1. Kapitel
»Bitte sag nicht, dass die zu meinem Geburtstagsessen he u te Abend gehört.«
Ich starre einer Kobra in die Augen. Eine überraschend rosafarbene Zunge züngelt aus ihrem gra u samen Mund, während ein blinder Inder meiner Mutter seinen Kopf zuneigt und auf Hindi erklärt, dass Kobras eine schmackhafte Mahlzeit a b geben.
Meine Mutter streckt einen weiß behandschuhten Finger aus, um die Schlange zu streicheln. »Was meinst du, Ge m ma ? Möchtest du Kobra essen, nun, wo du sechzehn bist?«
Mir graut vor dem schlüpfrigen Ding. »Danke, ich glaube nicht.«
Der alte, blinde Inder lächelt zahnlos und hält mir die Kobra näher hin. Ich taumle zurück und stoße gegen einen hölzernen Stand voll kleiner Statuen von indischen Got t heiten. Eine der Statuen, eine Frau mit unzähligen Armen und einem furchterregenden Ge sicht, fällt zu Boden. Kali, die Vernichterin . Vor Kurzem hat mir Mutter vorgewo r fen, ich hätte mir diese Göttin zu meiner persönlichen Schut z patronin erwählt. Mutter und ich kommen in letzter Zeit nicht besonders gut miteinander aus. Sie behauptet, das liege daran, dass ich ge r ade in einem unmöglichen A l ter sei. Ich erkläre jedem, der es hören will, es li e ge einzig und allein daran, dass sie sich weigert, mich nach London zu schicken.
»Ich habe gehört, in London muss man seinen Mahlzeiten nicht zuerst die Zähne ziehen«, sage ich. Wir lassen den Mann mit der Kobra ste hen und tauchen in die Mensche n menge ein, die sich auf dem Marktplatz von Bombay drängt. Mutter antwortet nicht, scheucht stattdessen einen Drehorgelspieler mit seinem Affchen fort. Es ist unerträ g lich heiß. Unter meinem Baumwollkleid mit den Reifr ö cken rinnt mir der Schweiß in Strömen am Körper hinab. Die Fliegen –meine glühendsten Verehrer –schwirren um mein Gesicht. Ich schlage nach einem der geflügelten kle i nen Biester, aber es entwischt mir und ich könnte fast schwören, dass ich höre, wie es mich au s lacht. Mein Elend nimmt epidemische Ausmaße an.
Über uns ballen sich dicke, dunkle Wolken zusammen, ein warnendes Zeichen, dass wir uns in der Monsunzeit befinden, wo von einer Minute zur nächsten Regenfluten vom Himmel stürzen können. Der staubige Basar summt von den Stimmen der Männer mit ihren Turbanen, sie schnattern und rufen und feilschen und strecken uns mit braunen, sonnenverbrannten Händen Seidenstoffe in leuc h tenden Farben entgegen. Überall sind Karren, behängt mit Strohkörben, in denen alle möglichen Waren und essbaren Dinge zum Kauf angeboten werden –zierliche Kupferv a sen, geschnitzte Holzkästchen mit verschlungenen Bl u menmustern und in der Hitze reife n de Mangos.
»Wie weit ist es denn noch zum neuen Haus von Mrs Talbot? Können wir nicht einen Wagen neh men?«, frage ich mit, wie ich hoffe, merklicher Ver d rossenheit.
»Es ist ein schöner Tag für einen Spaziergang. Und ich wäre dir dankbar, wenn du einen höflicheren Ton an schlägst.«
Meine Verdrossenheit wurde sehr wohl bemerkt.
Sarita, unsere langjährige Haushälterin, bietet mir in ihrer ledrigen Hand Granatäpfel an. »Memsahib, die sind sehr schmackhaft. Vielleicht bringen wir sie Ihrem Vater mit, ja?«
Wenn ich eine gute Tochter wäre, würde ich meinem Vater ein paar Granatäpfel mitbringen, würde mich darauf freuen, sein dröhnendes Lachen zu h ö ren, während er die saftige rote Frucht aufschneidet und dann, wie ein richtiger britischer Gentleman, die winzigen Samen mit einem Si l berlöffel isst.
»Er wird nur seinen weißen Anzug bekleckern«, brumme ich. Meine Mutter öffnet den Mund, um etwas zu erw i dern, besinnt sich eines Besseren und seufzt –wie üblich. Wir haben immer alles zusa m men gemacht, meine Mutter und ich –alte Tempel besichtigt, die Bräuche der Gegend kennengelernt, Hindufeste besucht. Und wir sind oft bis tief in die Nacht aufgeblieben, um die im Kerzenlicht e r strahlenden Straßen zu sehen. Jetzt nimmt sie mich kaum noch zu gesellschaftlichen Anlässen mit. Es ist, als wäre ich eine Aussätzige.
»Er wird seinen Anzug bekleckern. Das tut er im mer«, murmle ich zu meiner Verteidigung, obwohl mir niemand Beachtung schenkt außer dem Dreho r gelspieler und seinem Äffchen. Sie folgen mir auf Schritt und Tritt in der Hof f nung, für ihre Darbietu n gen etwas Geld zu bekommen. Der hohe Spitzenkr a gen meines Kleides ist schweißgetränkt. Ich sehne mich nach dem kühlen, saftigen Grün En g lands, das ich nur aus den Briefen meiner Großmu t ter kenne. Briefe voller Klatsch und Tratsch über Teegesel l schaften und Bälle und Skandale in den h ö heren Ständen, während ich im staubigen, langweiligen Indien hocke und dem Af f chen eines Drehorge l spielers zusehe, das seit Jahren den gleichen Taschenspiele r trick vorführt.
»Guckt mal, das Affchen, Memsahib. Wie entzückend es ist!« Sarita sagt es, als wäre ich erst drei Jahre alt und hi n ge am Rockzipfel ihres Saris. Niemand scheint zu begre i fen, dass ich erwachsene sechzehn bin und nach London will, nein, muss, in die Nähe von Theatern, Bällen und von Männern, die älter als sechs und jünger als sechzig sind.
»Sarita, der Affe ist ein dressierter Dieb, der dir im Handumdrehen deinen Lohn aus der Tasche ziehen wird«, sage ich mit einem Seufzer. Wie aufs Stic h wort klettert der haarige Bengel auf meine Schulter und streckt seine flache Hand aus. »Wie würde es dir gefallen, dein Leben in einem Geburtstagseintopf zu beenden?«, frage ich mit zusa m mengebissenen Zähnen. Das Äffchen faucht. Mutter ve r zieht tadelnd das Gesicht über mein schlechtes Benehmen und lässt eine Münze in den Becher des Besitzers fallen. Das Äffchen grinst triumphierend und springt über me i nen Kopf, bevor es das Weite sucht.
Ein Händler streckt uns eine Maske mit gebleckten Zähnen und Elefantenohren hin. Mutter nimmt sie wortlos und hält sie sich vors Gesicht. »Wo bin ich?«, ruft sie. Es ist ein Spiel, das sie mit mir g e spielt hat, seit ich laufen kann –eine Art Verstec k spiel, um mich zum Lächeln zu bringen. Ein Kinde r spiel.
»Ich sehe immer noch meine Mutter«, sage ich gelangweilt. »Die gleichen Zähne, die gleichen Ohren.«
Mutter gibt dem Händler die Maske zurück. Ich habe sie in ihrer Eitelkeit gekränkt.
»Und ich stelle fest, dass es meiner Tochter nicht sehr gut bekommt, sechzehn zu werden«, sagt sie.
»Ja, ich bin sechzehn. Sechzehn. Ein Alter, in dem die meisten anständigen Mädchen ihre Schulbildung in London erhalten.« Ich lege besondere Betonung auf das Wort a n ständig, in der Hoffnung, damit an ein mütterliches Grun d bedürfnis zu appellieren.
»Die sieht mir noch ein wenig grün aus.« Sie betrachtet konzentriert eine Mango. Die Inspektion der Frucht nimmt ihre volle Aufmerksamkeit in A n spruch.
»Niemand hat versucht, Tom in Bombay festzuhalten«, sage ich, den Namen meines Bruders als letzten Trumpf ausspielend. »Er ist schon vier Jahre dort! Und jetzt b e ginnt er mit dem Studium.«
»Bei Männern ist das etwas anderes.«
»Das ist ungerecht. Ich werde nie eine Chance haben. Ich werde als alte Jungfer mit Hunderten von Katzen en den, die Milch aus Porzellannäpfen tri n ken.« Ich breche in Tränen aus. Weinen macht häs s lich, aber ich bin machtlos dagegen und kann nicht aufhören zu heulen.
»Ich verstehe«, sagt Mutter schließlich. »Möchtest du in den Ballsälen der Londoner Gesellschaft wie eine Preisstu te vor g eführt werden, um deine Zuch t qualitäten abschätzen zu lassen? Würdest du London immer noch so bezaubernd finden, wenn du wegen des kleinsten Regelverstoßes zum Ziel böswilliger Gerüchte wirst? London ist nicht so idy l lisch, wie es in den Briefen deiner Großmutter scheint.«
»Was soll ich dazu sagen? Ich habe es ja nie gesehen.«
»Gemma …« Mutters Ton ist beschwörend, auch wenn das unveränderliche, für die Inder bestimmte Lächeln nicht aus ihrem Gesicht weicht. Sie sollen nicht denken, wir Engländerinnen seien so unfein, Meinungsverschiedenhe i ten auf der Straße auszutr a gen. Wir reden nur übers Wetter, und wenn das We t ter schlecht ist, tun wir, als bemerkten wir es nicht.
Sarita kichert nervös. »Wie ist’s möglich, dass Memsa hib jetzt eine junge Dame ist? Mir scheint, als hätten Sie gestern noch im Kinderzimmer gespielt. Oh, schaun Sie nur, Datteln! Ihre Lieblingsspeise.« Sie verzieht den Mund zu einem Lächeln voller Zahnlücken, das jede einzelne der tief eingegrabenen Runzeln in ihrem Gesicht lebendig we r den lässt. Es ist heiß und plötzlich möchte ich schreien und davo n laufen, weg von allem und jedem hier.
»Diese Datteln sind wahrscheinlich im Innern faulig. Genau wie Indien.«
»Gemma, jetzt reicht es.« Mutter heftet ihre durchdringenden grünen Augen auf mich. Die gle i chen leuchtend grünen Augen mit den hochgewöl b ten Brauen, die ich auch habe. Die Inder finden sie beunruhigend, verwirrend. Als würde man von einem Geist beobachtet. Sarita lächelt auf ihre Füße hinu n ter und zupft mit den Händen an ihrem braunen Sari. Ich fühle einen Anflug von schlechtem Ge wissen, weil ich etwas so Hässliches über ihr Heimatland gesagt habe. Unsere Heimat, obwohl ich mich gerade ni r gendwo wirklich zu Hause fühle.
»Memsahib, Sie wollen bestimmt nicht nach London. Grau und kalt ist es da und es gibt keine Dat teln. Es würde Ihnen nicht gefallen.«
Mit schrillem Pfiff fährt ein Zug in der Nähe der glitzernden Bucht ins Depot. Bombay. »Gute Bucht« heißt das, obwohl mir im Moment nichts Gutes dazu einfällt. Dunkler Qualm steigt aus der Lokomotive hoch bis zu den dicken Wolken hinauf. Mutter sieht gedankenverloren zu.
»Ja, kalt und grau.« Sie führt eine Hand an ihren Hals, betastet das kleine silberne Medaillon, ein Auge über ei nem Halbmond, das dort an einer Kette hängt. Ein Ge schenk eines Dorfbewohners, sagt Mutter. Ihr Glücksbri n ger. Ich habe sie nie ohne dieses Amulett gesehen.
Sarita legt eine Hand auf Mutters Arm. »Es ist Zeit zu gehen, Memsahib.«
Mutter reißt ihren Blick von dem Zug los und lässt die Hand sinken. »Ja, richtig. Mrs Talbot erwartet uns. Es wird bestimmt ganz reizend werden. Ich bin sicher, sie hat kös t liche Leckereien für deinen Ge burtstag vorbereitet …«
Ein Mann mit einem weißen Turban und einem weiten schwarzen Mantel stolpert von hinten in sie hinein und rempelt sie hart an.
»Bitte tausendmal um Vergebung, verehrte gnädige Frau.« Er lächelt, verbeugt sich tief zur Entschu l digung für seine g robe Unachtsamkeit. Dabei sehe ich hinter ihm e i nen jungen Mann stehen, der den gleichen seltsamen Ma n tel trägt. Für einen Moment starren der junge Mann und ich einander in die A u gen. Er ist kaum älter als ich, siebzehn schätzung s weise, mit brauner Haut, einem vollen Mund und den längsten Wimpern, die ich je gesehen habe. Ich weiß, ich sollte indische Männer nicht attraktiv finden, aber ich kenne nicht viele junge Männer und ich spüre, dass ich rot werde, ob ich will oder nicht. Er wendet den Blick ab und reckt den Hals, um über die Menge zu schauen.
»Können Sie nicht aufpassen«, herrscht Sarita den älteren Mann an und droht ihm mit erhobenem Arm. »Wehe, Sie sind ein Dieb, dann ergeht ’s Ihnen schlecht.«
»Nein, nein, Memsahib, ich bin nur schrecklich ungeschickt.« Sein Lächeln erlischt und mit ihm auch die aufg e setzte Miene des fröhliche n Tollpatschs. Leise, in akzen t freiem Englisch flüstert er meiner Mutter zu: »Circe ist n a he.«
Diese Worte ergeben für mich überhaupt keinen Sinn, ich halte sie für das bloße Ablenkungsmanöver eines geris senen Diebes. Das will ich meiner Mutter gerade auch s a gen, doch der Ausdruck blanken Entsetzens auf ihrem Ge sicht schnürt mir die Kehle zu. Mit wildem Blick fährt sie herum und sucht die übe r füllten Straßen ab, als halte sie nach einem verlor e nen Kind Ausschau.
»Was ist los? Was ist passiert?«, frage ich.
Die Männer sind plötzlich fort. Sie sind in der hastenden Menge verschwunden, nur ihre Fußspuren haben sie im Staub zurückgelassen. »Was hat der Mann zu dir gesagt?«
Die Stimme meiner Mutter ist scharf wie eine Stahlklinge. »Nichts. Er war offensichtlich verwirrt. Die Straßen sind heutzutage nicht sicher.« Ich habe meine Mutter noch nie so gehört. So hart. So voller Angst. »Gemma, ich gla u be, ich gehe am besten a l lein zu Mrs Talbot.«
»Aber … aber was ist mit dem Kuchen?« Es ist lächer lich, das zu sagen, aber heute ist mein Ge burtstag, und wenn ich auch nicht darauf erpicht bin, ihn in Mrs Talbots Wohnzimmer zu verbringen, so will ich mich ganz b e stimmt nicht allein zu Hause langweilen, nur weil irgend so ein schwarz gekleideter Verrückter und sein Kumpan me i ner Mutter einen Schrecken eingejagt haben.
Mutter zieht ihren Schal eng um ihre Schultern. »Wir werden später Kuchen essen …«
»Aber du hast versprochen …«
»Ja, aber das war, bevor …« Ihre Worte bleiben in der Luft hängen.
»Bevor was?«
»Bevor du mich so geärgert hast! Wirklich, Gemma, du bist heute nicht in der richtigen Stimmung für einen Be such. Sarita wird dich zurückbegleiten.«
»Meine Stimmung ist ausgezeichnet«, protestiere ich, aber der Ton straft meine Worte Lügen.
»Nein, ist sie nicht!« Mutters grüne Augen treffen meine. Da ist etwas, was ich noch nie zuvor darin gesehen h a be. Ein ungeheurer Zorn, der mir den Atem raubt. So schnell, wie er über sie gekommen ist, ist er verflogen und Mutter ist wieder Mutter. »Du bist übermüdet und brauchst Ruhe. Heute Abend wollen wir feiern und ich werde dir erla u ben, ein wenig Champagner zu trinken.«
Ich werde dir erlauben, ein wenig Champagner zu trinken. Das ist kein Versprechen –es ist ein Vo r wand, um mich loszuwerden. Es gab eine Zeit, da haben wir alles gemeinsam gemacht, und jetzt kö n nen wir nicht einmal mehr zusammen über den Basar gehen, ohne uns in die Haare zu kriegen. Ich bin eine Enttäuschung. Eine Tochter, die sie nirgendwohin mitnehmen will, nicht nach London und nicht einmal ins Haus einer alten Schachtel, die schwachen Tee macht.
Wieder durchschneidet ein schriller Pfiff des Zugs die Luft und lässt Mutter zusammenfahren.
»Hier, du kannst meine Halskette tragen, hmmm? Komm schon, nimm sie. Ich weiß, dass du sie immer be wundert hast.«
Ich stehe still und stumm, während ich ihr erlaube, mir die Halskette umzulegen, die ich tatsächlich im mer haben wollte. Aber jetzt drückt sie mich nieder. Ein Bestechung s geschenk. Mutter wirft nochmals einen hastigen Blick auf den staubigen Marktplatz, bevor sie ihre grünen Augen auf mir ruhen lässt. »So. Du schaust … richtig erwachsen aus.« Sie presst i h re behandschuhte Hand an meine Wange, hält sie dort, als wollte sie sich mit ihren Fingern meine Züge ei n prägen. »Bis später zu Hause.«
Niemand soll die Tränen in meinen Augen sehen, also suche ich nach dem Gemeinsten, was ich sagen kann. Be vor ich über den Marktplatz davonstürme, kommt es über meine Lippen: »Es ist mir egal, ob du überhaupt wieder nach Hause kommst.«