5. Kapitel

 

Im Marmorsaal sind ungefähr fünfzig Mädchen versam melt, alle in ihren Samtcapes. Stimmengemurmel, unte r brochen durch gelegentliches Gekicher oder Gelächter, hallt von der hohen Decke wider. Glockengeläut verkündet, dass es Zeit ist, das Schulgebä u de zu verlassen und den Hügel hinauf zur Kapelle zu g e hen.

Ich blicke mich verstohlen um, ob ich ein paar Schülerinnen in meinem Alter entdecke. Ganz vorne in der Schlange ist eine kleine Gruppe von Mädchen, die wie sechzehn oder siebzehn aussehen. Sie st e cken die Köpfe zusammen und lachen. Eine von i h nen ist unglaublich schön, mit dunkelbraunem Haar und einem elfenbeinfarb e nen Gesicht. Sie ist wohl das schönste Mädchen, das ich je gesehen habe. Da sind noch drei andere, die sich irgendwie gleichen –alle sehr gepflegt, mit aristokratischen Nasen, jede von ihnen trägt einen kostbaren Kamm oder eine Br o sche, um trotz der Schuluniform ihren Stand zu betonen.

Eins der Mädchen fällt mir besonders auf. Sie scheint anders zu sein. Ihr weißblondes Haar ist zu einem ordentli chen Knoten gesteckt, wie es sich g e hört, trotzdem wirken die Haare ein bisschen wild, als wollten die Nadeln sie nicht w irklich zusammenhalten. Lebhafte graue Augen u n ter geschwungenen Augenbrauen blicken aus e i nem fein geschnittenen Gesicht mit seidigem, wie Perlmutt schi m merndem Teint. Sie amüsiert sich über irgendetwas, wirft ihren Kopf zurück und lacht herzhaft und völlig zwanglos. Und obwohl das dunkelhaarige Mädchen von volle n deter Schönheit ist, zieht die Blonde die Aufmer k samkeit aller in dem Raum auf sich. Sie ist eindeutig die Anführerin.

Mrs Nightwing klatscht in die Hände und das Gemurmel verebbt. »Ich möchte Ihnen unsere neueste Schülerin der Spence-Akademie für junge Damen vorstellen. Das ist Gemma Doyle. Miss Doyle kommt aus Shropshire und ist in der ersten Klasse. Sie hat den größten Teil ihres Lebens in Indien ve r bracht und wird bestimmt sehr gerne bereit sein, I h nen Geschichten über die vielen fremden Sitten und Gebräuche dort zu erzählen. Ich bin sicher, Sie we r den sie in bester Tradition unserer Schule willko m men heißen und mit den Gepflogenheiten hier in Spence vertraut machen.«

Ich sterbe tausend grausame und unnatürliche Tode unter den neugierigen Blicken von fünfzig A u genpaaren, die auf mich gerichtet sind und mich anstarren wie ein exot i sches Tier. All meine Hoffnu n gen, unbeachtet zu bleiben und nicht weiter zur Kenntnis genommen zu werden, wu r den durch Mrs Nightwings kleine Rede zunichte gemacht. Das blonde Mädchen legt den Kopf schief und taxiert mich. Sie unterdrückt ein Gähnen und wendet sich wieder dem Geplauder mit ihren Freundinnen zu. Vielleicht werde ich schließlich doch unbeachtet bleiben.

Mrs Nightwing zieht ihr Cape eng um ihre Schultern und weist mit ausgestrecktem Arm den Weg. »Lasst uns zur Abendandacht gehen, Mädchen.«

Während die anderen in einer ordentlichen Reihe aus der Tür strömen, steuert Mrs Nightwing mit ei nem Mädchen im Schlepptau auf mich zu. »Miss Doyle, das ist Ann Bradshaw, Ihre Zimmergenossin. Miss Bradshaw ist fün f zehn und ebenfalls in der er s ten Klasse. Sie wird Sie heute Abend begleiten, d a mit Sie sich zurechtfinden.«

»Guten Abend«, sagt Ann Bradshaw mit einem ausdruckslosen Blick ihrer wässrigen blauen Augen. Ich denke an die pedantisch glatt gestrichene Step p decke und erwarte nicht von ihr, dass sie Spaß ve r steht.

»Freut mich, dich kennenzulernen«, antworte ich. Einen Moment lang stehen wir verlegen da, ohne ein Wort zu sa gen. Ann Bradshaw ist ein pummeliges, unansehnliches Ding, was ihre missliche Lage ve r doppelt. Ein hübsches Mädchen ohne Geld könnte seine Chance im Leben vie l leicht verbessern. Ihre Nase läuft. Sie betupft sie mit einem verschlissenen Spitzentaschentuch.

»Ist es nicht schrecklich, einen Schnupfen zu haben?«, sage ich und versuche, einen herzlichen Ton anzuschlagen.

Der ausdruckslose Blick verändert sich nicht. »Ich hab keinen Schnupfen.«

Prima. War ja nur eine Frage. Gleich werden wir uns stürmisch um den Hals fallen, Miss Bradshaw und ich. Wenn es möglich wäre, würde ich auf der Stelle von hier verschwinden.

»Hier gehts zur Kapelle«, sagt sie, mit diesem sprühen den Konversationsbeitrag das Eis brechend. »Wir dürfen nicht zu spät zur Abendandacht ko m men.«

 

 

Wir gehen am Ende der Gruppe, hügelauf durch den Wald auf die aus Stein und Holzbalken erbaute Ka pelle zu. Nebel hat sich gebildet. Er breitet sich auf dem Boden aus und verleiht dem ganzen Ort eine unheimliche Atmosphäre. Vor uns flattern die blauen Capes der Mädchen in der Nachtluft, bevor der dichter werdende Nebel alles ve r schluckt bis auf die Echos ihrer Stimmen.

»Warum hat dich deine Familie hierher geschickt?«, fragt Ann auf eine äußerst ruppige Art.

»Um mich zu zivilisieren, nehme ich an.« Ich hänge ein kleines Lachen an. Siehst du, wie lustig ich bin? Ha, ha. Ann lacht nicht.

»Mein Vater starb, als ich drei war. Meine Mutter musste arbeiten gehen, aber dann ist sie krank g e worden und auch gestorben. Ihre Familie wollte mich nicht bei sich aufnehmen, aber sie wollten mich auch nicht in ein A r menhaus stecken. Also haben sie mich hierher geschickt, um mich zur Gouvernante ausbi l den zu lassen.«

Ihre Ehrlichkeit ist verblüffend. Ich weiß nicht recht, was ich erwidern soll. »Oh, das tut mir leid«, sage ich, als ich meine Sprache wiedergefunden h a be.

Diese stumpfen Augen halten mich fest. »Tut es das wirklich?«

»Ja klar. Warum denn nicht?«

»Weil die Leute das meistens nur sagen, um das Thema zu beenden. Sie meinen es nicht wirklich.«

Sie hat recht und ich werde rot. Wie oft habe ich selbst erleben müssen, dass Leute sich über meine Situation so geäußert haben. Im Nebel stolpere ich über eine dicke Baumwurzel, die auf dem Pfad aus der Erde ragt, und stoße den Lieblingsfluch meines Vaters aus.

»Verdammt!«

Prompt fährt Anns Kopf hoch. Zweifellos ist sie eine von der zimperlichen Sorte, die sofort zu Mrs Nightwing rennen wird, wenn ich sie nur mal schief anschaue.

»Entschuldige, es ist mir einfach so herausgerutscht«, sage ich in der Hoffnung, den Schaden wiedergutzuma chen. Ich will mir nicht gleich am ersten Tag eine Strafpr e digt anhören müssen.

»Keine Sorge«, sagt Ann und schaut sich um, ob uns jemand belauscht. Da wir uns am Ende der Prozession be finden, besteht keine Gefahr. »Die Dinge hier sind nicht ganz so perfekt, wie Mrs Nightwing sie darstellt.«

Das ist allerdings eine hochinteressante Neuigkeit. »Tatsächlich? Wie meinst du das?«

»Ich sollte wirklich nicht darüber reden«, antwortet sie.

Das Läuten der Glocke, gemischt mit gedämpftem Stimmengemurmel, durchdringt den Nebel. Sonst ist es still. Der Nebel verschluckt jedes Geräusch. »Das wäre ein ausgezeichneter Ort für einen mitternächtlichen Spazie r gang«, sage ich mit gespielter Munte r keit. Ich habe mir sagen lassen, die Leu t e lieben muntere Mädchen. »Vie l leicht kommen später die Werwölfe zum Spielen heraus.«

»Außer zum Abendgebet dürfen wir nach Einbruch der Dunkelheit nicht nach draußen«, antwortet Ann sachlich.

Von wegen Munterkeit. »Warum nicht?«

»Es ist gegen die Regeln. Außerdem finde ich es hier nachts unheimlich.« Sie macht eine Pause und putzt sich ihre laufende Nase. »Im Wald sind manchmal Zigeuner.«

Ich denke an die alte Frau vorhin an meiner Kutsche. »Ja, ich glaube, ich habe eine getroffen. Nannte sich Mutter soundso …«

»Mutter Elena?«

»Ja, genau.«

»Sie ist total verrückt. Halt dich nur ja von ihr fern. Sie könnte ein Messer haben und dich im Schlaf erstechen«, sagt Ann atemlos.

»Sie wirkte ganz harmlos …«

»Man weiß nie, meinst du nicht?«

Ich weiß nicht, ob es am Nebel liegt oder an den Glocken oder an Anns Furchtsamkeit, aber ich gehe jetzt ein wenig rascher.

»Du bist mit mir in der ersten Klasse.«

»Ja«, sage ich. »Wer sind die anderen?«

Sie zählt die Namen der Reihe nach auf. »Und Felicity und Pippa.« Ann verstummt, plötzlich wirkt sie nervös.

»Felicity und Pippa. Was für reizende Namen«, sage ich fröhlich. Es ist eine abgeschmackte Bemer kung, aber ich brenne darauf, mehr über diese zwei Mädchen zu e r fahren.

Ann senkt ihre Stimme. »Sie sind nicht reizend. Überhaupt nicht.«

Die Glocke hört endlich auf zu läuten und eine seltsame Stille bleibt zurück. »Nicht? Halb Mädchen, halb Wolf? Schlecken sie ihre Buttermesser ab?«

Ann findet meine Bemerkung nicht nur nicht amüsant, sondern sie warnt mich mit kaltem, hartem Blick. »Sei vor sichtig. Trau ihnen nicht …«

Eine heisere Stimme hinter uns schneidet ihr das Wort ab. »Redest du schon wieder zu viel, Ann?«

Wir fahren herum und sehen zwei Gesichter aus dem Nebel auftauchen. Die Blonde und die Schöne. Sie müssen zurückgeblieben und hinter uns herg e schlichen sein. Die raue Stimme gehört der Blonden. »Hast du vergessen, dass das eine sehr unschöne Ei genschaft ist?«

Anns Unterkiefer fällt herunter, aber sie antwortet nicht.

Die Brünette lacht und flüstert der Blonden etwas ins Ohr, was diese wieder über das ganze Gesicht grinsen lässt. Sie zeigt auf mich. »Du bist die Neue, stimmt ’s?«

Mir gefällt nicht, wie sie das sagt. Die Neue. Als wäre ich eine unbekannte Spezies, die bisher noch nicht klassifi ziert wurde. Homo horribilis, weiblich. »Gemma Doyle«, sage ich und bemühe mich, nicht zu blinzeln oder als Erste wegzuschauen. Ein Trick, den mein Vater anwendete, wenn er über einen Preis verhandelte. Jetzt verhandle ich über etwas noch Wichtigeres –meinen Platz in der Hac k ordnung von Spence.

Die Blonde sieht mich einen Moment lang wortlos an, dann wendet sie sich mit eisigem Blick an Ann. »Klatsch ist eine sehr schlechte Angewohnheit. Hier in Spence du l den wir keine schlechten Angewohnhe i ten, Mademoiselle Stipendiatin«, sagt sie, die beiden letzten Worte verächtlich betonend. Will heißen: Vergiss nicht, dass du nicht derse l ben Klasse ang e hörst und demnach nicht erwarten kannst, gleich b e handelt zu werden. »Du wurdest gewarnt.«

»Schön, Sie kennengelernt zu haben, Miss Doll«, sagt sie, während sie sich bei der Brünetten einhängt, die im Vorbeigehen gegen meine Schulter stößt.

»Tut mir schrecklich leid«, sagt diese und biegt sich vor Lachen. Wenn ich ein Mann wäre, würde ich sie verprü geln. Aber ich bin kein Mann. Ich bin hier, um eine feine Dame zu werden. Egal, wie sehr es mich schon anwidert.

»Komm«, sagt Ann mit zitternder Stimme, sobald sie weg sind. »Zeit zu beten.« Ich weiß nicht, ob sie das auf die Situation bezieht oder in erster Linie auf sich selbst.

 

 

Wir treten in die stille, dunkle Kapelle ein und steuern auf die Bänke zu. Unsere Schritte hallen auf dem Marmorb o den. Das Deckengewölbe aus Holzbalken ragt gut fünf Me ter hoch über uns auf. Kandelaber reihen sich an den Se i tenwänden des Innenraums a n einander und werfen lange Schatten auf die hölzernen Kirchenstühle. Bunte Glasfen s ter filtern das Licht, farbenprächtige Anpreisungen Gottes, ländliche Szenen mit Engeln, die Dinge tun, wie En gel sie eben tun –Dorfleute besuchen, ihnen gute Nachric h ten überbringen, Schafe hätscheln, Babys wiegen. Ein selts a mes Tafelbild zeigt ein abgetrenntes Gorgonenhaupt, n e ben dem ein gepanzerter Engel steht und ein bluttri e fendes Schwert schwingt. Ich kann mich nicht erinnern, diese merkwürdige Bibelgeschichte schon einmal gehört zu h a ben –und ich bin auch nicht wirklich darauf erpicht. Es ist ziemlich grausig, also we n de ich meine Aufmerksamkeit dem Altar zu, wo ein Pfarrer steht, lang und dünn wie eine Vogelscheuche.

Der Pfarrer, Reverend Waite, spricht Gebete, die alle mit »O Herr« beginnen und damit enden, dass wir irgendwie nicht würdig sind –Sünder, die immer Sünder gewesen sind und immer Sünder bleiben werden, bis wir sterben. Nicht gerade die optimi s tischste Aussicht. Aber immerhin werden wir erm u tigt, in unseren Anstrengungen nicht nachzulassen.

Ich muss Ann und die anderen beobachten, um zu wissen, wann ich niederknien und wann ich wieder aufstehen soll und wann ich zum Lobgesang den Mund zu bewegen habe. Meine Familie ist auch an g likanisch, aber in Indien sind wir nur selten in die Kirche gegangen. An den Son n tagen nahm mich meine Mutter zu Picknicks unter dem glühenden, wolkenlosen Himmel mit. Wir saßen auf De cken und lauschten dem Wind, der über das trockene Land fe g te und uns um die Ohren pfiff.

»Dies ist unsere Kirche«, pflegte meine Mutter zu sagen, während sie mit den Fingern mein Haar durchkämmte.

Mein Herz schlägt ungerührt in meiner Brust, während meine Lippen Worte formen, die ich nicht empfinde. Mut t er sagte immer, die meisten Englä n der beteten nur dann mit Herz und Seele, wenn sie von Gott etwas wollten. Was ich mir von Gott am meisten wünsche, ist, dass meine Mu t ter zu mir z u rückkommt. Das ist nicht möglich. Wenn es das w ä re, würde ich Tag und Nacht beten, zu welchem Gott auch immer.

Der Pfarrer setzt sich und Mrs Nightwing erhebt sich. Ann stöhnt leise, kaum hörbar. »O nein. Sie wird eine Rede halten.«

»Macht sie das bei jeder Abendandacht?«, frage ich.

»Nein«, sagt Ann und wirft mir von der Seite einen Blick zu. »Sie tut das deinetwegen.«

Plötzlich fühle ich sämtliche Augenpaare auf mich gerichtet. Fein, das wird mich bei allen auf Anhieb beliebt machen.

»Meine Damen«, beginnt Mrs Nightwing. »Wie Sie wissen, genießt Spence seit zwanzig Jahren den Ruf als eines der besten Mädchenpensionate von England. Während es unsere Aufgabe ist, Sie die n ö tigen Kenntnisse zu lehren, um Englands zukünftige Ehefrauen und Mütter zu werden, ist es an Ihnen, Ihre Seelen zu stärken und sich Grazie, Charme und Schönheit zu erwerben. Denn dies ist das Mo t to von Spence: Grazie, Charme und Schönheit. Wir wollen uns erheben und es alle gemeinsam sagen.«

Es knistert und raschelt, als fünfzig Mädchen strammstehen und das Gelübde sprechen. »Danke. Sie können sich wieder setzen. Diejenigen von I h nen, die dieses Jahr zu uns zurückgekehrt sind, sollen beispielgebend für die anderen sein. Von jenen, die neu zu uns gekommen sind« –Mrs Nightwing l ässt ihren Adlerblick durch die Kapelle wa n dern, bis sie mich neben Ann erspäht –»erwarten wir nichts w e niger, als dass sie ihr Bestes geben.«

Im Glauben, damit seien wir entlassen, erhebe ich mich von meinem Sitz. Ann zieht an meinem Rock. »Sie hat erst angefangen«, flüstert sie.

Und wirklich, Mrs Nightwing erstaunt mich mit einer nicht enden wollenden Predigt über Tugend, gute Manie ren, geeignetes Frühstücksobst, den u n günstigen Einfluss der Amerikaner auf die britische Gesellschaft und ihre zär t lichen Erinnerungen an ihre eigene Schulzeit. Zeit hat ke i ne Bedeutung mehr.

Kerzenschatten wandern über die Wände und lassen unsere Gesichter geisterhaft und hohl aussehen. Die Kapelle ist alles andere als ein tröstlicher Aufenthaltsort. Sie ist g e spenstisch. Ganz bestimmt kein Ort, wo ich nach Einbruch der Dunkelheit allein sein möchte. Der bloße Gedanke da r an lässt mich scha u dern.

Schließlich beendet Mrs Nightwing ihre weitschweifige Rede, was mich dazu bewegt, mein eig e nes stummes Dankgebet gen Himmel zu schicken. Reverend Waite liest noch einen Segensspruch und dann sind wir zum Abende s sen entlassen.

Eines der älteren Mädchen steht an der Tür. Als wir an ihr vorbeikommen, streckt sie ihren Fuß vor, sodass Ann der Länge nach hinfällt. Die Augen des Mädchens gleiten über uns hinweg, wo sie ein paar Köpfe weiter hinten die Blonde und die Brünette, Felicity und Pippa, erspähen.

Ich halte Ann meine Hand hin und helfe ihr auf die Füße. »Bist du in Ordnung?«

»Ja«, sagt sie mit dem gleichbleibend starren Blick, der ihr einziger Gesichtsausdruck zu sein scheint.

Das Mädchen geht um sie herum. »Du solltest wirklich besser aufpassen.« Die anderen strömen an uns vorbei, werfen uns Blicke zu, kichern.

»Grazie, Charme und Schönheit«, sagt Felicity, als sie vorüberschwebt. Ich stelle mir vor, wie sie aussehen wür de, wenn ihr jemand im Schlaf die Haare abschneiden wü r de. Meine erste Abendandacht hat mich nicht in ein Ge schöpf von ausgeprägter Näch s tenliebe verwandelt.

Draußen hat sich der Nebel in eine dicke graue Suppe verwandelt, die unsere Beine umgibt. Unten, am Fuß des Hügels, erstreckt sich der verschwommene Umriss des ri e sigen Schulgebäudes, durchbr o chen von schmalen silbrigen Lichtstreifen aus den erleuchteten Fenstern. Nur ein Flügel des Hauses liegt in völliger Dunkelheit. Ich nehme an, es ist der Ostflügel, der durch das Feuer zerstört wurde. Er wirkt bedrohlich, als warte er. Worauf, das weiß ich nicht.

Da, eine Bewegung. Zu meiner Rechten. Ein weiter schwarzer Mantel, der zwischen den Bäumen hindurchläuft und im Nebel verschwindet. Meine Beine fühlen sich wie Gummi an.

»Hast du das gesehen?«, frage ich mit zitternder Stimme.

»Was?«

»Dort drüben. Da läuft jemand in einem schwarzen Cape herum.«

»Nein. Das ist der Nebel. Der macht, dass du Dinge siehst.«

Ich weiß, was ich gesehen habe. Jemand stand dort wartend u nd beobachtete uns.

»Es ist kalt«, sagt Ann. »Lass uns schneller gehen, ja?«

Sie läuft voraus und der Nebel hüllt sie ein, bis sie nur noch ein blauer Fleck ist, der Schatten eines Mädchens, der sich in n ichts auflöst.