27. Kapitel

 

Am Abend gießt es noch immer in Strömen. Der Re gen fällt in kalten, heftigen Schauern vom Himmel und gibt uns zu verstehen, dass der Sommer endgü l tig vorbei ist. Die frostige Nässe kriecht uns in die Knochen, macht unsere Finger, Rücken und He r zen klamm. Näher kommendes Donnergrollen wette i fert mit dem beständigen Prasseln des Regens. Blitze gehen nieder und erhellen mit ihrem Lich t schein den Eingang der Höhle.

Wir sind alle da. Nass. Kalt. Stumm. Elend. Felicity sitzt auf dem abgeflachten Felsen, unentwegt ein und dieselbe Strähne ihres Haars flechtend und wi e der lösend, lösend und wieder flechtend. Jeder Fu n ken ihres Temperaments ist erloschen, fortg e schwemmt vom Regen, wer weiß wohin.

Pippa geht eng in ihr Cape gewickelt auf und ab und stöhnt: »Er ist fünfzig! Alter als mein Vater! Es ist zu schrecklich, um es in Worte zu fassen.«

»Wenigstens will dich jemand heiraten. Du bist keine Aussätzige.« Es ist Ann, die das sagt und die rechte Hand dabei dicht über die Kerzenflamme hält. Sie senkt die Hand tiefer und tiefer, bis sie gezwungen ist, sie rasch zurückz u ziehen. Doch da r an, wie sie zusammenzuckt, merke ich, dass Ann s ich a b sichtlich verbrannt hat –dass sie wieder einmal ausprobiert hat, ob sie noch etwas fü h len kann.

»Warum wollen mich alle besitzen?«, murmelt Pippa. »Warum wollen alle über mein Leben bestimmen –über mein Aussehen, meine Freunde, über mein Tun oder Nich t tun? Warum können sie mich nicht in Ruhe lassen?«

»Weil du schön bist«, antwortet Ann, während sie beobachtet, wie die Flamme an ihrer Handfläche leckt. »Die Menschen meinen immer, dass sie schöne Dinge besitzen können.«

Pippas Lachen ist bitter, vermischt mit Tränen. »Hal Warum denken Mädchen immer, dass schön zu sein die Lösung aller Probleme ist? Schön sein schafft Probleme. Es ist ein Fluch. Ich wünschte, ich wäre jemand anders.«

Diese Bemerkung entspringt einem Luxus, den sich nur schöne Mädchen leisten können. Ann quittiert sie mit ei nem scharfen, missbilligenden Schna u ben.

»Doch! Ich wünschte, ich wäre ich wünschte, ich wä re du, Ann.«

Ann ist so überrascht, dass sie ihre Hand eine Sekunde zu lang über die Kerzenflamme hält und mit einem hörba ren Schmerzenslaut zurückzieht. »Wa rum um alles in der Welt möchtest du ich sein?«

»Weil«, seufzt Pippa, »du dich nicht mit solchen Dingen herumschlagen musst. Du gehörst nicht zu den Mädchen, an denen ständig herumgenörgelt wird, sodass dir keine Luft zum Atmen bleibt. Ni e mand interessiert sich für dich.«

»Pippa!«, schreie ich.

»Was? Was habe ich denn gesagt?«, stöhnt Pippa. Sie ist sich der Grausamkeit ihrer Äußerung überhaupt nicht be wusst.

Anns Miene verdüstert sich, ihre Augen werden schmal, aber sie ist zu tief getroffen, um etwas zu erwidern, und Pippa zu egoistisch, um es zu beme r ken. »Du meinst, ich bin reizlos«, sagt Ann schlie ß lich heiser.

»Genau«, erwidert Pippa und wirft mir einen triumphierenden Blick zu, der sagt, siehst du, wenig s tens ein Mensch hier in der Höhle versteht mein Un glück. Es dauert eine Sekunde, bis es Pippa dämmert. »Oh. Oh, Ann. Ich hab ’s nicht so gemeint.«

Ann wechselt die Hände, hält jetzt die linke über die Kerze.

»Ann, liebste Ann. Du musst mir verzeihen. Ich bin nicht so klug wie du. Ich meine nicht mal die Hälfte von dem, was ich sage.« Pippa legt ihre Arme um Ann, die nicht widerstehen kann, von jemandem, egal von wem, Zärtlichkeit zu erfahren, und sei es von einem Mädchen, dem sie nicht mehr bedeutet als beispielsweise ein passe n des Haarband. »Komm, e r zähl uns eine Geschichte. Lesen wir ein Stück aus dem Tagebuch von Mary Dowd!«

»Warum sollen wir uns mit etwas beschäftigen, von dem wir schon wissen, wie es endet?«, sagt Ann, wieder zu ih rer Kerze zurückkehrend. »Sie kommen im Feuer um.«

»Trotzdem. Ich möchte aus dem Tagebuch lesen!«

»Pippa, kannst du es nicht für heute gut sein lassen?«, seufze ich. »Wir sind nicht in der Stimmung.«

»Du hast gut reden. Du bist nicht diejenige, die gegen ihren Willen verheiratet wird!«

Der Himmel grollt, während wir hier zusammensitzen, meilenweit voneinander entfernt.

»Soll ich euch eine Geschichte erzählen? Eine ganz neue und schreckliche? Eine Geistergeschich te?«

Die Stimme, ein schwaches Echo in der riesigen Höhle, gehört Felicity. Sie dreht sich auf ihrem Fel sensitz herum, wendet uns das Gesicht zu und schlingt die Arme fest um ihre angezogenen Knie. »Seid ihr bereit? Kann ich anfa n gen? Es waren einmal vier Mädchen. Eine war hübsch. Ei ne war klug. Eine charmant und eine …« Sie sieht mich an. »Eine war geheimnisvoll. Aber sie alle waren beschädigt, versteht ihr. Jede hatte irgendeinen Fehler. Schlec h tes Blut. Verrückte Träume. Oh, das Wichtigste habe ich ausgela s sen. Tut mir leid, das hätte vorher ko m men sollen. Die vier Mädchen waren allesamt Trä u merinnen.«

»Felicity …«, sage ich, denn sie beginnt, mir Angst zu machen, sie selbst, nicht die Geschichte.

»Ihr wolltet eine Geschichte hören und ich erzähle euch eine.« Der Widerschein eines Blitzes zuckt über die Höh lenwand und taucht die eine Hälfte von Fel i citys Gesicht in Licht, die andere in Schatten. »Nacht für Nacht kamen die Mädchen zusammen. Und sie sündigten. Wisst ihr, was ihre Sünde war? Niemand? Pippa? Ann?«

»Felicity …« Pippa geht nicht darauf ein. Stattdessen sagt sie ängstlich: »Lasst uns zurückgehen und eine schöne Tasse Tee trinken. Es ist zu kalt hier draußen.«

Felicitys Stimme schwillt an, füllt den ganzen Raum. »Ihre Sünde war, dass sie sich etwas vor machten. Sie glaubten, sie k önnten anders sein. Be sonders. Sie glaubten, sie könnten die Dinge ändern. Sich ändern. Aufhören, das zu sein, was sie waren. Beschädigt. Ungeliebt. Außenseit e rinnen. Jemand anders werden –lebendig, beliebt, bewu n dert. Aber das stimmte nicht. Ich sagte ja, es ist eine Gei s terg e schichte. Eine Tragödie.«

Wieder ein Blitz, ein gewaltiger, eine, zwei, drei Sekunden, in denen ich Felicitys Gesicht sehe, tr ä nenüberströmt, mit tropfender Nase. »Sie wurden irregeführt. Betrogen von ihren eigenen dummen Hoffnungen. Nichts konnte sich ändern, weil sie nämlich gar nicht besonders waren. Und so holte sie die Wirklichkeit ein und sie gingen ihren vorg e zeichneten Weg. Versteht ihr? Sie schwanden vor ihren eigenen Augen dahin, bis sie nichts anderes mehr w a ren als lebende Geister, die einander auf jede mögliche und unmögliche Weise quälten.« Felicitys Stimme ist nur noch ein Hauch. »Ist das nicht die schaurigste Geschichte, die ihr je gehört habt?«

Das erbarmungslose Prasseln des Regens mischt sich mit Felicitys ersticktem Schluchzen. Ann hat aufgehört, ihre Hände zu martern. Jetzt starrt sie über die Flamme auf die Höhlenwände, die Zeugnis von der frühen Geschichte des Menschen ablegen und nichts versprechen. Pippa dreht u n ablässig den Ve r lobungsring an ihrem Finger, sodass mir ganz schwindelig wird.

Vielleicht ist es das gleichförmige Rauschen des Regens, das mich langsam verrückt macht. Vielleicht der Gedanke an die schöne Pippa, die an einen Mann verheiratet wird, den sie nicht liebt und der sie nicht liebt, der sie nur in se i nen Be s itz bringen will. Vie l leicht ist es die Vorstellung, dass Ann ihre Stimme verkümmern lässt, um sich für hochnäsige Aristokr a ten und ihre abscheulichen Kinder aufzuopfern. Oder Felicity, die versucht, ihre Tränen z u rückzuhalten. Oder die Tatsache, dass jedes Wort, das sie gesagt hat, wahr ist.

Wie auch immer, es gibt nur einen Ausweg, nämlich die Magie aus dem Magischen Reich hierher zu bringen. Ich denke an all die Mütter heute Nachmittag mit ihren aufg e putzten Kleidern und ihrem u n ausgefüllten Leben. Und ich denke an die Warnung meiner Mutter, dass ich noch nicht reif sei, um meine magischen Kräfte voll zu nutzen.

Aber ich bin es, Mutter. Ich bin es.

Draußen grollt ein gewaltiger Donner wie zur Warnung. Rings um mich im Halbdunkel der Höhle sind die in den Felsen geritzten Symbole, eingeätzt mit dem Blut und dem Schweiß von Frauen, die vor uns hier waren. Sie scheinen mir etwas zuzuflüstern.

Glaub an dich.

Ich sehe den Glanz von Pippas ungewolltem Ring. Höre, wie Ann angestrengt durch den Mund atmet. Fühle die stumme, aus dem uneingestandenen Wunsch geborene Verzweiflung.

Es muss etwas Besseres geben.

Meine Stimme steigt zum Dach der Höhle auf und schlägt einen Vogel in die Flucht.

»Es gibt einen Weg, die Dinge zu ändern …«