31. Kapitel

 

Am nächsten Morgen haben wir den Preis für unsere nächt lichen Experimente in Sachen Macht und Magie zu beza h len. Unsere Gesichter sind verquollen und bleich, unsere Lippen aufgesprungen. In meinem Kopf herrscht Nebel und ich bin so müde, dass ich kaum Englisch, geschweige denn Französisch sprechen kann. Keine sehr gute Vorau s setzung für die Stunde bei Mad e moiselle LeFarge. Dass ich reichlich spät zur Tür hereinstolpere, macht das alles nicht besser.

Mademoiselle LeFarge beschließt, mein Zuspätkommen zum Anlass für eine muntere Konversation zu nehmen. Nun, da ich ihre Musterschülerin bin, ein leuchtendes Be i spiel ihrer überragenden pädagog i schen Fähigkeiten, lässt sie sich auf ein Geplänkel mit mir ein. »Bonjour, Mad e moiselle Doyle. Quelle heure est-il?«

Ich weiß die Antwort. Sie liegt mir auf der Zungenspitze. Irgendwas über das Wetter, glaube ich. Wenn ich nur noch genügend magische Kraft übrig hätte, um mich auf Engelsschwingen über diese Stunde hinwegzuretten.

»Äh das Wetter ist …« Verflixt. Was ist das französ i sche Wort für Regen? Le pluie? La pluie? Ist »pluie« männlich oder w eiblich? Der Regen ist so lästig, dass er männlich sein muss. »Le heure est le pluie«, sage ich w e nig überzeugt, aber einde u tig französisch.

Die Mädchen kichern, was Mademoiselle LeFarge in ihrer Annahme bestärkt, ich würde mich über sie lustig m a chen. »Mademoiselle Doyle, das ist eine Schande. Erst vor zwei Tagen haben Sie sich als glänzende Schülerin e r wiesen. Und jetzt besitzen Sie die Unverschämtheit, mich zu verspotten. Vielleicht wären Sie in einer Klasse von Achtjährigen besser aufgehoben.« Sie kehrt mir den Rü cken zu und auch für die übrige Klasse scheine ich Luft zu sein.

 

 

Mrs Nightwing hat unsere Blässe bemerkt. Sie verordnet uns einen Spaziergang im Park, die frische Luft werde uns guttun und unsere Wangen rosig machen. Ich nutze die Ge legenheit, um meinen Freu n dinnen von meiner nächtlichen Begegnung mit Br i gid zu erzählen.

»Circe ist also niemand anderes als Sarah Rees-Toome. Und sie lebt.« Felicity schüttelt ungläubig den Kopf.

»Wir müssen dieses Foto finden«, sage ich.

»Wir sagen Mrs Nightwing, wir suchen nach einem verlorenen Handschuh. Sie wird uns erlauben, das Oberste zuunterst zu kehren. Dann durchsuchen wir der Reihe nach alle Räume«, schlägt Ann vor.

Pippa stöhnt. »Dafür brauchen wir ein Jahr.«

»Jede von uns übernimmt ein Stockwerk, wie wäre das?«, sage ich.

Pippa schaut mich mit großen Rehaugen an. »Müssen wir das wirklich?«

Ich schubse sie in Richtung Schule. »Ja.«

 

 

Nach einer Stunde Suchen habe ich die Fotografie noch immer nicht gefunden. Ich habe den dritten Stock so gründ lich umgekrempelt und bin so oft hin und her gelaufen, dass ich garantiert den Teppich durchgescheuert habe. Seufzend stehe ich vor den vorhandenen Klassenfotos und möchte sie zum Spr e chen bringen, möchte, dass sie mir etwas über den Verbleib des fehlenden Bildes sagen. Di e sen Gefa l len tun mir die jungen Damen nicht.

Es zieht mich zu der Fotografie des Jahres 1872, mit ihrer gewellten Oberfläche. Vorsichtig entferne ich das Bild von der Wand und drehe es um. Die Rückseite ist glatt, überhaupt nicht beschädigt. Ich betrachte wieder die well i ge Vorderseite. Das ist doch nicht möglich. Außer, es ist gar nicht dieselbe Fotografie.

Ungeduldig zerre ich an den Ecken. Hinter dem Bild im Rahmen befindet sich tatsächlich ein anderes Foto. Acht Mädchen sitzen im Halbkreis auf dem Rasen. Im Hinte r grund zeichnet sich die unverken n bare Silhouette des Schulgebäudes der Spence-Akademie ab. Unter dem Bild steht in säuberlicher Schrift Jahrgang 1871. Ich habe es gefunden! Am unteren Rand lassen sich folgende Namen entziffern.

Von links nach rechts: Millicent Jenkins, Susanna Mer i wether, Anna Nelson, Sarah Rees-Toome …

Mein Kopf schnellt hoch. Mein Finger nimmt die Fährte zu Sarah auf. Sie hat genau in dem Moment, in dem das Foto geknipst wurde, ihren Kopf zur Seite gedreht, sodass nur ein undeutliches, schwer wiede r erkennbares Profil zu sehen ist. Ich kneife die Augen zusammen, kann aber nicht sehr viel mehr ausm a chen.

Mein Finger wandert weiter zu dem Mädchen neben Sarah. Mein Mund wird trocken. Dieses Mä d chen blickt mit seinen klugen, durchdringenden A u gen –Augen, die ich mein Leben lang gekannt habe –direkt in die Kamera. Ich suche ihren Namen, o b wohl ich schon weiß, wie er lautet, der Name, den sie abgelegt und in einer Feuersbrunst z u rückgelassen hat, Jahre vor meiner Geburt. Mary Dowd.

Das Mädchen, das mir aus dem Klassenfoto von 1871 entgegenblickt, ist Mary Dowd meine Mutter.