13. Kapitel
Kurz nach Mitternacht schleichen wir uns hinaus, huschen im Schein der Laterne durch den Wald und bis tief in den dunklen Bauch der Höhle hinein. Fel i city zündet Kerzen an, die sie aus einem Schrank gestohlen hat. In Minute n schnelle ist die Höhle erleuchtet und die Felszeic h nungen tanzen wieder an den Wänden. Die Köpfe der Morrigan drehen und wenden sich in dem gespenst i schen Licht wie lebendige Wesen, bis ich wegscha u en muss.
»Puh, es ist so feucht hier drinnen«, sagt Pippa, unbehaglich auf dem Höhlenboden hin und her rutschend. Fe licity ist es gelungen, Pippa zum Mitkommen zu überr e den, die bis jetzt nichts anderes getan hat, als sich über alles und jedes zu beklagen. »Hat irgendjemand daran g e dacht, etwas zu essen mitzubringen? Ich bin am Verhu n gern.«
Ihr Blick fällt auf Ann, die einen Apfel aus der Tasche ihres Capes geholt hat. Der Apfel liegt in ihrer Hand, wäh rend sie mit sich kämpft, ob sie ihrem A p petit nachgeben oder sich beliebt machen soll. Nach einem quälenden Mo ment der Entscheidung bietet sie ihn Pippa an. »Du kannst meinen Apfel haben.«
»Naja, besser als nichts«, sagt Pippa seufzend. Sie greift nach dem Apfel, aber Felicity kommt ihr zu vor.
»Halt, noch nicht. Wir müssen die Sache richtig machen. Erst wollen wir darauf trinken.«
Mit funkelnden Augen holt sie die Flasche mit dem Messwein hervor. Pippa bricht in ein Jubelge schrei aus und wirft ihre Arme um Felicity. »Oh, Fee, du bist brillant!«
»Ja, das bin ich wohl, nicht wahr?«
Ich möchte sie daran erinnern, dass ich es war, die Kopf und Kragen, Seelenheil und Rausschmiss ris kiert hat, um den Wein zu holen, aber ich weiß, es wäre sinnlos und ich würde mich nur lächerlich m a chen.
»Was ist das?«, fragt Ann.
Felicity rollt mit den Augen. »Lebertran. Was denkst du denn, was es ist?«
Die Farbe weicht aus Anns Gesicht. »Es ist kein Alkohol, oder?«
Pippa fasst sich theatralisch an den Hals. »Um Himmels willen, nein!«
Ann wird klar, auf was sie sich da eingelassen hat. Sie versucht, das Beste daraus zu machen, indem sie den Spott auf jemand anderen abwälzt. »Meine Da men, meiden Sie alkoholische Getränke«, sagt sie, Mrs Nightwings morali n saure Stimme imitierend. Die Nachahmung ist perfekt und wir alle lachen. Ann ist so begeistert, dass sie den Spaß so oft wiederholt, bis es uns auf die Nerven geht.
»Jetzt hör schon auf«, sagt Felicity scharf. Ann versteckt sich wieder hinter ihrer Maske.
»Mrs Nightwing verzichtet abends bestimmt nie auf ihren Sherry. Ach; was sind sie doch alle für scheinheilige Heuchlerinnen. Prost«, sagt Pippa und nimmt einen kräft i gen, wenig damenhaften Schluck aus der Flasche.
Sie reicht die Flasche an Ann weiter, die mit der Hand die Öffnung abwischt und zögert.
»Komm schon, sie beißt nicht«, sagt Felicity.
»Ich hab noch nie Alkohol getrunken.«
»Wirklich? Ich bin schockiert.« Pippa kichert in gespieltem Erstaunen und unwillkürlich frage ich mich, wie es wäre, die Flasche über ihre wunderhü b schen Löckchen zu gießen.
Ann will die Flasche weiterreichen, aber Felicity bleibt hart. »Trink oder du bist aus dem Klub raus. Du kannst al lein nach Spence zurückgehen.«
Anns Augen verdunkeln sich. Die verwöhnten Gören haben keine Ahnung, wie qualvoll es für Ann ist, gegen die Internatsregeln zu verstoßen. Die finden immer eine Mö g lichkeit, sich aus einer heiklen Ge schichte herauszumogeln, aber für Ann könnte eine Übertretung das Aus bedeuten.
»Lass sie in Ruhe, Felicity.«
»Du wolltest, dass sie mitkommt – nicht wir«, sagt Feli city gnadenlos. »Keine weiteren Zugeständnisse. Wenn sie dabei sein will, muss sie trinken. Das Gle i che gilt für dich.«
»Also gut. Her damit«, sage ich. Die Flasche wird an mich weitergereicht.
»Und dass du’s nicht wieder reinspuckst«, spottet Felici ty.
Der Geruch, der mir in die Nase steigt, als ich die Flasche an meine Lippen setze, ist süß und herb zugleich. Ein Duft, d er alles beinhaltet, was mit Macht, Magie und ve r botenen Dingen zu tun hat. Die Flüssigkeit rinnt brennend durch meine Kehle und nimmt mir den Atem, ich huste und spucke.
»Ah, der Rebensaft des Lebens.« Felicity setzt ein teuflisches Grinsen auf und alle lachen, sogar Ann. Wartet nur, das zahle ich euch heim.
Nur mit Mühe würge ich hervor: »Was ist das?« Zumindest ist das kein Wein, wie ich ihn bei meinen Eltern g e kostet habe. Eher handelt es sich um etwas, was die Dienstboten zum Schrubben der Böden ve r wenden.
Felicity strahlt, wie ich sie noch nie habe strahlen sehen. »Whiskey. Du hast zufällig Reverend Waites eiserne Re serve erwischt.«
Die Schärfe des Alkohols treibt mir Tränen in die Augen, aber wenigstens atme ich wieder. Eine übe r raschende Wärme durchströmt meinen ganzen Kö r per, macht meine Glieder angenehm schwer. Ich will mehr davon, aber Fel i city hat die Flasche schon geschnappt und zu Ann g e schickt, die wie ein braves Mädchen ihre Medizin schluckt, ohne eine Miene zu verziehen. Nachdem auch Felicity i h ren Schluck g e nommen hat, ist die Initiation vollzogen. Wozu, das ist mir noch immer nicht klar. Die Flasche geht noch ein paarmal im Kreis herum, bis wir alle wackelig auf den Beinen sind wie neugeborene Kälber. Ich habe das Ge fühl zu schweben. Ich könnte tagelang so dahinschweben. Die wirkliche Welt mit ihren Kümmernissen und Enttä u schungen dringt nicht bis in unsere rauschhafte Trunke n heit vor. Die Wirklichkeit wartet irgendwo dort draußen, aber wir sind zu taumelig, um uns d arum zu kümmern. Während ich das Flimmern der Felswände beobachte, u n termalt vom leisen Gemurmel meiner neuen Freundinnen, frage ich mich, ob dieses Gefühl dem meines Vaters in se i nem Laudanumkokon gleicht. Keine Schmerzen, nur das ferne Anklopfen der Erinnerung. Der Geda n ke tut weh und erfüllt mich mit tiefer Traurigkeit.
»Gemma, bist du in Ordnung?« Es ist Felicity, die sich aufsetzt und mich besorgt ansieht. Erst jetzt merke ich, dass ich weine.
»Es ist nichts«, sage ich und wische mir mit dem Handrücken über die Augen.
»Sag nicht, dass du eine von denen bist, die vor Selbstmitleid zerfließen, wenn sie betrunken sind.« Es ist scher z haft gemeint, aber die Tränen fließen daraufhin noch he m mungsloser.
»Also für dich jetzt keinen Tropfen mehr. Da, iss etwas.« Felicity stellt die Flasche hinter einen Stein und gibt mir den nach wie vor unangebissenen Apfel. »Diese Party wird allmählich langweilig. Wer von euch hat eine gute Idee?«
»Wenn das hier ein Klub ist, brauchen wir dann nicht einen passenden Namen dafür?« Pippa hat i h ren Kopf gegen einen Felsen gelehnt. Ihre Augen glänzen vom Whiskey.
»Wie wär’s mit den Jungfrauen von Spence?«, schlägt Ann vor.
Felicity zieht ein Gesicht. »Hört sich nach alten Jungfern mit schlechten Zähnen an.«
Ich lache etwas zu laut, aber ich bin froh, dass die Tränen versiegt sind, auch wenn ich noch ein bis s chen schluchze.
»Das war nur mein erster Gedanke«, faucht Ann. Der Whiskey hat ihr Raubtierfänge wachsen lassen.
»Sei nicht so bissig«, gibt Felicity scharf zurück. »Hier, trink noch was.«
Ann schüttelt den Kopf, aber die Flasche bleibt in Felicitys ausgestreckter Hand, also nimmt Ann mit offensichtl i cher Abscheu noch einen Schluck.
Pippa klatscht in die Hände. »Ich hab’s –nennen wir uns die Ladys von Shalott!«
»Heißt das, wir werden alle sterben?«, frage ich und beginne, unkontrolliert zu kichern. Mein Kopf ist eine Feder im Wind.
Felicity stimmt in mein Gelächter ein. »Gemma hat recht. Viel zu trübsinnig.«
Die Namen sprudeln aus uns heraus, dabei biegen wir uns vor Lachen über die total überspannten »Priesterinnen der Athene«, »Töchter der Perseph o ne« und stöhnen über das gänzlich unmögliche »Kleeblatt der Liebe«. Schlie ß lich verstummen wir und lehnen uns Schulter an Schulter gegen die Felsen. An den Wänden jagen und springen die Götti n nen, frei von allen Zwängen, diese Schöpferinnen ihrer e i genen Gesetze, deren Einhaltung sie streng überw a chen.
»Warum nennen wir uns nicht der Orden des aufgehenden Mondes?«, sage ich.
Felicity springt so schnell auf, dass mich der kühle Luftzug erschauern lässt. »Absolut perfekt! Gemma, du bist ein Genie.« Etwas verlegen drehe ich den Stiel des Apfels in meiner Hand, bis er mit einem Knacks abbricht. Felicity zieht meine Hand mit dem Apfel an ihren Mund und beißt in die Frucht. Ihre Lippen sind noch klebrig süß davon, als sie mich voll auf den Mund küsst. Ich muss ihn mit der Hand a b wischen, um das Kribbeln auf meinen Lippen zu ve r treiben.
Felicity hebt meinen Arm mitsamt dem Apfel hoch, indem sie mein Handgelenk fest umklammert. »Meine Da men, der wiedergeborene Orden des au f gehenden Mondes lebe hoch !«
»Er lebe hoch!«, rufen wir alle im Chor und das Echo unserer Stimmen hallt in Wellen von den Wänden der Höh le wider. Sogar Pippa umarmt mich. Wir sind aufgekratzt, belebt durch unser neues Gehei m nis, durch unser Gefühl der Zusammengehörigkeit und die Aussicht, jetzt etwas zu haben, was uns hilft, den trostlosen, gleichförmigen Alltag zu durchbrechen. Ich möchte, dass diese Stimmung für immer anhält.
»Glaubst du, es hat wirklich solch einen Frauenorden gegeben?«
Felicity schnauzt: »Sei nicht albern, Pip. Es ist eine Legende.«
Pippa ist beleidigt. »Es war nur so ein Gedanke.«
Ich will nicht, dass der Zauber dieses Abends so schnell zerbricht. »Und wenn es wahr ist?« Ohne nachzudenken, ziehe ich das schmale, in Leder g e bundene Tagebuch aus meiner Tasche.
»Was ist das?«, fragt Ann.
»Das geheime Tagebuch von Mary Dowd.«
Ann ist besorgt, sie könnte etwas verpasst haben.
Ich sage ihnen, was ich über Mary Dowd, ihre Freundin Sarah und ihre Zugehörigkeit zum Orden weiß. Felicity reißt mir das Tagebuch aus der Hand, die anderen schauen ihr über die Schultern, die Se i ten fliegen nur so, immer schneller, je weiter sie lesen, und der Mund steht ihnen o f fen vor Staunen.
»Seid ihr schon bei der Stelle, wo sie in den Garten geht?«, frage ich.
»Über die sind wir schon hinaus«, sagt Felicity.
»Wartet einen Moment! Weiter bin ich selber noch gar nicht gekommen! Wo seid ihr jetzt?« Ich klinge wie ein weinerliches Kind.
»Fünfzehnter März. Hier, ich lese jetzt laut«, sagt Felicity.
Sarah und ich waren heute ziemlich dreist und haben das Magische Reich wieder betreten, ohne die Begleitung unserer Sch western . wir fürchteten z u erst, wir hätten uns verirrt, da wir uns in einem dunklen, von Nebel erfüllten Wald mit vielen umhe r irrenden Wesen befanden, lauter armen, unglückl i chen, verlorenen Seelen, die uns um Hilfe anflehten, doch es gab nichts, was wir für sie tun konnten. Eu genia sagt …
»Eugenia! Glaubt ihr, sie meint Mrs Spence?«, fragt Ann.
Wir alle machen »pst« und Felicity fährt fort.
Eugenia sagt, sie können nicht ins Jenseits eingehen, solange sie ihren Seelenfrieden nicht gefunden haben. Ma n che dieser verirrten Seelen finden nie Erlösung, sie sind ve r dammt und werden dunkle Geister, die Unheil jeder Art hervorbringen. Sie werden in die Winterwelt verbannt, eine Welt aus Feuer, Eis und Schatten. Nur die stärksten und klüg s ten unserer Schwestern dürfen d orthin, weil einem die dunklen Mächte jener Welt tausend Verheißungen zuflü s tern können. Sie machen dich zur Sklavin deines Mach t strebens, wenn du sie nicht zu bannen weißt. Wer solch e i nem bösen Geist Gehör schenkt und sich ihm verschreibt, der könnte das Gleichg e wicht des Magischen Reichs für immer stören.
Felicity bricht ab. »Oh, ehrlich, das ist der miserabelste Versuch eines Schauerromans, den ich je gel e sen habe. Das Einzige, was fehlt, sind knarrende Schlosstreppen und eine Heldin, die in Gefahr ist, ihre Unschuld zu verlieren.«
Pippa setzt sich aufrecht hin und stößt unter Gekicher hervor: »Lasst uns weiterlesen und sehen, ob sie ihre Un schuld verlieren !«
Heute waren wir wieder in jenem Garten der Schönheit, wo einem seine größten Wünsche erfüllt werden …
»Das klingt schon besser«, sagt Felicity. »Da geht’s be stimmt um handfeste Dinge.«
Süß duftendes Heidekraut, in der Farbe von Wein, wie g te sich unter einem orangegoldenen Himmel. Wir lagen darin wie im Paradies, ein Schnippen mit den Fingern g e nügte, um einen Grashalm in einen Schmetterling zu ve r wandeln. Allein durch unseren Wunsch und Willen konnten wir unsere Vorstellu n gen verwirklichen. Die Schwestern zeigten uns wu n derbare Dinge: Heilkünste, Liebes - und Schönheit s zauber …
»Oooh, die möchte ich kennenlernen!«, ruft Pippa aus. Felicity hebt ihre Stimme, um ihr zu sagen, sie solle gefäl ligst den Mund halten.
… die Fähigkeit, uns vor den Blicken anderer zu verber gen, d en Willen von Männern dem Orden zu unterwerfen, ihre Ged anken und Träume zu beei n flussen. Es stand alles in dem Orakel der Runen g e schrieben. Wir mussten nur jene kristallenen Stäbe leicht mit unseren Händen berühren und schon wir k ten sie wie eine Rohrleitung, durch die das Unive r sum hindurchströmte, machtvoll und schnell wie ein Fluss. Der Sog war so gewaltig, dass wir nur für Se kunden dort verharren konnten. Aber als wir uns davon lösten, w a ren wir im Innern verändert. »Ihr wurdet geöffnet«, sagten unsere Schwestern …
Pippa kichert. »Vielleicht haben sie ihre Unschuld zu guter Letzt doch verloren.«
»Würdet ihr mir freundlicherweise erlauben, fertig zu lesen?«, knurrt Felicity.
… und das spürten wir auch. Wir trugen unser kleines bisschen Magie in uns durch den Schleier in diese Welt. Unsere erste Probe aufs Exempel mac h ten wir beim Abendessen. Sarah starrte auf ihre fade Brotsuppe, schloss die Augen und verkündete, es sei Fasanenbrühe. Und g e nauso sah die Suppe nun aus und sie schmeckte auch so, jeder Löffel voll. Sie war so gut, dass Sarah hinterher grinste und sagte: Ich möchte noch mehr davon.
Ich bin so tief in Gedanken versunken, dass ich gar nicht bemerkt habe, dass Felicity aufgehört hat zu lesen. Es ist still bis auf das Geräusch des Wassers, das von den Wä n den tropft. »Wo hast du das bloß her?« Felicity schaut mich an, als hätte ich etwas verbrochen.
Na ja, ein kleiner Kobold hat mich in der Nacht zu ihm geführt. Passiert dir das nie?
»Aus der Bibliothek«, lüge ich.
»Und hast du wirklich gedacht, es sei ein echter Beweis für die Existenz des Ordens?«, fragt Felicity ungläubig.
»Nein, natürlich nicht«, lüge ich. »Ich wollte euch nur einen kleinen Spaß bereiten.«
Felicity hält mit gespieltem Ernst das Tagebuch hoch. »Ich wurde geöffnet, meine Schwestern. Von nun an soll das un ser heiliger Schmöker sein. Wir wollen jedes Treffen mit e i ner Lesung aus diesem packenden« –sie wirft einen Blick zu mir herüber –»und absolut wahren Tagebuch b e ginnen.«
Pippa bricht in lautes Jubelgeschrei aus. »Ich finde, das ist eine fabelhafte Idee!« Ihre Zunge übe r schlägt sich und macht »flabelhaft« daraus.
»Hei Warte, es gehört mir«, sage ich und greife nach dem Tagebuch, aber Felicity steckt es in die Tasche.
»Ich dachte, du hättest gesagt, es sei aus der Bibliothek«, sagt Ann.
»Hal Gut gemacht, Ann.« Pippa lächelt ihr zu und ich bedaure schon den Beginn ihrer Freundschaft. Meine Lüge hat zur Folge, dass ich jetzt ohne das Buch dastehe und nicht mehr herausfinden kann, was mit mir geschieht, was meine Visionen bedeuten mögen. Aber ich habe keine Chance, das Buch z u rückzubekommen, wenn ich ihnen nicht die ganze Wahrheit sage, und dazu bin ich nicht b e reit. Nicht, bevor ich selbst mehr verstehe.
Ann gibt die Flasche wieder an mich, aber ich winke ab.
»Je ne voudrais pas le whiskey«, nuschle ich in meinem schrecklichen Französisch.
»Wir müssen dir mit deinem Französisch helfen, Gemma, bevor dich die LeFarge in eine niedrigere Klasse ve r setzt«, sagt Felicity.
»Warum hast du es so mit dem Französischen?«, frage ich gereizt.
»Zu Ihrer Information, Miss Doyle, zufälligerweise führt meine Mutter einen berühmten Salon in Pa ris.« Sie spricht das Wort Salon französisch aus. »Die besten Schriftsteller aus ganz Europa waren bei meiner Mutter zu Gast.«
»Deine Mutter ist Französin?«, frage ich. Meine Gedanken sind ein bisschen vernebelt vom Whiskey. Ich finde bei allem einen Grund zum Kichern.
»Nein, sie ist Engländerin. In direkter Linie mit den Yorks verwandt. Aber sie lebt in Paris.«
Warum lebt sie nicht hier, wohin ihr Mann zurückkehren wird, wenn sein Dienst für Ihre Majestät beendet ist? »Le ben deine Eltern nicht zusammen?«
Felicity durchbohrt mich mit ihrem Blick. »Mein Vater ist die meiste Zeit auf See. Meine Mutter ist eine schöne Frau. Warum sollte sie nicht in Paris die Gesellschaft von Freunden genießen?«
Ich weiß nicht, was ich Falsches gesagt habe. Ich setze zu einer Entschuldigung an, aber Pippa lässt mich nicht zu Wort kommen.
»Ich wünschte, meine Mutter würde einen Salon führen. Oder irgendetwas Interessantes machen. Sie hat nichts Bes seres zu tun, als mich mit ihrer ständ i gen Krittelei in den Wahnsinn zu treiben. ›Pippa, du sollst nicht so daherschlu r f en. Auf diese Weise wirst du nie einen Mann bekommen. –Pippa, wir müssen zu jeder Zeit auf unsere Erscheinung achten. –Pippa, was du selbst von dir hältst, ist nicht ann ä hernd so wichtig wie das, was die anderen von dir halten.‹ Und dazu noch ihr neuester Protege –der plumpe, aufg e blasene Mr Bumble.«
»Wer ist Mr Bumble?«, frage ich.
»Pippas Verlobter«, sagt Felicity. Dabei lässt sie sich ihre Worte auf der Zunge zergehen.
»Er ist nicht mein Verlobter!«, faucht Pippa.
»Nein, aber er wäre es gerne. Warum würde er sonst ständig zu Besuch kommen?«
»Er muss mindestens fünfzig sein!«
»Und sehr reich, sonst würde ihn dir deine Mutter nicht auf dem Silbertablett präsentieren.«
»Mutter denkt an nichts anderes als an Geld.« Pippa seufzt. »Es passt ihr nicht, dass Vater spielt. Sie fürchtet, er könnte noch unser ganzes Geld verlieren. Deswegen ist sie so versessen darauf, mich an einen reichen Mann zu ve r heiraten.«
»Wahrscheinlich wird sie jemanden mit einem Klumpfuß und zwölf Kindern finden, alle älter als du.« Felicity lacht.
Pippa schüttelt sich. »Ihr solltet ein paar von den Männern sehen, die sie vor mir antanzen ließ. Einer war einen Meter vierzig groß!«
»Das kann nicht dein Ernst sein!«, sage ich.
»Na ja, vielleicht einen Meter fünfzig.« Pippa lacht und es ist so ansteckend, dass wir uns bald in hysterischen Krämpfen winden. »Ein anderes Mal hat sie mir einen Mann vorge s tellt, der mich beim Tanzen ständig in den Po gezwickt hat. Könnt ihr euch das vorstellen? ›Oh, ich liebe Walzer ! ‹ Zwick, zwick. ›Wollen wir einen Punsch tri n ken? ‹ Zwick, zwick. Ich hatte eine Woche lang blaue Fl e cken.«
Unsere Stimmung entlädt sich in einem wilden, zügellosen Gelächter. Langsam verebbt es bis auf gelegentliches Glucksen und Pippa sagt: »Ann, Gemma. Ihr habt es gut. Wenigstens braucht ihr euch keine Sorgen über unmögl i che Mütter zu machen, die jeden eurer Schritte kontrolli e ren.«
Alle Luft weicht aus meinen Lungen. Felicity tritt Pippa hart ans Schienbein.
»Au, das war aber nicht sehr nett!« Pippa reibt theatralisch ihr Bein.
»Sei nicht so wehleidig«, sagt Felicity verächtlich, aber als ich ihrem Blick begegne, ist ein Funken Freundlichkeit darin und ich verstehe, dass sie es für mich getan hat. Zum ersten Mal frage ich mich, ob wir vielleicht wirklich Freundinnen werden könnten.
»Wie ekelhaft!« Ann hat das Tagebuch durchgeblättert. Dabei ist ihr eine Zeichnung in die Hände gefallen. Sie wirft das lose Blatt weg, als könnte sie sich daran verbre n nen.
»Was ist damit?« Pippa stürzt hin, ihre Neugier ist größer als ihr Stolz. Wir beugen uns tief über das Bild. Es zeigt eine Frau mit Weintrauben im Haar, die sich mit e i nem Mann im Tierfell und einer g e hörnten Maske auf dem Kopf paart. Die Unterschrift lautet: Der Lustgarten von Sarah Rees-Toome.
Wir ringen nach Luft und nennen es widerlich, während jede von uns versucht, einen besseren Blick darauf zu erh a schen.
»Mir scheint, er ist schon gesprungen«, sage ich mit einer so hohen kicherigen Stimme, dass ich sie kaum als meine eigene erkenne.
»Was tun die?«, fragt Ann, indem sie sich rasch wieder abwendet.
»Sie legt sich hin und denkt an Englandl«, schreit Pippa, den Satz zitierend, den jede englische Mutter ihrer Tochter über den Geschlechtsakt sagt. Es ist nicht vorgesehen, dass wir Freude daran haben. Wir sollen unsere Gedanken nur darauf richten, Babys für die Zukunft des britischen Wel t reichs zu machen und unsere Männer zu befriedigen. Aus irgendeinem Grund taucht Kartiks Gesicht vor mir auf. Seine von dichten langen Wimpern umrahmten Augen kommen näher, meine Lippen öffnen sich und eine selts a me Wärme breitet sich von meinem Bauch in meinen ga n zen Körper aus.
»Ann, sag nicht, du hast keine Ahnung, was Männer und Frauen tun, wenn sie zusammen sind. Soll ich ’s dir ze i gen?« Felicity rutscht vom Felsen und drückt sich an Ann, die zurückweicht.
»Nein, danke«, flüstert sie.
Felicity schaut ihr einen Moment lang in die Augen, dann leckt sie genüsslich über Anns Wange. Entsetzt wischt Ann sie ab. Felicity lacht nur und lässt sich rüc k wärts gegen einen niedrigen Felsen fallen, die Arme über den Kopf gestreckt. Das Mi e der ihres Kleids spannt über ihren vollen Brüsten. Sie starrt auf einen Punkt über uns e ren Köpfen. »Ich werde v iele Männer haben.« Sie sagt das so sachlich, als würde sie übers Wetter reden, aber ihr muss klar sein, dass es skandalös ist.
Pippa weiß nicht, ob sie empört schnauben oder kichern soll, also tut sie beides. »Felicity, das ist schockierend!«
Felicity ist auf den Geschmack gekommen. Unser Unbehagen stachelt sie nur noch mehr an. »Jawohl. Scharen von Männern! Mitglieder des Parlaments und Stallburschen. Mauren und Iren. In Ungnade g e fallene Herzöge! Könige!«
Pippa hält sich die Ohren zu. »Iiihh!«, schreit sie. »Ich will nichts mehr hören!« Aber nichtsdestotrotz lacht sie. Sie liebt Felicitys Schamlosigkeit.
Felicity springt auf, wirbelt herum wie ein tanzender Derwisch. »Ich werde Präsidenten und Indus t riemogule haben! Schauspieler und Zigeuner! Dic h ter und Künstler und Männer, die dafür sterben würden, nur den Saum me i nes Kleides zu küssen!«
»Du hast Prinzen vergessen!«, ruft Ann mit einem kleinen, schuldbewussten Lächeln.
»Prinzen!«, jubelt Felicity. Sie nimmt Anns Hände und tanzt mit ihr im Kreis herum, sodass ihre blon den Haare fliegen.
Pippa springt auf die Füße und schließt sich dem Kreis an. »Und Troubadoure!«
»Und Troubadoure, die die Juwelen meiner Augen besingen!«
Auch ich schließe mich an, mitgerissen vom Strudel. »Vergiss nicht Jongleure und Akrobaten und Admirale!«
Felicity hält mitten im Tanz inne. Ihre Stimme ist kalt. »Nein. Keine Admirale.«
»Tut mir leid, Felicity. Ich hab mir nichts dabei gedacht«, sage ich. Ich streiche mein Kleid glatt, während Pippa und Ann verlegen auf ihre Füße sta r ren. Die Stille zwischen uns knistert wie elektrisch geladen –eine einzige Berührung, ein falsches Wort und wir gehen in Flammen auf. Die Flasche ist in Felicitys Hand. Sie nimmt einen la n gen, kräftigen Schluck, krümmt sich unter der Stärke des Whiskeys zusammen und wischt sich mit dem Rücken i h rer weißen Hand über die feuchten, dunklen Lippen.
»Lasst uns ein Ritual vollziehen, ja?«
»W-w-was f-f-für ein R-r-ritual?« Ann merkt nicht, dass sie sich ein paar Schritte von uns entfernt hat, auf das gäh nende Maul der Höhle zu.
»Ich hab’s – wir könnten einen Schwur leisten!« Pippa ist mit sich sehr zufrieden.
»Es muss stärker sein als das«, sagt Felicity, die Augen in weite Ferne gerichtet. »Schwüre kann man brechen. Wir wollen ein Blutritual vollziehen. Wir brauchen etwas Scharfes.« Ihr Blick fällt auf mein Amulett. »Das eignet sich gut, denke ich.«
Instinktiv fasst meine Hand danach. »Was hast du vor?«
Felicity atmet aus und rollt dramatisch mit den Augen. »Ich werde dich ausweiden und deine Ge därme im Hof auf einen Pfahl spießen als Warnung für diejenigen, die großen Schmuck tragen.«
»Es gehörte meiner Mutter«, sage ich. Alle schauen mich e rwartungsvoll an. Schließlich beuge ich mich dem schweigenden Druck und gebe Felicity die Halskette.
»Merci.« Felicity macht einen Knicks. Mit einer schnel len Bewegung setzt sie die scharfe Kante des Monds ein und schneidet in die Kuppe ihres Fingers. Sofort quillt Blut hervor.
»Hier«, sagt sie und schmiert ihr Blut über meine beiden Wangen. »Zur Besiegelung unseres Paktes.«
Sie gibt die Kette an Pippa weiter, die eine Grimasse schneidet. »Ich kann nicht glauben, dass du das wirklich von mir verlangst. Es ist einfach anim a lisch. Ich hasse den Anblick von Blut.«
»Schön. Dann werde ich es für dich machen. Schließ deine Augen.« Felicity ritzt die Haut an Pip pas Finger und Pippa brüllt, als wäre sie tödlich verwundet. »Lieber Hi m mel, du atmest noch, oder nicht? Sei nicht so zimperlich.« Felicity nimmt Pi p pas Finger und streicht das Blut über Anns rote Wangen. Im Gegenzug wischt Ann mit ihren blut i gen Fingern über Pippas Porzellanhaut.
»Beeil dich. Mir wird gleich schlecht. Ich spür’s«, wimmert Pippa.
Schließlich bin ich an der Reihe. Die scharfe Spitze des Monds schwebt über meinem Finger. Ich e r innere mich an den Schnipsel eines Traums –ein Sturm, meine Mutter, die schreit, meine Hand, offen, verletzt.
»Komm schon«, drängt Felicity. »Sag nicht, dass ich es auch für dich machen muss.«
»Nein«, sage ich und stoße die Mondsichel in meinen Finger. Schmerz schießt meinen Arm hoch, ein leises Stöhnen entschlüpft meinen Lippen. Der kleine Schnitt bl u tet sofort. Mein Finger brennt, wä h rend ich ihn sacht über Felicitys seidenweiche Wa n gen ziehe.
Da stehen wir nun alle, frisch getauft im Kerzenlicht.
»So«, sagt Felicity, indem sie uns der Reihe nach ansieht. »Und jetzt reicht eure Hände her.« Sie streckt ihre Hand aus und wir legen unsere Handfl ä chen übereinander darauf. »Wir schwören, einander Treue zu bewahren, die Riten unseres Ordens geheim zu halten, den Geschmack der Freiheit zu kosten und keinen Verrat zu dulden. Von niemandem.« Bei di e sen Worten schaut sie mich an. »Das hier ist unsere Kultstätte. Und solange wir hier sind, wollen wir nur die Wahrheit sagen. Schwört es.«
»Wir schwören.«
Felicity stellt eine Kerze in die Mitte. »Möge jede von uns über dieser Kerze ihren Herzenswunsch of fenbaren, damit er in Erfüllung gehe.«
Pippa nimmt die Kerze und sagt feierlich: »Wahre Liebe zu finden.«
»Das ist Unsinn«, sagt Ann und will die Kerze an Felicity weitergeben, die sie zurückweist.
»Dein Herzenswunsch, Ann«, sagt sie.
Ann sieht uns nicht an, als sie sagt: »Schön zu sein.«
Felicity nimmt die Kerze. Ihr Griff ist fest, ihre Stimme entschieden. »Ich wünsche mir, so mächtig zu sein, dass sich niemand meiner Macht entziehen kann.«
Plötzlich ist die Kerze in meiner Hand, heißes Wachs tropft an den Seiten herunter und brennt auf meiner Haut, bevor es erstarrt. Was ist mein He r zenswunsch? Sie wollen die Wahrheit hören, aber alles was in letzter Zeit passiert ist, verwirrt mich so sehr, dass ich mich selbst nicht mehr kenne.
»Mich selbst zu verstehen.«
Das scheint zufriedenstellend, denn Felicity stimmt ein Bittgebet an: »O große Göttinnen an diesen Wänden, er füllt uns unsere Herzenswünsche.« Ein Windhauch weht durch den Eingang der Höhle herein, bläst die Kerze aus und raubt uns den Atem.
»Ich glaube, sie haben uns gehört«, flüstere ich.
Pippa legt ihre Hände an den Mund. »Es ist ein Zeichen.«
Felicity lässt ein letztes Mal die Flasche herumgehen und wir trinken. »Es scheint, als hätten uns die Göttinnen geantwortet. Auf unser neues Leben. Auf das erste Treffen des Ordens des aufgehenden Mondes. Lasst uns zurückg e hen, solange unsere Kerzen brennen.«