12. Kapitel
Der nächste Tag ist grau und stürmisch, aber Miss Moore hält ihr Versprechen und wir machen am Nachmittag einen Ausflug zu der Höhle. Es ist ein strammer Marsch durch den Wald, am Bootshaus und dem Weiher vorbei und an einer tiefen Schlucht entlang. Ann stolpert auf dem losen Geröll und wäre fast hinuntergestürzt.
»Vorsicht«, sagt Miss Moore. »Diese Schlucht ist tückisch. Tut sich aus dem Nichts auf und dann fällt man hinein und bricht sich den Hals.«
Über eine schmale Brücke gelangen wir auf der anderen Seite der Schlucht an einen Platz, wo sich die Bäume zu einer kreisrunden Lichtung öffnen. Ich halte den Atem an. Es ist derselbe Platz, zu dem mich das kleine Mädchen g e führt hat, als ich Mary Dowds Tagebuch gefunden habe. Die Höhle liegt vor uns, unter einem mit Schlingpflanzen überwucherten Felsvorsprung verborgen. Die Ranken ki t zeln unsere Arme, während wir uns durch den Pflanze n vorhang einen Weg in die samtschwarze Finsternis bahnen. Miss Moore zündet die Laternen an, die wir mitg e bracht haben, und die Höhlenwände tanzen in der plötzli ch au f flammen d en Helligkeit. Über Jahrta u sende hat der Regen den Felsen an manchen Stellen auf Hochglanz poliert, s o dass ich in seiner zerklüft e ten Oberfläche ein zerbrochenes Bild von mir erhasche –ein Auge, e i nen Mund, noch ein Auge, eine Komposition aus Teilen, die nicht zusamme n passen.
»Wir sind da.« Miss Moores tiefe, melodische Stimme hallt von den Höhlenwänden wider. »Die Felszeichnungen sind gleich da drüben, an dieser Wand.«
Sie leuchtet voraus in einen großen, offenen Raum. Wir alle folgen mit unseren Laternen und die Zeichnungen werden im flackernden Licht erschreckend lebendig, bri n gen einen kostbaren Schatz zum Vorschein.
»Sie sind ziemlich grob, findet ihr nicht?«, sagt Ann, die den rohen Umriss einer Schlange betrachtet. Ich muss so fort an ihre ordentliche, faltenlos eing e steckte Bettdecke denken.
»Sie sind primitiv, Ann. Die Menschen in diesen Höhlen haben mit den Dingen gezeichnet und ge malt, die ihnen zur Verfügung standen –mit scharfen Felsbrocken, notdürft i gen Messern, einem Klecks Lehm oder Farbstoff. Manc h mal sogar mit Blut.«
»Wie ekelhaft!« Pippa natürlich, wer sonst. Ich sehe vor mir, wie sie ihre kecke kleine Nase vor Ab scheu rümpft.
Felicity lacht und sagt im Ton einer Frau von Welt: »Meine Liebe, die Bryn-Jones lassen gerade in ihrem Wohnzimmer ein wundervolles Wandgemälde mit mensc h lichem Blut malen. So etwas müssen wir unbedingt auch haben!«
»Ich finde es widerlich«, sagt Pippa. Ich vermute allerdings, dass sie mehr darüber schockiert ist, dass Felicity mich z ur Verbündeten erkoren hat, als über die Erwähnung von Blut.
»Blut wurde für kultische Darstellungen verwendet oder als Tribut an eine Göttin, deren Gunst man erlangen wollte. Da.« Miss Moore zeigt auf eine blassrote Zeichnung, die wie Pfeil und Bogen aussieht. »Die sind für Diana b e stimmt, die römische Göttin des Mondes und der Jagd. Sie galt als die Schutzpatronin der Mädchen. Die Hüterin der Keuschheit.«
Felicity stößt mich hart in die Rippen. Wir alle hüsteln und scharren mit den Füßen, um unsere Ver legenheit zu verbergen. Miss Moore fährt unbeirrt fort.
»Das Bemerkenswerte an dieser Höhle ist, dass es hier Darstellungen verschiedenster heidnischer Göt tinnen gibt. Nicht nur der römischen, sondern auch der nordischen, der germanischen und keltischen. Sehr wahrscheinlich zog di e ser Ort immer wieder weise Frauen an, die gehört hatten, dass sie sich hier ungestört ihren magischen Künsten hi n geben kon n ten.«
»Magie?«, fragt Elizabeth. »Waren das Hexen?«
»Nicht, was wir unter Hexen verstehen. Es waren weise Frauen und Heilerinnen, die mit Pflanzen und Kräutern ar beiteten und Babys zur Welt brachten. Aber das machte sie verdächtig. Frauen, die Macht haben, werden immer g e fürchtet«, sagt sie traurig.
Ich frage mich, wieso Miss Moore hier ist und uns beibringt, hübsche Bilder zu malen, statt in der Welt draußen zu leben. Sie ist nicht unattraktiv. Sie hat ein warmes, freundliches Gesicht, ein spontanes Lächeln und eine schlanke Figur. Die Brosche an ihrem Kragen ist mit Rub i nen besetzt, was darauf schließen lässt, dass sie nicht mi t tellos ist.
»Ich finde, sie sind außergewöhnlich«, sagt Felicity, während sie ihre Laterne näher an die Wand hält. Ihre Fi n ger gleiten über eine Silhouette –eine Frau mit dem Kopf einer Krähe, flankiert von zwei weit e ren Krähenfrauen, die teilweise schon von der Zeit ausradiert wurden.
»Huh, das ist ziemlich grausig«, sagt Cecily. Schatten zucken über ihr Gesicht und einen Augen blick lang kann ich mir vorstellen, wie sie als alte Frau aussehen wird –irgendwie hager und dünn mit einer großen Nase.
Miss Moore betrachtet die Zeichnung. »Diese sonderbare Dame ist wahrscheinlich mit der Morr i gan verwandt.«
»Der was?«, fragt Pippa, mit den Wimpern klimpernd und mit einem Lächeln, für das Männer zwei fellos bereit wären, ihr die Sterne vom Himmel zu holen.
»Die Morrigan. Eine alte keltische Kriegs- und Todes göttin. Sie war sehr gefürchtet. Es heißt, man habe ges e hen, wie sie die Kleider derjenigen wusch, die im Kampf sterben würden, und danach sei sie über das Schlachtfeld geflogen und habe in ihrem Wüten die Schädel der Getöt e ten mit sich geno m men.«
Cecily schüttelt sich. »Warum sollte sie jemand verehren wollen?«
»Haben Sie keinen Kampfgeist, Miss Temple?«, fragt Miss Moore.
Cecily ist entsetzt. »Hoffentlich nicht. Wie … unattrak tiv.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Na ja.« Cecily fühlt sich sichtlich nicht wohl in ihrer Haut. »Es ist wie … als wäre man ein Mann, nicht wahr? Eine Frau sollte niemals so gegen ihre Natur handeln.«
»Aber ohne den Funken Zorn, ohne Vernichtung kann es keine Wiedergeburt geben. Die Morrigan wurde auch mit Stärke, Unabhängigkeit und Fruch t barkeit assoziiert. Sie war die Hüterin der Seele, bis diese wiedergeboren wurde. Sagt man jedenfalls.«
»Wer sind diese Frauen da?« Ann zeigt mit dem Finger auf die verwitterten Zeichnungen.
»Die Morrigan war eine dreifache Göttin, sie verkörperte in einer Person die schöne Jungfrau, die li e bende Mutter und das blutdürstige Weib. Sie konnte jederzeit ihre Gestalt wechseln. Wirklich faszini e rend.«
Felicity fragt unverfroren: »Wie kommt es, dass Sie so viel über Göttinnen und diese Dinge wissen, Miss Moore?«
Ich erwarte, dass Felicity für diese Frechheit einen gehörigen Rüffel bekommen wird. Aber Miss Moore spricht langsam und bedächtig. »Ich weiß es, weil ich lese.« Die Hände in die Hüften gestemmt, sieht sie uns der Reihe nach herausfordernd an. »Darf ich I h nen allen vorschlagen zu lesen? Viel und oft. Gla u ben Sie mir, es ist schön, über etwas anderes reden zu können als über das Wetter und die Gesundheit der Königin. Ihr Geist ist kein Käfig. Er ist ein Ga r ten. Und der gehört kultiviert. Nun ja, ich denke, für heute haben wir genug von der Mythologie. Wir wo l len ein bisschen zeichnen, einverstanden?«
Pflichtschuldig holen wir unsere Skizzenblöcke und Kohlestifte hervor. Sofort beschwert sich Pippa, dass es in der Höhle zu heiß zum Zeichnen sei. Die Wahrheit ist, dass sie nicht zeichnen kann. Übe r haupt nicht. Alles, was sie beginnt, sieht am Ende aus wie ein Haufen Felsbl ö cke. Aber das würde sie niemals zugeben. Ann geht mit ihrem gewohnten Perfektionismus ans Werk und setzt kleine, vorsichtige Striche aufs Blatt. Mein Kohlestift fliegt übers Papier, und als ich fertig bin, habe ich die Gestalt der Jag d göttin flüchtig eingefangen, den Speer in der Hand, ein Reh, das vor ihr herläuft. Das Bild scheint mir zu leer, also füge ich noch ein paar eigene Sy m bole hinzu. Bald ist der untere Rand des Blattes mit dem Mond-und-Auge-Symbol an der Halskette me i ner Mutter gefüllt.
»Sehr interessant, Miss Doyle.« Miss Moore schaut mir über die Schulter. »Sie haben das Auge des aufgehenden Mondes gemalt.«
»Es gibt einen Namen dafür?«
»O ja. Das ist ein sehr berühmtes Symbol. Ein bisschen wie die Pyramide der Freimaurer.«
»Es ist wie die seltsame Halskette, die du trägst«, ruft Ann aus.
Die Mädchen starren mich misstrauisch an. Ich könnte Ann für ihr geschwätziges Maul erwürgen. Miss Moore zieht eine Augenbraue hoch. »Sie tragen dieses Symbol an einer Halskette?«
Mit Mühe ziehe ich das Amulett aus seinem Versteck unter meinem hochgeschlossenen Kragen heraus. »Es ge hörte m einer Mutter. Eine Frau aus dem Dorf hat es ihr vor langer Zeit gegeben.«
Miss Moore beugt sich vor, um es zu prüfen. Sie reibt mit dem Daumen über das gehämmerte Metall des Mon des. »Ja, stimmt. Das ist es.«
»Um was handelt es sich genau?«, frage ich, als ich das Amulett wieder unter dem Kragen verstecke.
Miss Moore richtet sich auf und rückt den Hut auf ihrem Kopf zurecht. »Der Sage nach war das Auge des aufgehen den Mondes das Symbol eines Fraue n ordens.«
»Ein Frauenorden?«, fragt Cecily und verzieht das Gesicht.
»Sie haben noch nie vom Orden des aufgehenden Mondes gehört?«, fragt Miss Moore, als sollte uns dieser Be g riff genauso geläufig sein wie die Grundlagen der Arithm e tik.
»Erzählen Sie uns, Miss Moore!« Pippa saust herüber wie ein Blitz. Sie würde alles tun, um sich vor dem Zeic h nen zu drücken.
»Ah, der Orden. Ja, das ist eine interessante Geschichte. Wenn ich meine Volkskunde-Vorlesungen noch richtig im Kopf habe, dann handelte es sich um eine machtvolle Gruppe von Magierinnen, die es seit Anbeginn der Zeit gab. Angeblich hatten sie Zugang zu einem mystischen Reich, einer Sphäre aus vielen Magischen Welten, jenseits von Raum und Zeit, wo sie sich ihrer Magie hingeben konnten.«
Kartik hatte von einem Magischen Reich jenseits von Raum und Zeit gesprochen. Mary Dowds Tagebuch eben falls. Es überläuft mich kalt, ich will mehr darüber wissen. »Was für einer Magie?«, höre ich mich fragen.
»Der größten von allen – der Macht der Illusion.«
»Das finde ich nicht besonders aufregend«, wirft Cecily spöttisch ein. Elizabeth verschränkt ihre Arme. Es ist of fensichtlich, dass sie mit Miss Moore nicht viel anfangen können.
»Wirklich nicht, Miss Temple? Dieser Kamm in Ihrem Haar – der ist jetzt die neueste Mode, richtig?«
Cecily ist geschmeichelt. »Na ja, ja, das stimmt.«
»Und macht er Sie modern? Oder erzeugt er nur die Illusion, sie seien modern?«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.« Cecilys Augen sprühen Funken.
»Davon bin ich überzeugt«, sagt Miss Moore. Ihr ironisches Lächeln ist wieder da.
»Konnten sie sonst noch etwas?«, frage ich.
»O ja. Diese Frauen konnten den Seelen dabei helfen, die Grenze zum Jenseits zu überschreiten. Sie hatten pro phetische und hellseherische Kräfte. Der Schleier zwischen der übernatürlichen Welt und di e ser war für sie sehr dünn. Sie konnten Dinge sehen und fühlen, die anderen verbo r gen blieben.«
Mein Mund ist so trocken wie Sägemehl. »Heißt das, sie hatten Visionen?«
»Du bist ja ungeheuer interessiert«, spottet Elizabeth. Felicity zieht an einer Locke ihres Haars und Elizabeth schreit kurz auf.
»Wie gelangten sie in jene andere Welt?« Felicity stellt die Frage, auf die ich die Antwort will. Kalte Schauer lau fen über meine Arme.
»Oje, mir scheint, ich habe hier ein kleines Feuer entfacht.« Miss Moore lacht. »Hatten Sie denn keine sadist i schen Kindermädchen, die Ihnen diese Ge schichten erzählt haben, damit Sie in der Nacht schön artig und still sind? Gütiger Himmel, was soll nur aus dem britischen Weltreich werden, wenn die Gouvernanten verlernt haben, ihren Schützlingen e i ne gehörige Portion Angst einzujagen?«
»Bitte, erzählen Sie, Miss Moore«, bettelt Pippa und wirft einen Blick in Felicitys Richtung.
»Der Sage nach – und meiner eigenen bösartigen Nanny, Gott sei ihrer sündigen Seele gnädig –fas s ten sich die Schwestern des Ordens an den Händen und konzentrierten sich. Auf eine Tür oder eine Art Po r tal.«
Ein Tor aus Licht.
»Mussten sie sonst noch irgendetwas tun, um die Grenze zu überschreiten? Etwas sagen, eine Be schwörungsformel sprechen oder so?«, dränge ich. Hinter mir gibt Martha ihre albernen Kommentare ab, und wenn ich nicht so betroffen wäre, würde ich ihr einen Dämpfer verpassen.
Miss Moore schüttelt lachend den Kopf. »Du meine Güte, ich habe nicht die leiseste Ahnung! Es ha n delt sich um eine Sage. Es ist wie mit all diesen Le genden. Ein bisschen davon bleibt über Generationen im Volksglauben erhalten. Ein bisschen geht verloren oder wird hinzugefügt. In uns e rer Zeit der Indus t rialisierung haben solche Geschichten die Tendenz zu verblassen.«
»Wollen Sie damit sagen, wir sollten zu den alten Zeiten zurückkehren?«, fragt Felicity.
»Unsinn. Man kann nie zurück. Man muss sich immer vorwärts bewegen.«
»Miss Moore?« Ich muss sie einfach fragen. »Warum sollte irgendjemand meiner Mutter dieses Mondauge gege ben haben?«
Miss Moore überlegt. »Ich nehme an; jemand dachte, sie braucht etwas, das sie beschützt.«
Ein schrecklicher Gedanke taucht in mir auf. »Aber angenommen, jemand nimmt diese Halskette, diesen Schutz, irgendwann einmal ab. Was könnte dann passieren?«
Miss Moore schüttelt den Kopf. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie für solche Dinge so empfänglich sind, Miss Doy le.« Die Mädchen kichern. Mein Ge sicht ist glühend heiß. »Diese Symbole bewirken nicht mehr als eine Kaninche n pfote. Ich würde den beschützenden Kräften Ihres Amuletts nicht zu sehr vertrauen, mag es als Schmuckstück auch noch so attraktiv sein.«
Ich kann’s nicht lassen. »Aber was, wenn …«
Miss Moore schneidet mir das Wort ab. »Wenn Sie mehr über alte Sagen wissen wollen, meine Da men, dann gibt es einen Ort, wo Ihnen geholfen wird. Er nennt sich Bibli o thek. Und ich glaube, Spence besitzt eine solche.«
Sie zieht eine Taschenuhr aus ihrer Segeltuchtasche mit Malutensilien. Ich habe noch nie eine Frau gesehen, die eine Herrenuhr trägt, und das macht Miss Moore noch rä t selhafter. »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, sagt sie, indem sie die Uhr en t schlossen wieder zuklappt. »Wie kamen wir eigen t lich dazu, uns mit alten Göttinnen herumzuschlagen, statt uns d er Kunst zu widmen? Ich will beim Höhlenei n gang ein wenig skizzieren. Sie können mir Ge sellschaft leisten, nachdem Sie Ihre Sachen eing e sammelt haben.«
Sie klemmt die Tasche unter ihren Arm und schreitet energisch auf den Eingang zu, uns im Halbdunkel der Höh le zurücklassend. Meine Finger zi t tern so sehr, dass ich kaum meine Sachen zusa m menpacken kann. Ich nehme die anderen Mädchen nur schemenhaft wahr. Ihr Geflüster und Getuschel füllt die Höhle wie Fliegengesumm.
»Also, das war nun wirklich reine Zeitvergeudung«, murmelt Cecily. »Ich wette, es würde Mrs Nightwing int e ressieren zu erfahren, was uns Miss Moore beibringt.«
»Sie ist eine seltsame Person«, pflichtet Elizabeth ihr bei. »Eigenartig.«
»Ich fand das alles sehr interessant«, sagt Felicity.
»Mein zukünftiger Ehemann fände das bestimmt nicht«, murrt Cecily. »Er möchte, dass ich hübsch zeichnen kann, um unsere Gäste zu beeindrucken. Und nicht, dass ich u n ser Abendessen mit Geschwätz über blutdürstige Hexen verderbe.«
»Immerhin sind wir einen Nachmittag der trostlosen alten Schule entronnen«, erinnert uns Felicity.
Ann rutschen die Zeichenstifte aus den Händen und landen mit lautem Widerhall auf dem Boden. Umständlich lässt sie sich auf die Knie nieder, um sie wieder einzusa m meln.
»Anns Gesicht muss ein Talisman gegen alle Männer sein«, flüstert Elizabeth, laut genug, dass es alle hören können. Die anderen lachen, ungläubig, dass jemand so grausam sein kann a uszusprechen, was sie selbst nur de n ken. Ann blickt nicht einmal hoch.
Felicity schiebt ihren Arm unter meinen und flüstert mir leise zu: »Mach kein so grimmiges Gesicht. Sie sind har m los, glaub mir.«
Ich schüttle ihren Arm ab. »Sie sind Höllenhunde. Könntest du sie bitte verjagen?«
Cecily kichert. »Vorsicht, Felicity, sie könnte ihr böses Auge gegen uns einsetzen.«
Selbst Felicity biegt sich vor Lachen. Ich wünschte, ich könnte mein böses Auge einsetzen. Oder z u mindest meinen bösen Stiefel, um Cecily einen Tritt in den Hintern zu ve r passen.
Miss Moore geleitet uns wieder hinaus ans Tageslicht und zurück durch den Wald, diesmal auf einem anderen Weg, der zu einer schmalen Schotterstraße führt. Über die niedrige Steinmauer, die die Straße begrenzt, kann ich ein Zigeunerlager im Schutz der Bäume sehen. Plötzlich ist Felicity neben mir, sie macht sich meine Größe zunutze, um nicht gesehen zu werden, falls Ithal in der Nähe ist.
»Ann, ich glaube, Miss Moore hat nach dir verlangt«, sagt sie. Ann gehorcht und stapft zu unserer Lehrerin. »Gemma, bitte, sei nicht eingeschnappt.« Felicity streckt den Kopf vor, um einen Blick zum Zigeunerlager hinübe r zuwerfen. »Siehst du ihn?«
Außer drei Planwagen und ein paar Pferden ist dort nichts zu sehen. »Nein«, sage ich in schroffem Ton.
»Den Göttern sei Dank.« Sie hakt sich bei mir unter, unge a chtet meiner schlechten Laune. »Das wäre peinlich g e wesen. Kannst du dir das vorstellen?« Sie versucht, mich mit ihrem Charme um den Finger zu wickeln. Es funkti o niert. Ich grinse gegen meinen Willen und sie schenkt mir dafür eins jener raren, vollendeten Lächeln, die einem die Erde als einen fröhlichen, einladenden Ort erscheinen la s sen.
»Hör zu, ich habe eine glänzende Idee. Warum gründen wir nicht einen eigenen Zirkel?«
Ich bleibe wie vom Donner gerührt stehen. »Um was zu tun?«
»Leben.«
Erleichtert setze ich mich wieder in Bewegung. »Wir leben doch schon.«
»Nein. Wir spielen nach ihren Regeln ihr kleines, mickriges Spiel. Aber wie wäre es, wenn wir einen Platz hätten, wo wir nur nach unseren eigenen Re geln spielen?«
»Und wo, bitte sehr, wollen wir das tun?«
Felicity wirft einen Blick in die Runde. »Warum treffen wir uns nicht bei der Höhle?«
»Das soll wohl ein Witz sein«, sage ich. »Es ist ein Scherz, nicht wahr?«
Felicity schüttelt den Kopf. »Stell dir bloß mal vor: Wir würden unsere eigenen Pläne schmieden, ein bisschen Spaß haben, frei sein.«
»Man würde uns hinauswerfen, das ist alles.«
»Wir lassen uns nicht erwischen. Dafür sind wir viel zu schlau.«
Weiter vorn schwatzt Cecily auf Elizabeth ein, die sich darüber aufzuregen scheint, dass ihre Schnü r stiefel schmutzig werden. Ich sehe Felicity an.
»Sie sind nicht so schlimm, wenn du sie näher kennst.«
»Ich bin sicher, auch der Piranha ist reizend zu seiner Familie, aber ich möchte ihm lieber nicht zu nahe kom men.«
Ann schaut unglücklich zu mir zurück. Sie hat festgestellt, dass Miss Moore gar nicht nach ihr ve r langt hat. Niemand verlangt nach ihr. Das ist das Problem. Aber vie l leicht gibt es eine Möglichkeit, das zu ändern. »Also gut«, sage ich. »Ich mache mit, unter einer Bedingung.«
»Nenn sie.«
»Du musst Ann auch einladen.«
Felicity weiß nicht, ob sie lachen oder Gift und Galle spucken soll. »Das kann nicht dein Ernst sein.« Als ich nicht antworte, sagt sie: »Ich denke nicht daran, das zu tun.«
»Wenn ich dich daran erinnern darf, du schuldest mir etwas.«
Sie geht mit einem künstlichen Lächeln darüber hinweg. »Die anderen würden es nicht erlauben. Das weißt du ganz genau.«
»Das ist dein Problem«, sage ich und kann mir nicht verkneifen, grinsend hinzuzufügen: »Mach kein so grim miges Gesicht. Sie sind harmlos, glaub mir.«
Felicitys Augen werden schmal und sie marschiert los, um Pippa, Elizabeth und Cecily einzuholen. Im nächsten Moment debattieren sie aufgeregt, Eliz a beth und Cecily schütteln immer wieder die Köpfe, während Felicity ihrem Unmut Luft macht. Was Pippa betrifft, so scheint sie ei n fach nur froh z u sein, dass Felicity ihr Aufmerksamkeit schenkt. Kurz darauf ist Felicity wieder neben mir, vor Wut kochend.
»Und?«
»Ich hab’s dir gesagt – sie wollen sie nicht dabe i haben. Sie gehört nicht unserer Klasse an.«
»Tut mir leid zu hören, dass euer kleiner Zirkel schon zum Scheitern verurteilt ist, bevor er über haupt gegründet wurde«, sage ich und komme mir dabei ein bisschen selbstgefällig vor.
»Habe ich gesagt, dass ich mich geschlagen gebe? Ich weiß, dass ich Pippa überreden kann. Cecily ist in letzter Zeit so was von arrogant. Ich habe sie aus dem Nichts hie r her geholt. Und wenn sie und Elizabeth denken, sie kön n ten es an dieser Schule ohne meinen Einfluss zu etwas bringen, dann sind sie auf dem Holzweg.«
Ich habe Felicitys Machtwillen unterschätzt. Sie würde eher mit Ann und mir gemeinsame Sache ma chen, als sich ihren Jüngerinnen geschlagen geben. Schließlich ist sie die Tochter eines Admirals.
»Wann sollen wir uns treffen?«
»Heute um Mitternacht«, sagt Felicity.
Ich bin absolut sicher, dass das Ganze zu einem beschämenden, unglückseligen Ende führen wird, zumindest d a zu, dass wir uns bis zum Erbrechen Pippas romantische Schwärmereien über das Ideal der Liebe werden anhören müssen. Aber wenigstens müssen sie für eine Weile aufh ö ren, Ann zu quälen.
Plötzlich taucht Ithal hinter einer Straßenbiegung auf. Felicity bleibt jäh stehen, wie ein Pferd, das plötzlich scheut. Sie klammert sich fest an meinen Arm und weigert sich, in seine Richtung zu schauen.
»O mein Gott«, stößt sie hervor.
»Er würde es nicht wagen, dich in aller Öffentlichkeit anzusprechen, oder?«, flüstere ich und versuche dabei, Fe licitys Fingernägel zu ignorieren, die sich tief in meinen Arm graben.
Ithal bückt sich, um eine Blume vom Straßenrand zu pflücken. Singend springt er auf die Mauer und präsentiert Felicity die Blume, als wäre ich überhaupt nicht vorha n den. Die anderen bleiben stehen und drehen sich um, um zu sehen, was da los ist. Sie schnappen nach Luft und kichern, gleichermaßen schockiert und entzückt über die Szene. Fe licity hält ihren Kopf gesenkt und starrt auf den Boden.
Miss Moore zeigt sich amüsiert. »Mir scheint, Sie haben einen Verehrer, Miss Worthington.«
Die Mädchen schauen zwischen Ithal und Felicity hin und her und warten gespannt, was passiert.
Ithal streckt ihr die Blume hin – rot und duftend. »Schönheit für Schönheit«, sagt er mit seiner dunklen, ra u en Stimme.
Ich höre, wie Cecily im Flüsterton »So eine Unverschämtheit« sagt. Mit steinernem Gesicht schleudert Felic i ty die Blume zu Boden. »Miss Moore, können wir den Wald hier nicht von diesem Gesindel säubern? Es ist der reinste Abschaum.« Ihre Worte sind eine Ohrfeige. Sie hebt mit einer gezierten Geste ihre Röcke hoch, tritt auf die Blume, zer q uetscht sie mit ihrem Stiefel, rennt los und überholt die ganze Gruppe. Die anderen folgen ihr.
Ich kann mir nicht helfen, ich fühle mich für Ithal gedemütigt. Er steht an der Mauer und blickt uns nach, und als wir die Abzweigung zur Schule erre i chen, steht er immer noch da mit der zerquetschten Blume in seiner Hand.