sieht alles. Sie kennt dein Herz! Sie weiß Bescheid!«
»Gütiger Gott, sie haben ihre eigene Hellseherin«, spöttelt Tom. »Wie vornehm!«
Tom hat gut lachen, aber ich kann es kaum erwarten, aus der Kutsche und der Dunkelheit herausz u kommen.
Das Pferd zieht uns in den steinernen Bogengang und durch ein Tor, hinter dem sich ein herrlicher Park befindet. Ich kann eine wunderschöne grüne Fläche erkennen, ideal, um Rasentennis oder Krocket zu spielen, und direkt daneben üppige, blühende Gä r ten. Etwas weiter entfernt liegt ein Hain von h ohen Bä u men, dicht wie ein Wald. Auf einem Hügel, der sich hinter den Bäumen erhebt, thront eine Kapelle. Das Ganze wirkt, als habe die Zeit seit Jah r hunderten stillgestanden.
Die Kutsche holpert den Weg hinauf, der zur Eingangstür von Spence führt. Ich recke meinen Kopf aus dem Fen s ter, um das ganze wuchtige Ausmaß des Gebäudes in mich aufzunehmen. Irgendetwas ragt aus dem Dach heraus. Im schwindenden Licht ist es schwer zu erkennen. Der Mond gleitet unter einer Wolkenbank hervor und ich sehe es deutlich: Wasserspeier. Mondlicht erhellt das Dach und beleuchtet Einzelheiten –einen spitzen Zahn, ein geifer n des Maul, hervorquellende Augen.
Willkommen im Mädchenpensionat, Gemma. Lerne sticken, Tee servieren, Höflichkeit. Oh, und übr i gens, du könntest eines Nachts von einem grässlichen geflügelten Geschöpf vom Dach vernichtet werden.
Die Kutsche kommt ächzend zum Stehen. Mein Koffer wird auf den breiten steinernen Stufen vor der hölzernen Eingangstür abgestellt. Tom schlägt den schweren Me s singring des Türklopfers an. Er kann es nicht lassen, mir während des Wartens noch ein paar brüderliche Ratschläge zu erteilen.
»Denk daran, es ist jetzt sehr wichtig, dass du während deines Aufenthalts in Spence ein geziemen des Benehmen an den Tag legst. Es ist nett, zu den geringeren Mädchen freundlich zu sein, aber vergiss nicht, dass ihr einander nicht ebenbürtig seid.«
Geziemendes Benehmen. Geringere Mädchen. Nicht ebenbärtig. Es ist wirklich zum Totlachen. Schließlich bin ich die missratene Tochter, die für den Tod ihrer Mutter verantwortlich ist, diejenige, die Visionen hat. Ich tue so, als würde ich im spi e gelblanken Messing des Türklopfers meinen Hut zurechtrücken. Jeder Hauch einer bösen Vo r ahnung wird wahrscheinlich verschwinden, sobald die Tür aufgeht und eine freundliche Haushälterin mich li e bevoll in die Arme nimmt und mit einem warmen Lächeln wil l kommen heißt.
Genau. Ich bin ein ordentliches, gediegenes Mädchen, wie es jedes Internat mit dem größten Vergnü gen bei sich aufnehmen würde. Die schwere Eiche n tür öffnet sich und vor uns steht ein Bollwerk von einer Haushälterin, mit schroffen Gesichtszügen, plumper, formloser Taille und der Wärme eines Wals im Januar. Sie schaut mich durc h dringend an, wä h rend sie ihre Hände an ihrer gestärkten weißen Schürze abwischt.
»Sie müssen Miss Doyle sein. Wir haben Sie vor einer halben Stunde erwartet. Sie haben die Direkto rin warten lassen. Kommen Sie. Folgen Sie mir.«
Die Haushälterin bittet uns, einen Augenblick in dem großen, schlecht beleuchteten Empfangszimmer voll staubiger Bücher und vertrockneter Farne zu warten. Im Kamin brennt ein Feuer. Es knistert und prasselt, während es das trockene Holz verschlingt. Gelächter dringt kurze Zeit sp ä ter durch die offene Tür, ich sehe mehrere jüngere Mä d chen in weißen Kittelschü r zen durch die Halle schlendern. Eine schaut he r ein, sieht mich und geht weiter, als wäre ich nicht mehr als ein Möbelstück. Aber im nächsten Moment ist sie mit ein paar anderen zurück. Sie fallen halb in Oh n macht wegen Tom, der sich vor ihnen aufplustert und huldvoll verbeugt, was sie zum Err ö ten und Kichern bringt.
Lieber Gott, hilf!
Ich fürchte, ich werde mit dem Schürhaken auf meinen Bruder losgehen müssen, um diesem Theater ein Ende zu machen. Zum Glück bleibt es mir erspart, meinen Mordg e lüsten nachzugeben. Die h u morlose Haushälterin ist wieder da. Für Tom und mich heißt es nun Abschied nehmen, was hauptsäc h lich darin besteht, dass wir beide auf den Teppich starren.
»Also dann. Ich nehme an, wir sehen uns nächsten Monat am Familientag.«
»Ja, wahrscheinlich.«
»Mach, dass wir stolz auf dich sein können, Gemma«, sagt er zum Schluss. Keine sentimentale Beteuerung –Ich hob dich lieb; es wird bestimmt a l les gut gehen, du wirst schon sehen. Er lächelt ein letztes Mal der Schar seiner Bewunderinnen zu, die sich immer noch in der Halle ru m drücken, und dann ist er fort. Ich bin allein.
»Hier entlang, Miss, wenn Sie erlauben«, sagt die Haushälterin. Ich folge ihr in ein riesiges offenes Fo yer, das von einer imposanten Doppeltreppe beherrscht wird. Ein leic h ter Wind, der durch ein off e nes Fenster hereinstreicht, lässt die Kristalle des Kronleuchters über mir klirrend aneina n derschlagen . Staunend betrachte ich dieses Wunderwerk; Trop f en aus kostbarem Kristallglas, die an kunstvoll g e schmiedeten, schlangenförmigen Metallarmen hä n gen.
»Vorsicht, Miss«, warnt die Haushälterin, »die Stufen sind steil.«
Die Treppenstufen winden sich scheinbar meilenweit hoch. Wenn ich über das Geländer schaue, sehe ich weit unten das Rautenmuster der schwarzen und weißen Ma r morfliesen. Das Gemälde einer Frau mit silbernem Haar und in einem Kleid, das vor zwanzig Jahren oder so der letzte Schrei gewesen sein mag, begrüßt uns am oberen Ende der Treppe.
»Das ist Mrs Spence«, informiert mich die Haushälterin.
»Oh«, sage ich. »Wunderschön.« Das Porträt ist kolossal – als würde das Auge Gottes über dich w a chen.
Wir gehen weiter, einen langen Flur entlang bis zu einer massiven Doppeltür. Die Haushälterin klopft mit ihrer flei schigen Faust, wartet. Eine Stimme antwortet von der a n deren Seite der Tür und ich trete in einen Raum mit einer dunkelgrünen, mit Pfauenf e dern gemusterten Tapete. An einem großen Schreibtisch sitzt eine einigermaßen gewic h tige Person mit hoch aufgetürmtem, ergrauendem Haar und einer mit Draht eingefassten Brille auf der Nase.
»Danke, Brigid«, sagt sie und entlässt damit die warmherzige, liebevolle Haushälterin. Die Direktorin kehrt zu ihrer Korrespondenz zurück, während ich auf dem Perse r teppich stehe und so tue, als sei ich restlos fasziniert von der Porzellanfigur eines kleinen deutschen Bauernmä d chens, das Milcheimer auf seinen Schultern trägt. In Wir k lichkeit würde ich am liebsten kehrtmachen und aus der Tür stürzen.
Tut mir schrecklich leid, mein Fehler. Ich hätte mich wohl besser in einem anderen Internat vorstel len sollen, das von menschlichen Wesen geleitet wird, die einem Mä d chen Tee oder wenigstens einen Stuhl anbieten.
Eine Standuhr tickt einschläfernd und verstärkt die Müdigkeit, gegen die ich ankämpfe.
Endlich legt die Direktorin ihren Federhalter beiseite. Sie weist auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Schreib tischs. »Setzen Sie sich.«
Kein »Bitte«. Kein »Nehmen Sie freundlicherweise Platz«. Alles in allem fühle ich mich so willko m men wie eine Flasche Lebertran. Der Drachen versucht, einen li e benswürdigen Blick aufzusetzen, den man mit einem Hauch kalter Zugluft verwechseln könnte.
»Ich bin Mrs Nightwing, die Direktorin der Spence-Akademie für junge Damen. Ich hoffe, Sie hatten eine a n genehme Reise, Miss Doyle?«
»O ja, danke.«
Tick-tack. Tick-tack. Tick-tack.
»Hat Brigid Sie freundlich empfangen?«
»Ja, danke.«
Tick, tick, tick, tack.
»Normalerweise nehme ich keine Mädchen in diesem fortgeschrittenen Alter auf. Es fällt ihnen sehr schwer, sich an unseren Lebensstil in Spence zu g e wöhnen.« Das ist also schon mal ein Minuspunkt für mich. »Aber unter den gegebenen Umständen empfinde ich es als unsere christl i che Pflicht, eine Ausnahme zu machen. Herzliches Be i leid.«
Ich erwidere nichts und hefte meinen Blick auf das alberne kleine Bauernmädchen. Es lächelt mit rosigen Wa n gen, wahrscheinlich befindet es sich gerade auf dem Heimweg in irgendein Dorf, wo seine Mu t ter wartet und keine dunklen Schatten lauern.
Als ich nicht antworte, fährt Mrs Nightwing fort. »Ich weiß, die Tradition gebietet eine Trauerzeit von mindestens einem Jahr. Aber ich finde, es ist nicht gesund, ständig e r innert zu werden. Das führt dazu, dass wir mehr an die To ten denken als an die Lebe n den. Ich bin mir bewusst, dass meine Sichtweise u n konventionell ist.« Sie schaut mich über ihre Brillengläser hinweg an und lässt ihren Blick la n ge auf mir ruhen, um zu sehen, ob ich widersprechen will. Will ich nicht. »Es ist wichtig, dass Sie hier vorwärtsko m men und mit den anderen Mädchen Schritt halten. Imme r hin sind einige von ihnen schon seit Ja h ren bei uns, viel länger, als sie mit ihrer eigenen Fa milie zusammen waren. Spence ist fast wie eine Familie, eine liebevolle und ehrb a re Familie, mit Re geln und Konsequenzen.« Dem letzten Wort verleiht sie besonderen Nachdruck. »Sie werden d a her die gleiche Uniform tragen, die alle Mädchen tragen. Ich nehme an, dass Sie damit einverstanden sind?«
»Ja«, sage ich. Und obwohl ich mich ein bisschen schuldbewusst fühle, meine Trauerkleidung so bald abzu legen, bin ich doch froh, dass ich dadurch die Möglichkeit habe, auszusehen wie alle anderen. Es wird mir helfen, u n beachtet zu bleiben, hoffe ich.
»Ausgezeichnet. Sie kommen jetzt also in die erste Klasse, m it sechs jungen Damen Ihres Alters. Das Frühstück findet Punkt neun Uhr statt. Französisch haben Sie bei Ma demoiselle LeFarge, Zeichnen bei Miss Moore, Musik bei Mr Grünewald. Ich unte r richte Sie in Benehmen und Tanz. Gebetet wird j e den Abend in der Kapelle. Tatsächlich« –sie wirft einen Blick auf die Standuhr –»ist es bald so weit. Dann folgt das Abendessen. Anschließend gibt es Freizeit im Marmorsaal und um zehn ist Bettruhe für alle Mä d chen.« Sie versucht, ein Lächeln hoffnungsvoller Zuve r sicht aufzusetzen. Nach meiner Erfahrung bedarf die wir k liche Botschaft, die hinter einem solchen Lächeln steckt, einer Übersetzung.
»Ich denke, Sie werden hier sehr glücklich sein, Miss Doyle.«
Übersetzung: Das ist ein Befehl.
»Spence hat viele wundervolle junge Frauen hervorgebracht, die aufgrund ihrer Erziehung sehr gut geheiratet haben.«
Mehr erwarten wir nicht von Ihnen. Bitte machen Sie uns keine Schande.
»Ja, Sie könnten eines Tages sogar meine Position hier einnehmen.«
Wenn Sie beim besten Willen nicht unter die Haube zu bringen sind und falls Sie nicht in einem öster reichischen Kloster landen und dort bis an Ihr Lebensende Spitze n nachthemden nähen werden.
Mrs Nightwings Lächeln zuckt ein wenig. Ich weiß, sie wartet darauf, dass ich etwas Liebenswür diges sage, etwas, was sie überzeugen wird, keinen Fehler gemacht zu haben, als sie ein k ummervolles Mädchen aufgenommen hat, das der Erziehung in Spence vollkommen unwürdig zu sein scheint. Los, Gemma. Wirf ihr einen Knochen hin –sag ihr, wie glücklich und stolz du bist, ein Mitglied der Familie von Spence zu sein. Aber ich nicke nur. Ihr Lächeln schwindet.
»Solange Sie hier sind, haben Sie in mir eine verlässliche Verbündete, wenn Sie die Regeln befolgen. Oder das Schwert, das Sie zurechtstutzt, wenn Sie es nicht tun. Ha ben wir uns verstanden?«
»Ja, Mrs Nightwing.«
»Ausgezeichnet. Ich zeige Ihnen jetzt die Räumlichkeiten und dann können Sie sich zum Gebet u m ziehen.«
Wir sind im dritten Stock angekommen und gehen einen Flur mit vielen Türen entlang. Fotografien der verschiede nen Jahrgänge von Spence hängen an den Wänden –gro b körnige Gesichter, die in dem düst e ren Licht der wenigen Gaslampen nur schwer zu e r kennen sind. Schließlich kommen wir zu einer Tür linker Hand am Ende des Ga n ges. »Hier befindet sich Ihr Zimmer.« Mrs Nightwing öf f net die Tür weit und gibt den Blick auf einen engen, muffig rieche n den Raum frei, der optimistisch betrachtet freudlos und realistisch gesehen trostlos zu nennen ist. Da sind ein mit Wasserflecken gemaserter Schreibtisch, ein Stuhl und eine Lampe. Zwei Eisenbetten schmiegen sich an die rec h te und linke Wand. Das eine Bett, mit ordentlich eing e schlagener Steppdecke, ist schon belegt. Das andere Bett, meins, passt mit knapper Not in eine Nische u nter einen steilen Mauervo r sprung, an dem ich mir möglicherweise den Schädel zertrümmern werde, wenn ich mich zu schnell au f setze. Es ist eine Dachkammer, die an der Längsseite des Gebäudes herausragt wie nachträglich hinzug e fügt –genau das Richtige für eine Nachzüglerin wie mich, die im allerletzten Moment in die Namensliste eingetragen wurde.
Mrs Nightwing streicht mit einem Finger über die Schreibtischplatte und runzelt missbilligend die Stirn, als sie den Staub darauf entdeckt. »Natürlich geben wir jenen Mädchen den Vorzug, die schon lange bei uns sind«, sagt sie gewissermaßen entschuldigend in Bezug auf mein ne u es Zuhause. »Aber ich bin sicher, Sie werden Ihr Zimmer heiter und zweckdienlich finden. Vom Fenster hier hat man einen herrlichen Blick.«
Sie hat recht. Ich trete ans Fenster und sehe den vom Mondlicht überfluteten Rasen, die Gärten, die Kapelle auf dem Hügel und einen Wall von Bäumen.
»Die Aussicht ist wunderschön«, sage ich und versuche, sowohl heiter als auch zweckdienlich zu kli n gen.
Das gefällt Mrs Nightwing und entlockt ihr ein Lächeln. »Sie teilen das Zimmer mit Ann Bradshaw. Ann ist sehr hilfsbereit. Sie ist eine unserer Stipend i atinnen.«
Stipendiatin – das ist eine hübsche Umschreibung für »Wohltätigkeitsempfängerin«, ein armes Mä d chen, das von einem entfernten Verwandten ins I n ternat gesteckt wurde oder von einem der Gönner des Instituts ein Stipendium erhalten hat. Anns Steppd e cke ist fest gespannt und glatt wie Glas und ich frage mich, aus was für Verhältnissen sie stammt und ob wir uns gut genug verstehen werden, dass sie mir d a von erzählen will.
Der Kleiderschrank steht offen. Eine Uniform hängt darin –ein geraffter weißer Rock; eine weiße Bluse mit Spi t zeneinsätzen entlang der Verschlus s kante und Puffärmeln, die sich zu den angesetzten Manschetten hin verjüngen; weiße Schnürstiefel; ein dunkelblaues Samtcape mit Kap u ze.
»Sie können sich jetzt für die Abendandacht umziehen. Ich lasse Ihnen einen Augenblick Zeit.« Sie macht die Tür zu und ich schlüpfe in die Uniform und schließe die vielen kleinen Knöpfe. Der Rock ist zu kurz, aber sonst passt sie.
Mrs Nightwing betrachtet missbilligend die klaffende Lücke unter dem Saum. »Sie sind ziemlich groß.« Genau das, woran ein Mädchen gern erinnert wird. »Wir werden Brigid bitten, eine Rüsche dra n zunähen.« Sie wendet sich um und ich folge ihr hi n aus.
»Wohin führt diese Tür dort?«, frage ich und zeige auf den im Dunkeln liegenden Teil auf der anderen Seite, wo zwei schwere, durch ein großes Schloss gesicherte Türfl ü gel zu erkennen sind. Es ist die Art von Schloss, um Leute am Eintreten zu hindern. Oder um etwas dahinter zu ve r bergen.
Mrs Nightwings Brauen ziehen sich zusammen, ihre Lippen werden schmal. »Das ist der Ostflügel. Er wurde vor Jahren durch ein Feuer zerstört. Wir benutzen ihn nicht mehr und sperren ihn deshalb ab. Um Heizkosten zu sp a ren. Kommen Sie weiter.«
Sie rauscht an mir vorbei. Ich will ihr folgen, doch dann schaue ich noch einmal zurück, mein Blick fällt auf den Spalt am Boden der versperrten Tür, wo ein schmaler Lichtschein blitzt. Mag sein, dass es an der späten Stunde liegt und an der langen Reise oder der Tatsache, dass ich mich daran gewöhne, Dinge zu sehen, doch ich könnte schwören, dass ich unter der Tür einen Schatten wahrne h me, der sich bewegt.
Nein. Fort mit dir.
Ich muss mich in den Griff bekommen. Also schließe ich die Augen und rede mir selbst beschwö rend zu.
Da ist nichts. Ich bin müde. Ich werde die Augen aufmachen und da ist nichts weiter als eine Tür.
Ich schaue dorthin und da ist nichts.