11. Kapitel

 

Nach dem Abendessen behaupte ich; Kopfschme r zen zu haben, und Mrs Nightwing schickt mich gerad e wegs mit einer Wärmflasche ins Bett. Das bedeutet, dass ich Felicitys Einladung in ihr He i ligtum verpasse, die ich meinem neuen Status als Gehei m nisbewahrerin ve r danke. Aber mein Kopf wird von einem ganz anderen Gedanken beherrscht: Es muss einen Weg g e ben, meine Visionen zu kontrollieren.

Ich bin schon im Flur, als ein leises, dumpfes Geräusch meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Jemand ist in mei nem Zimmer. Mit pochendem Herzen, den Rücken flach an die Wand gepresst, schleiche ich mich heran, um hineinz u schauen. Kartik steht an meinem Schrei b tisch, zweifellos um mir eine weitere rätselhafte Warnung zu hi n terlassen. Aber dieses Mal entkommt er mir nicht. Mit e i nem Sprung bin ich beim offenen Fenster, durch das er hereingeko m men ist, und verriegle es. Er wi r belt herum, kampfbereit.

»Jetzt führt nur ein Weg hinaus«, sage ich atemlos.

Seine Augen werden schmal. »Treten Sie beiseite.«

»Nicht, bevor Sie mir ein paar Fragen beantwortet haben.« Ich habe ihm den einzigen Fluchtweg abg e schnitten. Wenn ich schreie, wird er geschnappt werden. Im Auge n blick sitzt er in der Falle. Er verschränkt die A r me vor der Brust, schaut mich groß an und wartet.

»Was tun Sie in meinem Zimmer?«

»Nichts«, sagt er, während er das Papier in seiner Faust geräuschvoll zusammenknüllt.

»Wollten Sie mir eine neue Botschaft hinterlassen?«

Er zuckt die Achseln.

Ich habe Zeit.

»Warum haben Sie mir heute im Wald geholfen?«

»Weil es nötig war.«

Mein Zorn flammt auf. »Das war es ganz bestimmt nicht.«

Er verzieht das Gesicht zu einem spöttischen Grinsen, was ihn weniger bedrohlich aussehen lässt. Jetzt ist er wie der der halbstarke Siebzehnjährige. »Wie Sie meinen.«

»Mein Plan hat funktioniert, oder nicht?«

Er lässt die Arme sinken. Seine Augen werden ernst. »Ihr Plan hat funktioniert, weil ich Ithal über redet habe zu gehen. Was wäre passiert, wenn er es nicht getan hätte? Was glauben Sie?«

Die Wahrheit ist, ich weiß es nicht. Mir fällt keine Antwort ein.

»Genau. Ich werds Ihnen sagen. Dieser eigensinnige Zigeuner wäre dageblieben und Ihre kleine Freundin, die so gern mit dem Feuer spielt, hätte sich böse verbrannt. Sie wäre von der Schule verwiesen worden und für den Rest ihres Lebens gesellschaf t lich ruiniert.« Er imitiert die hohe, affektierte Stimme einer Dame der feinen Gesellschaft. »Oh, haben Sie das schon gehört? –Ach ja, meine Teuer s te, im Wald überrascht mit einem Heiden … Sagen Sie I h rer Freundin, sie soll bei ihresgleichen bleiben und aufh ö ren, mit Ithal zu spielen.«

»Sie ist nicht meine Freundin«, sage ich.

Er zieht eine Augenbraue hoch. »Wer sind dann Ihre Freundinnen?«

Ich öffne den Mund, aber es kommt nichts heraus.

Er grinst. »Darf ich jetzt gehen?«

»Noch nicht.« Das ist kühn von mir, obwohl ich mich gar nicht kühn fühle. Aber ich will mehr wis sen. »Wer ist dieses ›wir ‹, das Sie erwähnten? Wa rum haben sie Angst vor meinen Visionen?«

»Ich muss Ihnen gar nichts sagen.«

Ich hasse ihn. Steht da in meinem Zimmer, als wären dieser Raum und ich sein Eigentum, gibt Wa r nungen und Beleidigungen von sich und erklärt überhaupt nichts. »Soll ich Ihnen verraten, was pa s siert, wenn ich jetzt gleich Zeter und Mordio schreie und Sie als Dieb gefasst werden?«

Das war zu kühn. Blitzschnell hat er mich gegen die Wand gedrückt, seinen Arm an meiner Kehle.

»Glauben Sie, Sie könnten mich aufhalten? Ich bin ein Rakschana. Unsere Bruderschaft besteht seit Jahrhunderten und reicht bis in die Zeit von König Artus, den Rittern der Tafelrunde und Karl dem Gr o ßen zurück. Wir sind jetzt die Hüter des Magischen Reichs und gedenken, es auch zu bleiben. Die Zeit der alten Riten ist vorbei. Wir werden nicht zulassen, dass Sie sie zurückbringen.«

Der Druck seines Arms macht mich schwindlig. »Ich ich verstehe nicht.«

»Sie könnten alles ändern. Sie könnten das Magische Reich betreten. Deswegen sind die hinter Ihnen her.« Er lockert seinen Griff, lässt mich los.

Meine Augen tränen. Ich reibe meinen Hals. »Wer? Wer ist hinter mir her?«

»Der Orden des aufgehenden Mondes.« Er spuckt den Namen heraus: »Circe.«

Circe. Das war der Name, den Kartiks Bruder meiner Mutter auf dem Marktplatz von Bombay zu geflüstert hat.

»All diese Namen sagen mir nichts. Wer sind die Rakschana , dieser Orden, Circe …«

Er schneidet mir das Wort ab. »Das tut nichts zur Sache. Sie sollen nur meinen Rat befolgen, und der lautet: Schluss mit den Visionen. Sie werden Sie in Gefahr bringen.«

»Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzähle, dass meine Mutter heute in einer Vision zu mir ge kommen ist?«

»Das glaube ich Ihnen nicht«, sagt Kartik, aber aus seinem Gesicht weicht alle Farbe.

»Das hier hat sie mir dagelassen.« Ich ziehe das Stück Stoff hervor, das ich in der Nähe meines Herzens aufbewah re. Er starrt es an. »Ich habe auch Ihren Bruder ges e hen.«

»Sie haben Amar gesehen?«

»Ja, er war in einer Art Eiswüste …«

Seine Stimme ist ruhig, aber rau: »Hören Sie auf.«

»Kennen Sie diesen Ort? Ist meine Mutter dort?«

»Ich sagte, hören Sie auf!«

»Aber was ist, wenn sie versucht, mich durch diese Visionen zu erreichen? Warum hätte sie mir das sonst dag e lassen?« Ich strecke ihm die blaue Seide hin.

»Das beweist gar nichts!«, sagt er und umklammert meine Hand. »Hören Sie mir zu: Das war nicht mein Bruder und auch nicht Ihre Mutter, die Sie gesehen haben, ve r standen? Es war nur eine Illusion. Sie müssen sie aus I h rem Geist verbannen.«

Aus meinem Geist verbannen? Mutter wiederzusehen ist das Einzige, wofür ich lebe. »Ich glaube, sie wollte mir e t was sagen.«

Er schüttelt den Kopf. »Es ist nicht real.«

»Wie wollen Sie das wissen?«

Seine Worte sind scharf, aber wohlüberlegt. »Weil es genau das ist, was Circe und der Orden tun –sie schrecken vor keiner Täuschung zurück, um zu b e kommen, was sie wollen. Ihre Mutter und mein Bruder sind tot. Sie sind g e storben, um Sie zu beschü t zen. Denken Sie daran, wenn Sie das nächste Mal von Ihren Visionen in Versuchung g e führt werden, Miss Doyle.« Aus seinen Augen spricht Mi t leid. Das ist schwerer zu ertragen als sein Hass. »Das Ma gische Reich muss verschlossen bleiben, Miss Doyle. Um unser aller willen.«

Ich bin für ihren Tod verantwortlich. Er hat es praktisch zugegeben. Er wird mir nicht helfen. Es ist zwecklos, es zu versuchen. Von unten sind die g e dämpften Stimmen der Mädchen zu hören. Sie werden jeden Moment heraufko m men. Aber eins muss ich noch wissen.

»Was ist mit Mary Dowd?«, frage ich gespannt.

»Wer ist Mary Dowd?«, fragt er, vom lauter werdenden Fußgetrappel auf den Treppenstufen abg e lenkt, zurück. Er weiß es nicht. Wer immer seine Auftraggeber sind, sie trauen ihm nur begrenzt.

»Meine Freundin. Sie haben mich doch gefragt, wer meine Freundinnen sind, nicht wahr?«

»Richtig.« Die nahenden Schritte erreichen den Treppenabsatz. Kartik schubst mich zur Seite, ist wie eine Ka t ze mit einem Satz auf der Brüstung und durchs Fenster hinaus. Ich sehe das Seil, das er mit einer Schlinge an e i nem kleinen Haken an der Wand befestigt hat. Es ist in dichtem Efeugestrüpp ve r steckt, sodass es kaum zu sehen ist. Schlau, aber nicht perfekt. Genauso wenig wie er selbst.

Ich schließe das Fenster hinter ihm, drücke meinen Mund an das Glas und beobachte, wie die Scheibe mit je dem meiner lautlosen Worte beschlägt. »Du kannst den Rakschana eine Nachricht von mir überbringen, Botscha f ter Kartik. Das war meine Mutter heute, dort im Wald. Und ich werde sie finden, ob du mir hilfst oder nicht.«