28. Kapitel
»Bist du sicher, dass du weißt, wie du mit diesen Kri s tallen umzugehen hast?«, fragt Ann, während wir die Kerzen in der Mitte des Kreises aufstellen. »Natürlich weiß sie es! Hör auf, Gemma zu ve r uns i chern«, zischt Pippa. »Nicht wahr, du weißt es doch?«
»Nein. Aber Mary und Sarah haben es getan. Es kann nicht so schwer sein. Mutter sagte, ich brauche nur meine Hände an die Stäbe zu halten und … und dann …« Was dann? Dann tritt die Magie in mich ein. Es ist ein Klacks, was ich zu tun habe.
Felicity ist neben mir. Sie hat aufgehört zu weinen.
»Wir versuchen es einfach mal und schauen, was passiert. Das ist alles. Nur ein Probelauf«, sage ich, wie um mich selbst zu überzeugen.
Wir betreten das Magische Reich durch das Tor aus Licht und laufen so schnell wir können zum Kreis der Kristall stäbe. Vor uns erheben sich die Runen, hoch und ei n drucksvoll. Sie sind wie Wächter, die die Geheimnisse des Himmels hüten.
»Ich hab niemanden gesehen«, keucht Felicity.
»Dann hat uns bestimmt auch niemand gesehen«, sagt Pippa.
Versprich mir, dass du die Magie nicht aus ihrem angestammten Reich herausholst, Gemma …
Ich habe es ihr versprochen. Trotzdem, ich kann meine Freundinnen nicht im Stich lassen und sie ih rem leeren, sinnlosen Leben ausliefern.
Es ist schon so lange her, dass die Magie hier genutzt wurde. Nicht auszudenken, was passieren kann.
Das heißt nicht, dass etwas Schreckliches passieren muss. Vielleicht sind Mutters Sorgen vollkommen unb e gründet. Wir werden ganz, ganz vorsichtig sein. Nichts wird seinen Weg herein finden.
Die Jägerin erscheint. »Was tut ihr?«
Pippa schreit überrascht auf.
»Nichts«, sage ich zu schnell.
Sie beobachtet uns schweigend. »Willst du heute jagen?«, fragt sie Felicity schließlich.
»Heute nicht. Morgen«, antwortet Felicity.
»Morgen«, wiederholt die Jägerin. Sie dreht sich um und geht auf den silbernen Torbogen zu, blickt noch einmal mit einem neugierigen Ausdruck z u rück. Und dann ist sie fort.
Wir alle atmen erleichtert auf.
»Wir sollten uns beeilen«, sage ich.
»Was glaubst du, wird mit uns passieren?« Pippas Stimme klingt besorgt.
»Es gibt nur einen Weg, um das herauszufinden«, sage ich, während ich näher an die Kristalle herangehe. Ich spü re, wie m ich ihre Energie anzieht. Ich werde sie nur für e i ne Sekunde oder zwei berühren, nicht länger. Was kann in so kurzer Zeit schon pa s sieren?
Die Mädchen legen ihre Hände auf mich. Wir sind verbunden, wie in diesen neumodischen Apparaten, die elek t risches Licht erzeugen. Vorsichtig tauchen meine Handfl ä chen in den warmen Kraftstrom ein, der von den summe n den Kristallgebilden ausgeht. Ein Kribbeln erfasst meine Haut. Das Kribbeln geht in einen Schauer über, gewaltiger, als ich es mir je hätte träumen lassen. Die Kristalle glühen, zuerst nur schwach, dann stärker, das Licht dehnt sich blitzschnell zu einer Art Fontäne aus, die durch mich hi n durch zum Himmel emporschießt. In mir spüre ich meine Freundinnen –das rasche Pulsieren des Bluts in ihren Adern. Unsere Herzen pochen im gleichen, gemeinsamen Rhythmus, im Takt der Hoffnung. Ein Zug voll lauter Ge danken, Stimmen, Sprachen rast auf mich zu. Sie übe r schneiden sich, verschmelzen zu einem dröhnenden Lärm und drohen, mich zu überrollen. Ich muss mich losreißen, aber ich kann nicht.
Und dann falle ich aus der Welt heraus.
Der unendliche Nachthimmel hüllt uns in seine Decke. Wir stehen auf dem Gipfel eines Berges. Wolken ziehen mit rasender Geschwindigkeit über uns hinweg, ballen sich zusammen und lösen sich wieder auf. Der starke Wind fährt heulend in unsere Haare. Und dennoch sind wir frei von Furcht. Wie neugeboren. Jede Zelle meines Körpers ist hellwach, jeder Sinn geschärft. Wir brauchen nicht zu spr e chen. Jede von uns spürt, was die anderen empfinden.
Plötzlich taucht Felicitys Gesicht ganz dicht vor meinem auf; ihre grauen Augen sehen mich an. Das schwarze Herz in der Mitte weitet sich und wird immer größer, bis ich h i neingezogen werde. Nun schwebe ich über ein offenes Meer, Eisberge ragen aus den Wellen, die Rufe von Walen sind ganz nah. Ich ergieße mich ins Meer, als wäre ich flüssig, we r de gänzlich verschluckt, sinke auf den Grund und tauche im Zwielicht Londons wieder auf. Unter mir ist die Themse, gesprenkelt mit Straßenlichtern. Ich fliege. Ich fliege! Wir alle fliegen, schwingen uns so hoch empor, dass die Schornsteine und Dachfirste unter uns nicht größer sind als in einen Rinnstein geworfene Münzen. Als ich die Augen kurz schließe und wieder öffne, erwache ich in einer Wüste unter einem Vollmond. Dünen heben und senken sich wie Atem. Mein Fuß versinkt. Ich tauche in den wa r men goldenen Sand ein. Er ist weich wie Haut. Wie Ka r tiks Haut. Sein Körper erstreckt sich unter mir wie eine weite Ebene. Kartik fühlt sich an wie ein Land, durch das ich re i sen möchte –unermesslich groß, g e fährlich und unbekannt. Als wir uns küssen, falle ich wieder, zurück auf den Ber g gipfel, wo Felicity, Pippa und Ann stehen, von ihren eig e nen Reisen z u rückgekehrt. Gleichzeitig kommt es mir vor, als hätte ich diesen Platz nie verlassen. Wir lächeln eina n der an. Unsere Fingerspitzen berühren sich. Wir fassen uns an den Händen. Dann der Schimmer eines ve r glimmenden weißen Lichts. Und dann nichts mehr.
»Gemma, wach auf.« Ann rüttelt mich sanft. Unser Zimmer nimmt allmählich Kontur an –die De cke, das graue Licht am Fenster, der abgetretene hölzerne Fußboden. Un deutliche Erinnerungen an die verga n gene Nacht stellen sich ein –das Magische Reich, die Kristalle, der seltsame Gesichtsausdruck der Jä gerin, hinterher dann unser hastiger Rückweg von der Hö h le –doch das meiste verschwimmt in dem Nebel in meinem Kopf. Ich habe jedes Zeit - und Raumgefühl verloren.
»Wie spät ist es?«, murmle ich.
»Zeit fürs Frühstück.«
Das kann nicht sein, denke ich, während ich mich am Kopf kratze.
»Ist es aber«, antwortet sie.
Das ist merkwürdig. »Woher wusstest du, was ich denke?«, frage ich.
»Ich weiß es nicht«, sagt sie und schaut mich mit großen Augen an. »Ich hörte es in meinem Kopf.«
»Die Magie …«, sage ich, mich senkrecht im Bett au f setzend.
Felicity und Pippa stürmen herein.
»Schaut euch mein Kleid an«, sagt Pippa grinsend. Am Saum des Kleides ist ein großer Grasfleck.
»Pech für dich, Pip«, sage ich.
Sie grinst weiter wie eine Schwachsinnige. Sie schließt die Augen und im Nu ist der Fleck ver schwunden.
»Unglaublich«, sagt Ann erstaunt.
Pippa grinst noch mehr. Sie dreht ihren Rock hin und her, hält ihn ins Licht.
»Also haben wir es geschafft«, sage ich. »Wir haben die Magie aus dem Magischen Reich herausg e holt.« Und alles ist wunderbar.
Ich bin in rekordverdächtiger Zeit angezogen. Wir schweben durch den Gang und die Treppe hinunter, schwerelos wie Blätter im Wind, flüstern einander halbe Sätze zu, die irgendwie in unseren Köpfen vollendet werden. Wir sind so aufgeregt über unsere Entdeckung, dass wir nicht aufh ö ren können zu k i chern.
In einer Nische unter der Treppe steht eine Amorstatue.
»Wartet. Ich möchte mir einen kleinen Spaß erlauben«, sagt Pippa. Sie schließt die Augen, wedelt mit den Händen über dem Knaben aus Gips und schon wachsen diesem ziemlich große Brüste.
»Oh, das ist scheußlich, Pip!«, sagt Felicity. Wir biegen uns vor Lachen.
»Stellt euch vor, was für ungeahnte Möglichkeiten!«, ruft Pippa beinahe hysterisch.
Brigid kommt mit resoluten Schritten den Gang entlang auf uns zu.
»Himmel, bring das schnell wieder in Ordnung!«, flüstere ich. Hastig versuchen wir, das Ding zu ve r stecken.
»Ich kann’s nicht unter Druck!«, sagt Pippa in Pa nik.
»He, was ist das für ein Höllenspektakel?« Brigid stemmt die Hände in die Hüften. »Was habt ihr da? Geht zur Seite und lasst mich sehen!«
Widerwillig gehorchen wir.
»Was in aller Welt ist das?« Brigid hält die Statuette der hässlichsten Cancantänzerin auf Gottes Er d boden, vormals ein Amor mit Brüsten, hoch.
»Es ist das Neueste aus Paris«, sagt Felicity gelassen.
Brigid stellt das Ding in die Nische zurück. »Gehört auf den Müllhaufen, wenn ihr mich fragt.«
Sie setzt ihren Weg fort und wir kichern wieder.
»Es war das Beste, was ich zustande gebracht habe«, sagt Pippa. »Unter den gegebenen Umständen.«
Alle Köpfe wenden sich uns zu, als wir den Frühstücksraum betreten und an dem langen Tisch Platz nehmen. Ce cily kann nicht aufhören, Ann anzusta r ren.
»Ann, hast du dich etwa geschminkt?«, fragt sie zwischen zwei Bissen Speck. Weil wir zu spät ko m men, gibt es für uns nur noch Porridge.
»Wo denkst du hin?«, antwortet Ann.
»Oder vielleicht hast du eine andere Frisur?«
Ann schüttelt den Kopf.
»Nun, was auch immer, jedenfalls ist es eine Verbesserung.« Die anderen kichern. Cecily wendet sich wieder i h rem Speck zu.
Felicity legt klirrend ihren Löffel nieder. »Du bist äußerst taktlos, Cecily. Wusstest du das? Ich denke, es wäre am besten, wenn du heute überhaupt nichts mehr sagst.«
Cecily öffnet den Mund zu einer schnippischen Bemerkung, aber es kommt kein Wort heraus. Sie bringt nicht mal ein Flüstern zustande. Entsetzt fasst sie sich an die Kehle.
»Cecily, was ist los?« Elizabeth reicht ihr ein Glas Wasser.
»Katzen haben ihre Zunge gefressen«, sagt Felicity grinsend.
»Fee, du musst Cecily irgendwann ihre Stimme wiedergeben«, sagt Pippa tadelnd auf dem Weg zum Französisc h unterricht.
Felicity nickt. »Ich weiß. Aber ihr müsst zugeben – es ist eine Verbesserung.«
Mademoiselle LeFarge empfängt uns mit einem ausgesprochen sadistischen Lächeln, das nichts Gu tes verheißt.
»Bonjour, mes filles. Heute wollen wir Konversation machen, um Ihr Französisch zu testen.«
Eine Konversationsstunde. Das ist für mich das Allerschlimmste und ich frage mich, wie lange ich es schaffe, unbemerkt zu bleiben.
Elizabeth hebt die Hand. »Mademoiselle, die arme Cecily hat ihre Stimme verloren.«
»Ach, wirklich? Das kam aber sehr plötzlich, Mademoiselle Temple.«
Wieder versucht Cecily zu sprechen, doch vergeblich. Ann grinst ein bisschen und Cecily ist kreide bleich. Sie steckt ihre Nase in ihr Buch.
»Nun gut«, sagt Mademoiselle LeFarge. »Mademoiselle Doyle, Sie machen den Anfang.«
Das hat mir gerade noch gefehlt. Bitte, bitte, bitte, sende mir einen Geistesblitz. Mein Magen flattert. Vielleicht ist genau heute der Tag, an dem mir Ma demoiselle einen Tritt geben und mich in eine niedr i gere Klasse versetzen wird. Sie schmettert mir eine Frage über Paris entgegen und wa r tet auf meinen Rückschlag. Wir alle sind verblüfft, als ich den Mund aufmache. Ich spreche französisch wie eine Pa riserin und stelle fest, dass ich eine Menge über die Stadt weiß. Und über Frankreich im Allgemeinen. Seine Ge schichte. Die Französische Revolution. Ich fühle mich so sicher, dass ich immer weiterreden möchte, aber schlie ß lich erholt sich Mademoiselle LeFarge von ihrem Schock und durchbricht ihre e i genen Spielregeln.
»Das war bemerkenswert, Mademoiselle Doyle! Wirklich bemerkenswert«, stößt sie auf Englisch hervor. »Hier sehen Sie, meine Damen, was Sie e r reichen können, wenn Sie sich wirklich verbessern wollen. Die Ergebnisse spr e chen für sich selbst! Mademoiselle Doyle, Sie erhalten dreißig Pluspun k te für gute Führung –ein Rekord in meinem Unte r richt!«
Martha, Cecily und Elizabeth sitzen mit aufgesperrten Mündern da. Vielleicht sollte jemand ein gutes Werk tun und sie ihnen zuklappen, bevor der nächste Regen kommt.
»Was machen wir jetzt?«, flüstert Pippa, als wir für die Musikstunde bei Mr Grünewald unsere Plätze einnehmen.
»Ich denke, jetzt ist Ann am Zug«, sage ich.
Ann blickt verzagt drein. »Ich? Ich w-w-weiß nicht …«
»Komm schon. Möchtest du nicht, dass alle wissen, was du kannst?«
Ann runzelt die Stirn. »Aber das werde ja dann nicht ich sein, oder? Das macht dann die Magie. Wie bei deinem Französisch.«
Meine Wangen werden heiß. »Es ist ein bisschen mit mir durchgegangen. Aber du kannst wirklich sin gen, Ann. Du wirst dein Allerbestes geben, du ganz allein.«
Ann ist skeptisch. Sie kaut nervös an ihren Lippen. »Ich glaube nicht, dass ich das kann.«
Wir werden unterbrochen, weil der kleine, untersetzte Österreicher den Klassenraum betritt. Mr Grü newald ist für gewöhnlich in einer von zwei Launen –in mieser oder noch mieserer. Heute übertrifft er sich selbst. »Schluss jetzt mit dem Geschwätz!«, brüllt er und fährt sich dabei mit den Fingern durch sein schütteres weißes Haar. Eine nach der anderen wird nach vorn gerufen, um jeweils dasselbe Lied vorzutragen. Einer nach der anderen haut er seine Kr i tik um die Ohren, die fast einem Todesurteil gleichkommt. Un sere Intonation ist unsauber. Unsere Ko n sonanten sind zu unartikuliert. Ich verfehle einen hohen Ton und er stöhnt laut auf, als würde er gefo l tert. Schließlich ist Ann an der Reihe.
Die ersten Töne kommen nur zaghaft heraus. Mr Grünewald verdreht die Augen, was naturgemäß nicht hilft. Ich zwinge Ann praktisch meinen Willen auf, ihrer Stimme freien Lauf zu lassen. Sing, Ann. Los, komm schon. Und dann tut sie es. Ihre Stimme ist wie ein Vogel, der sein Nest verlässt und sich hoch und höher in die Lüfte schwingt. Wir alle s ind still und stumm vor Bewunderung. Sogar Mr Grünewald starrt mit einem Ausdruck himml i schen Entz ü ckens vor sich hin.
Ich bin so unbändig stolz auf sie. Wie konnte meine Mutter nicht wollen, dass wir uns dieser Magie bedienen? Wie konnte sie denken, wir seien noch nicht reif dafür?
Mr Grünewald klatscht Beifall, als Ann geendet hat. Der Mann, dessen Hände sich bisher noch nie gefunden haben, um Applaus zu spenden, applaudiert Ann. Die ganze Kla s se stimmt ein. Auf einmal sehen sie Ann anders, sehen sie wir k lich. Und ist das nicht, was jeder möchte? Gesehen werden?
Wir sonnen uns im Glanz dieses Tages, bis der Abend naht. Da spüren wir, wie der letzte Rest Magie aus unseren Kör pern weicht und uns ein bisschen erschöpft zurücklässt. Mrs Nightwing misst Pippa während der abendlichen Fre i zeit mit einem krit i schen Blick.
»Miss Cross, Sie sehen heute Abend ein wenig müde aus.«
»Ich bin wirklich recht müde, Mrs Nightwing.« Pippa errötet. Mrs Nightwing hat keine Ahnung, was ihre Schüt z linge so treiben, während sie ihren She r ryrausch ausschläft.
»Am besten, Sie gehen gleich zu Bett und halten Ihren Schönheitsschlaf. Bestimmt wollen Sie morgen so strah lend wie möglich aussehen, wenn Mr Bumble kommt, um Ihnen seine Aufwartung zu machen.«
»Verdammt, ich hatte völlig vergessen, dass er morgen kommt«, jammert Pippa, als wir zu unseren Zimmern h i naufgehen.
Ann streckt mit einer katzenartigen Bewegung ihre Arme über den Kopf. »Warum weist du ihn nicht ab? Sag ihm einfach, dass du nicht interessiert bist.«
»Da würde meine Mutter vor Freude in die Luft gehen«, spottet Pippa.
»Wir könnten ins Magische Reich zurückkehren und dich abgrundtief hässlich machen«, sagt Felicity.
»Vergiss es!«
Wir haben den oberen Treppenabsatz erreicht. Die Decke ist vom Ruß der Gaslampen fleckig. Komisch, dass mir das bis jetzt noch nie aufgefallen ist.
»Na dann. Sag deinem Traummann Ade und heirate einen Advokaten«, sagt Felicity höhnisch.
Pippas schönes Gesicht ist von Kummer überschattet, aber nun hellt es sich langsam auf. Eine neue Entschlos senheit ist auf ihrer Stirn zu lesen. »Ich könnte ihm einfach die Wahrheit sagen. Über meine Epilepsie.«
Auch die Wände sind schmutzig. Lauter Dinge, die ich bisher nicht bemerkt habe.
»Er will morgen um elf Uhr hier sein«, erklärt Pippa.
Felicity nickt. »Dann geben wir ihm den Laufpass, einverstanden?«
Gähnend streife ich im Vorbeigehen die wohlbekannten, halb vergilbten Fotografien mit meinem Blick. Aber es ist eine Nacht der Entdeckungen. Eine der Fotografien in i h rem schmucklosen schwarzen Rahmen hat hinter dem Glas an g efangen, sich zu wellen. Es fehlt nicht mehr viel und das Foto zerfällt. Aber da ist noch etwas. Als ich genauer hinsehe, kann ich den dunklen Umriss an der Wand erke n nen, wo einmal ein fünftes Bild gehangen hat.
»Das ist merkwürdig«, sage ich zu Ann.
»Was?«
»Schau da, an der Wand. Siehst du die Spuren? Da war noch ein anderes Foto.«
»Na und? Vielleicht hatten sie es satt.«
»Oder vielleicht ist es der Jahrgang 1871 – die fehlende Klasse von Sarah und Mary«, sage ich.
Ann huscht gähnend in unser Zimmer. »Prima. Dann such es.«
Ja, denke ich. Vielleicht werde ich das tun. Ich glaube nicht, dass es davon kein Foto gegeben hat.
Ich glaube, es wurde entfernt.
Mein Schlaf ist unruhig, angefüllt mit Träumen. Ich sehe in den Wolken das Gesicht meiner Mutter, sanft und schön. Die Wolken driften auseinander. Der Himmel verwandelt sich. Er ballt sich zu einem grauen Ungeheuer zusammen, mit tiefen Löchern als Augen. Alles verfinstert sich. Das kleine Mädchen erscheint. Das Weiß ihrer Schürze und das exotische Kleid darunter stechen aus der Dunkelheit he r vor. Sie dreht sich langsam um sich selbst und es beginnt zu regnen. Karten. Es regnet Tarotkarten. Sie fangen Feuer, während sie fallen.
Nein, ich will diesen Traum nicht.
Er verschwindet. Ich träume wieder von Kartik. Ein hungriger Traum. Unsere Lippen sind überall zugleich. Ein einziger fiebriger, wilder Kuss. Seine Hände zerren am Ausschnitt meines Nachthemds, legen die Haut darunter bloß. Sein Mund erkundet die geschwungene Linie meines Halses, mit ung e stümen kleinen Bissen, die fast wehtun, vor allem aber erregen. Wir rollen übereinander, ein Knä u el aus Händen und Zungen, Fingern und Lippen. In mir wächst eine Spannung, bis ich denke, es reißt mich in St ü cke. Und als ich das Gefühl habe, ich halte es keinen Mo ment länger aus, wache ich mit einem Ruck auf. Mein Nachthemd klebt feucht an meinem Körper. Mein Atem geht flach. Ich lege meine Hände steif neben mich und li e ge lange Zeit unbeweglich, bis ich endlich in einen trau m losen Schlaf sinke.