16. Kapitel

 

»Ich weiß, dass du glaubst, letzte Nacht sei nichts gesch e hen, aber wir sollten wieder versuchen, mit der anderen Welt in Kontakt zu treten«, flüstert mir Felicity zu. Wir stehen in der Mitte des wei t läufigen Ballsaals und warten auf den Beginn der Tan z stunde bei Mrs Nightwing. Über uns lassen vier Kro n leuchter ihre Kristalle baumeln, deren Licht den Marmo r boden sprenkelt.

»Ich denke, das ist keine sehr gute Idee«, sage ich, die Panik zurückdrängend, die mir die Kehle zu schnürt.

»Warum nicht? Bist du gekränkt, weil du als Einzige nichts gespürt hast?«

»Sei nicht albern«, schnaube ich mit einem Geräusch, das meine Lügen zu begleiten scheint und sehr unvorteil haft ist. Ich bin auf dem besten Weg, mich in ein schna u bendes Kamel zu verwandeln.

»Was dann?«

»Ich finde es langweilig. Das ist alles.«

»Langweilig?« Felicitys Mund bleibt offen stehen. »Langweilig nennst du das? Langweilig ist, was wir jetzt gleich erleben werden.«

Pippa steht bei Cecily und ihrer Clique und versucht ver z weifelt, Felicitys Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Fee, komm zu uns herüber. Mrs Nigh t wing wird uns in Paare einteilen.«

Jedes Mal wenn ich anfange, Pippa zu mögen, tut sie so etwas wie eben jetzt, wofür ich sie verachte. »Es ist ja so schön, geliebt zu werden«, murmle ich lautlos.

Felicity schaut zu der aufgeputzten Schar hinüber und wendet ihnen unmissverständlich den Rücken zu. Pippa macht ein langes Gesicht. Ich kann mir ein kleines häm i sches Grinsen nicht verkneifen.

»Meine Damen, darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?« Mrs Nightwings Stimme dröhnt durch den Saal. »Heute wollen wir das Walzertanzen üben. Denken Sie daran: Haltung ist oberstes Gebot. Sie müssen sich so ger a de halten, als sei Ihr Rückgrat an eine Seilwinde geknüpft, die von Gott persönlich straff gezogen wird.«

»Klingt, als wären wir Marionetten Gottes«, murmelt Ann.

»Das sind wir, wenn du Reverend Waite und Mrs Nightwing glaubst«, sagt Felicity augenzwinkernd.

»Gibt es etwas, woran Sie uns alle teilhaben lassen möchten, Miss Worthington?«

»Nein, Mrs Nightwing. Ich bitte um Entschuldigung.«

Mrs Nightwing lässt sich mit der Musterung Zeit und spannt uns alle damit auf die Folter. »Miss Worthington, Ihre Partnerin wird Miss Bradshaw sein. Miss Temple tanzt mit Miss Poole, und Miss Cross, Sie tanzen bitte mit Miss Doyle.«

Ausgerechnet. Pippa stößt einen unwilligen Seufzer aus u nd stellt sich mürrisch gegenüber von mir auf, einen Blick zu Felicity hinüberwerfend, die mit den Schultern zuckt.

»Guck nicht so. Es ist nicht meine Schuld«, sage ich.

»Du führst. Ich will die Dame sein«, sagt Pippa.

»Wir werden abwechselnd führen und geführt werden. Jede soll eine Chance haben«, sagt Mrs Nightwing mit ei nem müden Blick. »Also los, meine Damen. Arme hoch. Die Ellbogen nicht sinken lassen. Haltung und wieder Ha l tung. Nicht wenige Mädchen verdanken ihre guten He i ratsaussichten ihrer perfekten Anpassungsfähigkeit.«

»Besonders wenn es darum geht, sich an eine hübsche Summe Geld anzupassen«, scherzt Felicity.

Mrs Nightwing hebt warnend die Stimme. »Miss Worthington …«

Felicity reckt sich hoch wie die Nadel der Kleopatra, dieser spillerige Kreidefelsen in unserem Geogr a fiebuch. Zufrieden schwenkt die Direktorin den Arm des Gramm o fons und setzt die Nadel auf eine Schallplatte. Walzerklä n ge erfüllen den Raum.

»Und eins, zwei, drei, eins, zwei, drei. Fühlen Sie die Musik! Miss Doyle ! Achten Sie auf Ihre Füße! Kleine, gr a zile Schritte. Sie sind eine Gazelle, kein Elefant. Meine Damen, halten Sie sich aufrecht! Sie werden nie einen Mann finden, wenn Sie auf den Boden schauen!«

»Sie hat offenbar nie einen von diesen Männern nach ein paar Brandys gesehen«, flüstert Felicity im Vorübertanzen.

Mrs Nightwing klatscht laut in die Hände. »Es wird nicht gesprochen. Männer finden geschwätzige Frauen un attraktiv.

Bitte zählen Sie laut den Takt der Musik. Eins, zwei, drei, eins, zwei, drei. Und jetzt Führungswech sel, eins, zwei, drei.«

Der Wechsel verwirrt Elizabeth und Cecily, die beide zu führen versuchen. Sie steuern geradewegs in Pippa und mich hinein. Wir stoßen mit Ann und Fe licity zusammen und alle miteinander purzeln wir in einem Haufen zu Bo den.

Die Musik verstummt abrupt. »Wenn Sie beim Tanzen so wenig Grazie zeigen, wird Ihre Saison vorüber sein, be vor sie begonnen hat. Darf ich Sie daran erinnern, meine Damen, dass dies kein Spiel ist? Die Londoner Saison der Debütantinnenbälle ist eine ernste Angelegenheit.« Jemand klopft an die Tür und Mrs Nightwing entschuldigt sich, während wir auf die Füße kommen. Niemand hilft Ann. Ich halte ihr eine Hand hin. Sie nimmt sie schüchtern, ohne mich dabei anzusehen. Ihre Verlegenheit nach den Ge s tändnissen der vergangenen Nacht ist noch i m mer groß.

»Eine ernste Angelegenheit. So, so«, sage ich in dem Versuch zu scherzen, um uns die Befangenheit zu nehmen.

»Das ist nicht zum Lachen«, sagt Pippa hitzig. »Einige von uns wollen sich verbessern. Soviel ich gehört habe, wird man von dem Moment an, in dem man auf seinem ersten Ball durch die Tür tritt, schweigend klassifiziert. Ich möchte nicht, dass hi n terher über mich geklatscht wird als über dieses Mädchen, das nicht tanzen kann.«

»Entspann dich, Pippa«, sagt Felicity, während sie ihren Rock glatt streicht. »Du wirst es wunderbar machen. Du wirst nicht sitzen bleiben und als alte Jungfer in Spence versauern. Dafür wird schon Mr Bumble sorgen.«

Pippa merkt, dass alle Augen auf sie gerichtet sind. »Ich glaube nicht, dass ich gesagt habe, ich werde Mr Bumble heiraten, oder? Schließlich könnte ich auf einem Ball j e mand ganz Besonderen kenne n lernen.«

»Einen Herzog oder einen Lord«, sagt Elizabeth träumerisch. »Das würde ich mir wünschen.«

»Genau.« Pippa schenkt Felicity ein kleines überhebliches Lächeln.

Ein starrer Glanz tritt in Felicitys Augen. »Liebe Pip, du fängst doch nicht wieder mit dieser Fantaste rei an, oder?«

Pippa hält an ihrem Debütantinnenlächeln fest. »Was meinst du damit?«

»Das, was fortwährend auf Spinnwebflügeln durch deinen Kopf geistert. Der Traum vom Prinzen, der nach seiner Prinzessin sucht, und rein zufällig hast du die passenden Schuhe, blank poliert, in deinem Schrank stehen.«

Pippa fällt es schwer, die Fassung zu bewahren. »Nun ja, eine Frau sollte immer nach Höherem stre ben.«

»Das ist ziemlich hoch für die Tochter eines Kaufmanns.« Felicity verschränkt ihre Arme vor der Brust. Die Luft im Saal knistert. Gleich wird es zu einer Explosion kommen.

Pippas Wangen glühen. »Du bist nicht gerade in der Position, um Ratschläge zu erteilen, findest du nicht? Bei de i ner Familiengeschichte?«

»Was willst du damit andeuten?«, fragt Felicity kalt.

»Ich will gar nichts andeuten. Ich stelle nur fest. Meine Eltern mögen ihre Fehler haben, aber wenigs tens ist meine Mutter keine …« Sie bricht ab.

»Keine was?«, faucht Felicity.

»Ich glaube, ich höre Mrs Nightwing kommen«, sagt Ann nervös.

»Ja, könntet ihr bitte mit dieser Streiterei aufhören?« Cecily versucht Felicity wegzuziehen, aber erfolglos.

Felicity tritt näher zu Pippa. »Nein, wenn Pippa etwas über meine Familie zu sagen hat, dann möchte ich das hö ren. Wenigstens ist deine Mutter keine was?«

Pippa strafft ihre Schultern. »Wenigstens ist meine Mutter keine Hure.«

Felicitys Ohrfeige hallt wie ein Gewehrschuss im Saal wider. Wir zucken bei der Heftigkeit des Knalls zusam men. Pippas Mund ist verzerrt, ihre veilche n blauen Augen füllen sich von dem brennenden Schmerz mit Tränen.

»Das nimmst du zurück!«, sagt Felicity zwischen den Zähnen.

»Das werde ich nicht!« Pippa weint. »Du weißt, dass es stimmt. Deine Mutter ist eine Konkubine. Sie hat deinen Vater für einen Künstler verlassen. Mit dem ist sie dann nach Frankreich durchgebrannt.«

»Das ist nicht wahr!«

»Doch, ist es! Sie ist weggegangen und hat dich zurückgelassen.«

Ann und ich sind vor Schreck wie erstarrt. Cecily und Elizabeth können sich ein Grinsen kaum ver kneifen. Diese Neuigkeit schlägt ein wie ein Blitz aus heiterem Himmel und ich weiß, die Tratschereien werden von nun an kein Ende mehr nehmen. Und das alles ist Pippas Schuld.

Felicity stößt ein grausames Lachen aus. »Sie wird mich zu sich holen, wenn ich mein Examen gemacht habe. Ich werde nach Paris gehen und mich von e i nem berühmten Maler porträtieren lassen. Und dann wird ’s dir leidtun, dass du solche Dinge gesagt hast.«

»Du glaubst immer noch, dass sie dich holen wird? Wie oft hast du sie gesehen, seit du hier bist? Ich werds dir s a gen –kein einziges Mal.«

Felicitys Augen funkeln. »Sie wird mich holen.«

»Sie hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, dir etwas zum Geburtstag zu schicken.«

»Ich hasse dich.«

Ein Chor entrüsteter Ohhhs ertönt von ihren Jüngerinnen. Pippa wird zu meiner Überraschung ganz leise und sanft. »Nicht ich bin es, die du hasst, Fee. Ich bin ’s nicht.«

Mrs Nightwing rauscht wieder herein. Sie spürt die feindselige Stimmung im Saal wie einen Wetter wechsel. »Was ist hier los?«

»Nichts«, sagen wir sofort wie aus einem Mund, rücken voneinander ab und schauen angestrengt vor uns auf den Bo den.

»Dann lasst uns weitermachen.« Mrs Nightwing senkt den Arm des Grammofons. Felicity fasst nach Anns Hand und Pippa und ich schließen uns an. Diesmal ist sie der Mann, also schlingt sie den Arm um meine Taille und nimmt meine rechte Hand in ihre linke. Wir tanzen nahe an den Fenstern, und während wir uns im Walzerschritt dr e hen, legen wir immer mehr Abstand zwischen uns und Ann und Fe licity.

»Ich habe etwas Schreckliches angerichtet«, sagt Pippa unglücklich. »Wir waren wie Pech und Schwefel. Wir h a ben alles zusammen gemacht. Aber das war, bevor …« Sie ve r stummt. Wir wissen beide, wie der Satz endet: bevor du kamst.

Gerade hat sie es geschafft, Felicity fertigzumachen, und jetzt möchte sie mich auf ihre Seite ziehen. »Ich bin sicher, ihr seid morgen wieder ein Herz und eine Seele und das alles ist vergessen«, sage ich und wirble ein bisschen schneller herum als nötig.

»Nein. Jetzt ist alles anders. Sie fragt dich, bevor sie mich fragt. Ich bin nur noch zweite Wahl.«

»Das stimmt nicht«, sage ich und verstecke meine schlechte Lüge hinter einem verächtlichen halben Lachen.

»Pass auf, dass sie deiner nicht bald überdrüssig wird. Der Fall ist tief.«

Mrs Nightwing zählt laut, die Musik übertönend, den Takt, korrigiert unsere Schritte, unsere Haltung, jeden un serer Gedanken, bevor er überhaupt Gestalt angenommen hat. Pippa bewegt mich über die Tan z fläche und ich frage mich, ob Kartik sich je vo r stellt, wie es wäre, sie in seinen Armen zu halten. Pippa hat keine Ahnung, welche Anzi e hung sie auf Männer ausübt, und ich würde mir wünschen, nur einmal diese Macht zu spüren. Wie gern würde ich von hier verschwinden und für eine Weile jemand anders sein.

Was als Nächstes passiert, ist nicht meine Schuld. Zumindest führe ich es nicht absichtlich herbei. Das Bedür f nis zu rennen hat irgendwie überhand genommen. Das b e kannte Kribbeln ist wieder da und es zieht mich tief nach unten, be v or ich die Kontrolle darüber gewinne. Aber di e ses Mal ist es anders. Ich falle nicht einfach, ich setze Fuß vor Fuß! Ich schre i te über eine flimmernde Schwelle in einen dunklen, von Nebel erfüllten Wald. Für einen Mo ment, dort, zwischen zwei Welten schwebend, sehe ich das Ge sicht von Pippa. Es ist blass. Voller Angst. Und mir wird klar, dass auch sie über die Schwelle tritt.

Lieber Gott, was geschieht da? Wo bin ich? Wie kommt sie hierher? Ich muss dem Ganzen ein Ende machen, kann nicht zulassen, dass sie mit mir ins Bodenlose fällt.

Ich schließe meine Augen und kämpfe mit allen Mitteln gegen den übermächtigen Ansturm der Visi on an. Aber mein Widerstand reicht nicht aus, um zu verhindern, dass blitzartig Bilder aufflackern. Etwas Dunkles am Horizont. Ein Platschen. Und der Klang von Pippas im Wasser e r sticktem Schrei.

Wir sind zurück. Ich ringe nach Atem, während meine Hand immer noch Pippas umklammert hält. Hat sie irgend etwas gesehen? Kennt sie jetzt mein Geheimnis? Sie sagt nichts. Ihre Augen sind verdreht. Das Weiße darin ein Fl ü gelflattern.

»Pippa?« Die Panik in meiner Stimme alarmiert Mrs Nightwing. Sie kommt rasch auf uns zu, während sich Pi p pas ganzer Körper versteift. Ihr Arm schwingt zurück auf ihre Brust und trifft mich dabei hart am Mund. Ich schm e cke Blut auf meinen Li p pen, wie heißes, flüssiges Kupfer. Mit einem hohen, durchdringenden Laut fällt Pippa zu Bo den, ihr Körper bäumt sich auf und zuckt wie im Tode s kampf.

Pippa stirbt. Was habe ich getan?

Mrs Nightwing packt Pippas Schultern, drückt sie mit eiserner Kraft auf den Boden. »Ann, bringen Sie mir aus der Küche einen Holzlöffel! Cecily, Eliz a beth, holen Sie sofort eine Lehrkraft her! Nun geht schon –marsch!« Mich bellt sie an: »Halten Sie i h ren Kopf still.«

Pippas Kopf schlägt unter meinen Händen hin und her. Pippa, es tut mir so schrecklich leid. Bitte, ve r zeih mir.

»Helfen Sie mir, sie umzudrehen«, sagt Mrs Nightwing. »Sie darf sich nicht in die Zunge bei ßen.«

Unter großer Anstrengung drehen wir sie auf die Seite. Für eine so zierliche Person ist Pippa erstaun lich schwer. Brigid stürzt in den Ballsaal und schreit auf.

Mrs Nightwing bellt Befehle wie ein General. »Brigid! Schicken Sie sofort nach Dr. Thomas! Miss Moore, bitte seien Sie so gut.« Brigid rennt hinaus, Miss Moore kommt herein, einen Löffel schwingend. Sie schiebt ihn in Pippas röchelnden Mund, als wol l te sie sie damit ersticken.

»Was tun Sie?«, schreie ich. »Sie bekommt keine Luft!« Ich versuche den Löffel herauszuziehen, aber Miss Moore hält meine Hand fest.

»Der Löffel hindert sie daran, sich die Zunge abzubeißen.«

Ich möchte ihr glauben, aber so, wie Pippa auf dem Boden um sich schlägt, ist es schwer vorstellbar, dass wir i r gendetwas für sie tun können. Und dann lassen die gewal t samen, krampfhaften Zuckungen nach. Pippa schließt die Augen und liegt ganz still, wie tot.

»Ist sie ?«, flüstere ich, unfähig, den Satz zu beenden. Ich will die Antwort nicht wissen.

Mrs Nightwing stemmt sich auf die Füße. »Miss Moore, würden Sie sich bitte erkundigen, wie es mit Dr. Thomas steht?«

Miss Moore nickt und marschiert zur offenen Tür, ermahnt die Mädchen, die neugierig zu uns herei n schauen, sie durchzulassen. Mrs Nightwing breitet ihren Schal über Pippa. So auf dem Boden liegend sieht sie genau wie eine schlafende Prinzessin aus einem Märchen aus.

Ich merke gar nicht, dass ich immer wieder leise murmle: »Es tut mir leid, Pippa, es tut mir leid.«

Mrs Nightwing betrachtet mich neugierig. »Ich weiß nicht, was Sie denken, Miss Doyle, aber Sie haben damit nichts zu tun. Pippa leidet unter Epile p sie. Sie hatte einen epileptischen Anfall.«

»Epilepsie?«, wiederholt Cecily in einem Ton, dass es wie Lepra oder Syphilis klingt.

»Ja, Miss Temple. Und jetzt muss ich Sie bitten, niemals ein Wort darüber zu verlieren. Es muss ve r gessen werden. Sollte mir Geklatsche zu Ohren kommen, gebe ich den Mädchen, die daran beteiligt sind, dreißig Mi nuspunkte für schlechte Führung und entziehe ihnen sämtliche Privil e gien. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Wir nicken wortlos.

»Können wir irgendetwas tun, um zu helfen?«, fragt Ann. Mrs Nightwing betupft ihre Braue mit einem Ta schentuch. »Sie sollten ein Gebet sprechen.«

Die Abenddämmerung bricht sacht herein. Frühe Dunkelheit sickert durch die hohen Fenster und nimmt den Räumen langsam ihre Farbe. Ich habe keinen Appetit aufs Abendessen und auch keine Lust, den anderen im Marmo r saal Gesellschaft zu leisten. Stattdessen wandere ich ziellos umher, bis ich vor Pippas Zimmer stehe. Ich klopfe leise an die Tür. Miss Moore öffnet. Hinter ihr liegt Pippa auf dem Bett, schön und still.

»Wie geht es ihr?«

»Sie schläft«, antwortet Miss Moore. »Kommen Sie. Es ist sinnlos, draußen auf dem Gang zu stehen.« Die Tür schwingt weit auf. Miss Moore bietet mir den Stuhl am Bett an und zieht einen anderen für sich selbst heran. Es ist eine kleine, freundliche Geste und aus irgendeinem Grund vergrößert das meine Tra u rigkeit noch. Wenn sie wüsste, was ich Pippa angetan habe, was für eine Lügn e rin ich bin, wäre sie nicht so nett zu mir.

Pippa atmet tief, scheinbar unbekümmert. Ich habe Angst, selbst einzuschlafen. Angst, Pippas erschro ckenes Gesicht zu sehen, als sie kopfüber in meine verdammte, blödsinnige Vision hineingestürzt ist. Ich bin erschöpft von Angst und Schuldgefühlen. Zu müde, um die Tränen z u rückzuhalten, vergrabe ich mein Gesicht in den Händen und weine, um Pippa, um meine Mutter, meinen Vater, um alles.

Miss Moore legt mir ihren Arm um die Schultern. »Schhh, machen Sie sich keine Sorgen. Pippa wird in ein, zwei Tagen wieder auf den Beinen sein.«

Ich nicke und weine noch heftiger.

»Irgendwie scheint mir, diese Tränen sind nicht alle für Pippa.«

»Ich bin eine abscheuliche Person, Miss Moore. Sie wissen nicht, wozu ich fähig bin.«

»Aber, aber, was soll der Unsinn?«, murmelt sie.

»Es stimmt. Ich bin ganz und gar kein guter Mensch. Wenn ich nicht gewesen wäre, würde meine Mutter noch leben.«

»Ihre Mutter ist an der Cholera gestorben. Sie hatten mit ihrem Tod nichts zu tun.«

Die Wahrheit war so lange in mir eingeschlossen, dass sie jetzt in einem Schwall herausströmt. »Nein, das stimmt nicht. Sie wurde ermordet. Ich bin fortgelaufen und sie kam mir nach und wurde ermordet. Ich habe sie mit meiner Lieblosigkeit getötet. Es ist alles meine Schuld, alles.« Meine Schluchzer gehen in einen heft i gen, keuchenden Schluckauf über. Miss Moore hält mich noch immer in ihren sicheren A r men, die mich gerade jetzt so sehr an die meiner Mutter erinnern, dass ich es kaum ertragen kann. Schließlich bin ich völlig leer g e weint, mein Gesicht ein verschwollener Ballon. Miss Moore gibt mir ihr Tasche n tuch, empfiehlt mir, mich zu schnauzen. Ich bin wieder fünf Jahre alt. Egal, wie e r wachsen ich schon zu sein gla u be, wenn ich weine, bin ich wieder fünf.

»Danke«, sage ich und will ihr das Taschentuch zurückgeben.

»Behalten Sie es nur«, sagt sie diplomatisch, nach einem kurzen Blick auf das zerknautschte, eklige Ding in meiner Hand. »Miss Doyle –Gemma –, ich möchte, dass Sie mir j etzt zuhören. Sie haben Ihre Mutter nicht getötet. Jeder von uns ist von Zeit zu Zeit lieblos. Wir alle tun Dinge, von denen wir wünschten, wir könnten sie ungeschehen m a chen. Reue ist ein Teil unseres Wesens, zusammen mit vi e lem anderen. Das ändern zu wollen, ist genauso m ü ßig wie, nun, wie Wolken nachzujagen.«

Neue Tränen laufen an meinen Wangen herunter. Miss Moore führt meine Hand mit dem Taschentuch an mein Ge sicht.

»Wird sie sich wirklich wieder erholen?«, frage ich, auf Pippa blickend.

»Ja. Obwohl es sie vermutlich sehr viel Kraft kostet, ein solches Geheimnis zu bewahren.«

»Warum muss es denn geheim gehalten werden?«

Miss Moore macht sich kurz an Pippas Bettdecke zu schaffen. »Wenn es bekannt würde, wäre sie nicht heirats fähig. Man nimmt an, dass es ein Fehler im Blut ist, wie Wahnsinn. Kein Mann möchte eine Frau mit einem solchen Gebrechen.«

Pippas seltsame Bemerkung in der Höhle fällt mir ein, dass sie verheiratet werden soll, bevor es zu spät ist. Jetzt verstehe ich, was sie damit meinte.

»Das ist so unfair.«

»Ja, stimmt, aber so ist der Lauf der Welt.«

Eine Weile sitzen wir nur da und beobachten, wie Pippa atmet, wie sich ihre Bettdecke in einem tröstlichen Rhyth mus hebt und senkt.

»Miss Moore …«

»Hier im Privaten dürfen Sie mich Hester nennen.«

»Hester«, sage ich. Der Name fühlt sich auf meiner Zunge verboten an. »Diese Geschichten, die Sie uns über den Orden des aufgehenden Mondes erzählt haben. Halten Sie es für möglich, dass etwas davon wahr ist?«

»Ich halte alles für möglich.«

»Und wenn solch eine magische Kraft existiert und man nicht weiß, ob sie gut oder schlecht ist, würden Sie sie auf jeden Fall erkunden wollen?«

»Sie haben sich darüber eine Menge Gedanken gemacht.«

»Es geht mir nur so durch den Kopf«, sage ich, den Blick auf meine Füße gerichtet.

»Die Dinge sind nicht von sich aus gut oder schlecht. Wir selbst machen sie dazu, dadurch, wie wir mit ihnen umgehen. So sehe ich es jedenfalls.« Sie schaut mich mit einem rätselhaften Lächeln an. »Also, was hat es mit al l dem wirklich auf sich?«

»Nichts«, sage ich mit brüchiger Stimme. »Bloße Neugier.« Sie lächelt. »Das, worüber wir in der Höhle gespr o chen haben, sollte besser unter uns bleiben. Nicht jeder ist so aufgeschlossen, und wenn es sich herumspricht, könnte es passieren, dass ich euch Mädchen nirgendwohin mehr führen kann außer in den Zeichensaal, um den ganzen Nachmittag lang fröhliche Obstschüsseln zu malen.« Sie löst eine ve r irrte Haarsträhne von meinem immer noch feuchten Gesicht und steckt sie hinter meinem Ohr fest. Sie tut das so zärtlich, so sehr wie meine Mutter, dass ich schon wieder weinen möchte.

»Ich verstehe«, sage ich schließlich.

Pippas Hand bewegt sich kurz. Ihre Finger greifen in die Luft. Sie macht einen langen, tiefen Atemzug, dann schläft sie wieder.

»Glauben Sie, sie wird sich erinnern, was mit ihr geschehen ist, wenn sie aufwacht?« Ich denke nicht an den epileptischen Anfall, sondern an das, was unmittelbar vo r her war, an die Vision.

»Ich weiß es nicht«, sagt Miss Moore.

Mein Magen knurrt.

»Haben Sie heute Abend etwas gegessen?«

Ich schüttle den Kopf.

»Wie wärs, wenn Sie mit den anderen Mädchen zum Tee hinuntergehen? Es wird Ihnen guttun.«

»Ja, Miss Moore.«

»Hester.«

»Hester.«

Während ich die Tür schließe, spreche ich endlich ein Gebet dass Pippa sich an nichts erinnern möge.

 

 

Auf dem Flur begrüßen mich die vier Klassenfotos im vollen Glanz ihrer trübseligen Gesichter. »Guten Abend, me i ne Damen«, sage ich zu ihren leeren, r e signierten Augen. »Versucht nicht gar so fröhlich dreinzublicken. Das ist ni e derschmetternd.«

Eine Staubschicht hat sich auf den Bildern niedergelassen. Ich wische sie mit kreisenden Bewegungen meiner Finger k uppe fort und lege die körnigen Ge sichter bloß. Sie schauen in eine Zukunft, die ihre Geheimnisse nicht prei s gibt. Sind sie je nachts in den dunklen Wald geschlichen? Haben sie Whiskey g e trunken und auf Dinge gehofft, die sie nicht in Worte fassen konnten? Haben sie Freundscha f ten und Feindschaften geschlossen, ihre Mütter betrauert, Dinge gesehen und gefühlt, über die sie keine Ko n trolle hatten?

Zwei von ihnen haben es getan, so viel weiß ich. Sarah und Mary. Warum habe ich bisher nie daran gedacht, sie an dieser Wand zu suchen? Sie müssen hier sein. Schnell überfliege ich die am unteren Rand der Bilder gekritzelten Daten: 1870, 1872,1873, 1874

Es gibt kein Klassenfoto aus dem Jahr 1871.

 

 

Ich finde die anderen im Speisesaal. Nach diesem aufregenden Nachmittag hat sich Mrs Nightwing u n ser erbarmt und der Köchin auftragen lassen, einen zweiten Vanill e pudding zuzubereiten. Gierig schlinge ich die süße, crem i ge Nachspeise hinunter.

»Du meine Güte«, mahnt Mrs Nightwing. »Wir sind nicht beim Wettrennen, Miss Doyle. Bitte essen Sie lang samer.«

»Ja, Mrs Nightwing«, sage ich kleinlaut.

»Nun, worüber wollen wir uns unterhalten?«, fragt Mrs Nightwing im milden Ton einer Großmutter, die die Na men unserer Lieblingspuppen erfahren möc h te.

»Stimmt es, dass wir nächste Woche Lady Wellstones spiritistische Vorstellung besuchen werden?«, fragt Mart ha.

»Ja, das ist richtig. Auf der Einladung steht, dass es ein echtes Medium geben wird eine Madame Romanoff.«

»Meine Mutter hat an einer spiritistischen Seance teilgenommen«, sagt Cecily. »Das ist jetzt sehr m o dern. Sogar Königin Viktoria glaubt daran.«

»Meine Cousine Lucy, das heißt Lady Thomton«, berichtigt sich Martha selbst, um uns daran zu eri n nern, was für eine namhafte Verwandtschaft sie hat, »erzählte mir von einer Vorstellung, die sie besucht hat, wo sich ein Glas vom Tisch erhob, als würde es jemand in der Hand ha l ten !« Sie gibt den letzten Worten einen geheimnisvollen Unterton, um die ric h tige Dramatik zu erzielen.

Felicity rollt mit den Augen. »Warum gehen sie nicht einfach zu den Zigeunern, um sich wahrsagen zu lassen?«

»Die Zigeuner sind schmutzige Diebe, die nur auf dein Geld aus sind wenn nicht Schlimmeres !«, sagt Martha verächtlich.

Elizabeth beugt sich zu ihr, falls noch pikantere Einzelheiten nachkommen sollten. Mrs Nightwing stellt ihre Ta s se etwas heftig nieder und wirft Martha einen warnenden Blick zu. »Miss Hawthorne, bitte mäßigen Sie sich.«

»Ich meinte nur, dass die Zigeuner nichts anderes als Schwindler und Betrüger sind. Wohingegen Spi ritismus eine echte Wissenschaft ist, die von ehre n werten Personen ausgeübt wird.«

»Es ist eine vorübergehende Modeerscheinung, die schon im Abklingen ist. Nichts weiter«, sagt Felicity gäh nend.

»Ich bin sicher, es wird ein sehr unterhaltsamer Abend«, sagt Mrs Nightwing versöhnlich. »Auch wenn ich für sol chen Unsinn ehrlich gesagt nichts übrig habe, ist Lady Wellstone in der Tat eine Frau von untadeligem Charakter und eine der größten Wohltäterinnen von Spence, und ich habe keinen Zweifel daran, dass Ihr Ausflug mit Mademo i selle LeFarge in gewisser Weise … der Wohltätigkeit di e nen wird.«

Eine Weile nippen wir schweigend an unserem Tee. Die meisten der jüngeren Mädchen sind schon flüsternd und kichernd hinaus geschwärmt. Ich kann das anschwellende Gesumm ihrer Stimmen von u n ten aus dem Marmorsaal hören. Cecily und ihre Clique entschuldigen sich gelan g weilt und lassen uns allein mit Mrs Nightwing zurück.

»Mrs Nightwing.« Ich mache eine Pause, all meinen Mut zusammennehmend. »Es ist merkwürdig … auf dem Flur gibt es kein Klassenfoto aus dem Jahr 1871.«

»Nein, es gibt keines«, sagt sie in ihrer üblichen knappen Art.

»Ich habe mich gefragt, warum wohl.« Ich bemühe mich, harmlos zu klingen, aber mein Herz klopft mir bis zum Hals.

Mrs Nightwing sieht mich nicht an. »Das war das Jahr des großen Feuers im Ostflügel. Es gab keine Fotografie. Aus Respekt vor den Toten.«

»Den Toten?«, frage ich.

»Die zwei Mädchen, die im Feuer umgekommen sind.« Sie schaut mich an, als sei ich nicht ganz hell im Kopf.

Wir sitzen wie aufglühenden Kohlen. Ein paar Stockwerke über uns, hinter den schweren Türfl ü geln, starben zwei Mädchen. Wieder überläuft mich ein Schauder.

»Die zwei Mädchen, die gestorben sind wie waren ih re Namen?«

Mrs Nightwing rührt heftig in ihrem Tee. »Müssen wir nach einem so langen, anstrengenden Tag ein so unerfreu liches Thema erörtern?«, fragt sie gereizt.

»Es tut mir leid«, sage ich, kann das Ganze aber nicht auf sich beruhen lassen. »Mich würde nur inte ressieren, wie sie hießen.«

Mrs Nightwing seufzt. »Sarah und Mary«, sagt sie schließlich.

Felicity verschluckt sich fast an ihrem letzten Löffel Pudding. »Wie bitte?«

Mit einer Miene äußerster Ungeduld wiederholt Mrs Nightwing die Namen.

»Sarah Rees-Toome und Mary Dowd.«