30. Kapitel
»Ich denke … jetzt … ist es so weit«, sagt Felicity und zieht den Vorhang aus Schals beiseite, gerade im richtigen Mo ment. Ein ohrenbetäubendes Kreischen von Cecily und El i za beth schlägt uns entgegen, gefolgt vom Aufschrei Mrs Nigh t wings: »Gütiger Himmel !«
Cecily und Elizabeth sind vollkommen nackt, ihre Kleider im Raum verstreut –ein Strumpf quer über das Sofa drapiert, ein Unterhemd zusammengeknüllt auf dem Fu ß boden. Unter gellendem Geschrei bedecken sie sich –w e nig erfolgreich –mit ihren Armen. Cecily versucht allen Ernstes, Elizabeth als menschlichen Schutzschild zu benu t zen, während Elizabeth weinend an Cecilys Haaren zieht.
»Was hat das bitte zu bedeuten!«, poltert Mrs Nightwing.
Der Raum brodelt wie ein Hexenkessel vom schockierten Gekicher der Mädchen, die mit ausgestrec k ten Fingern auf die beiden zeigen. Schließlich kommt ihnen Miss Mo o re zu Hilfe und hüllt ihre Nacktheit in eine Decke. Dann zieht Mrs Nightwing die zwei auf den Gang hinaus und wir können hören, wie sich ihre Stimme in geradezu opernreife Höhen erhebt.
»Also, das war eine Glanzleistung!« Felicity wie hert vor La c hen. Ann strahlt. Ihre Rache war in der Tat süß. In mir breitet sich jenes gewisse freudige Kribbeln über etwas aus, das ich später bereuen werde. Ich versuche, nicht da r über nachzudenken. Mein Blick fällt auf Miss Moore, die mich durchdringend ansieht. Wahrscheinlich ist es mein schlechtes Ge wissen, das sich meldet, aber ich könnte schwören, dass sie weiß, was ich getan habe.
Soeben hat Pippa etwas gesagt, was erneut hysterisches Gelächter hervorruft. Ich habe nicht mitb e kommen, was es war. Ich beobachte Miss Moore, die auf uns zukommt.
»Sind Sie unter die Hyänen gegangen?«, fragt sie und steckt ihren Kopf in das Zelt.
Wir versuchen uns zu beruhigen.
»Verzeihen Sie, Miss Moore. Wir sollten nicht darüber lachen. Diese Vorführung war äußerst scho ckierend«, sagt Felicity, mühsam das Kichern in ihrer Stimme unterdr ü ckend.
»Ja. Schockierend. Und sehr seltsam«, sagt Miss Moore. Wieder fällt ihr Blick auf mich. Ich starre zu Boden. »Darf ich hereinkommen?«
»Ja, bitte«, antwortet Pippa und macht auch schon Platz im Zelt.
»Ich war bisher noch nie in Ihrem innersten Heiligtum. Es ist hübsch hier drinnen.«
»Ich weiß einen anderen Ort, der noch viel schöner ist«, antwortet Felicity. Ich werfe ihr einen wa r nenden Blick zu.
»Wirklich? Ein Ort, den ich kenne?«
»Oh, das glaube ich nicht. Es ist ein geheimer Ort. Eine Art privates Paradies.« Felicity lächelt ver träumt.
»Dann verratet es mir lieber nicht. Ich weiß nicht, ob mir im Paradies zu trauen wäre.«
Sie lacht herzlich, fast mädchenhaft. Ich versuche mir vorzustellen, wie Miss Moore als Mädchen ge wesen sein mag. War sie folgsam? Grausam? Rebe l lisch? Schüchtern? Hatte sie eine gute Freundin und einen Geheimplatz, wohin sie sich vor der Welt z u rückziehen konnten? War sie je so wie wir?
»Was lesen Sie da?« Das Tagebuch liegt direkt vor ihrer Nase. Ann greift danach, aber Miss Moore ist schneller. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als Miss Moore das Tagebuch in ihren Händen herumdreht und einen prüfe n den Blick darauf wirft.
Felicity reagiert prompt. »Es ist nur so eine alberne Liebesgeschichte. Wir haben es in der Bibliothek gefunden. Wie Sie es uns geraten haben.«
»Ich habe Ihnen dazu geraten?«
»In die Bibliothek zu gehen, meine ich.«
Miss Moore schlägt das Buch auf. Wir wagen nicht, uns anzuschauen.
›»Das geheime Tagebuch von Mary Dowd‹. Aha …« Ein Blatt fällt heraus und segelt zu Boden. »Was ist das?«
Lieber Gott! Die Illustration! Felicity und ich wer fen einander fast um, als wir uns beide gleichzeitig auf das verbotene Bild stürzen, um es aufzuheben, bevor sie es sich schnappt.
»Nichts«, sagt Felicity. »Nur eine belanglose Kritzelei.«
»Ich verstehe.« Miss Moore blättert eine Seite um und dann noch eine.
»Wir lesen uns abwechselnd laut vor«, erklärt Ann.
Miss Moore hebt ihre Augen nicht von der Seite, während sie sagt: »Vielleicht leiste ich Ihnen heute Abend Ge sellschaft. Würden Sie mir das Vergnügen machen?«
Als könnten wir ablehnen.
»Natürlich«, sagt Felicity mit belegter Stimme. »Ich zeige Ihnen, wo wir aufgehört haben. Ich gla u be, wir sind schon fast fertig.«
Miss Moore überfliegt die Seite, die sie in Händen hält. Sie lässt sich Zeit und spannt uns endlos auf die Folter. Ich bin sicher, dass sie jeden Moment au f springen und Mrs Nightwing herbeiholen wird. Doch schließlich erfüllt ihre warme, tiefe Stimme das Zelt.