34. Kapitel

 

Reverend Waite fordert uns auf, mit der Bibel in der Hand aufzustehen und gemeinsam aus dem Buch der Richter, Kapitel elf, Vers dreißig bis vierzig, zu l e sen. Unsere Stimmen erfüllen die Kirche wie Gra b gesang.

»Und Jeftah gelobte dem HERRN ein Gelübde und sprach: Gibst du die Ammoniter in meine Hand, so soll, was mir aus meiner Haustür entgegengeht, wenn ich von den Ammonitern heil zurückkomme, dem HERRN gehören, und ich will ’s ab Brandopfer darbringen.«

»Ich musste ihr das über Miss Moore sagen«, flüstert mir Pippa leise ins Ohr. »Es war die einzige Möglichkeit, damit wir noch eine letzte Nacht z u sammen sein können.«

Vorne im Chor der Kapelle befindet sich ein farbiges Glasfenster mit dem Bild eines Engels. Aus dem Auge des Engels ist ein großer Glassplitter herau s gebrochen und hat eine klaffende Wunde hinterla s sen. Ich starre auf das Loch und sage nichts, leiere nur meinen Bibelvers herunter und lausche den Wo r ten, die um mich herumschwirren.

»Und der HERR gab sie in seine Hände …«

»Schließlich kann man nicht sagen, dass sie völlig unschuldig ist.«

 

»Ab nun Jeftah zu seinem Haus kam, siehe, da geht se i ne Tochter heraus ihm entgegen … und sie war sein einz i ges Kind …«

»Bitte, Gemma. Ich muss ihn wiedersehen. Weißt du, was es heißt, jemanden zu verlieren, ohne Lebe wohl zu sagen?«

Wenn ich ganz lange hinsehe, dann wächst die Lücke und der Engel verschwindet. Aber wenn ich blinzle, sehe ich den Engel, nicht aber die Lücke, und ich muss wieder von vorn anfangen.

»Und ab er sie sah, zerriss er seine Kleider und sprach: Ach, meine Tochter, wie beugst du mich und betrübst mich! Denn ich habe meinen Mund aufgetan vor dem HERRN und kann ’s nicht widerrufen …«

Pippa fängt wieder an, auf mich einzureden, aber Mrs Nightwing dreht sich um und wirft uns einen tadelnden Blick zu. Pippa steckt den Kopf in ihre Bi bel und liest mit neuem Eifer weiter.

»Und sie sprach zu ihrem Vater: Du wolltest mir das gewähren: Lass mir zwei Monate, dass ich hin gehe auf die Berge und meine Jungfrauschaft bewe i ne …«

Einige der jüngeren Mädchen kichern. Gefolgt von einem zischenden Chor von Schhhh-und Pssst-Lauten der Lehrerinnen – allen außer Miss Moore, die nicht anwesend ist. Sie ist in der Schule gebli e ben, um zu packen.

»Er sprach: Geh hin Da ging sie hin mit ihren Ge spielen und beweinte ihre Jungfrauschaft auf den Bergen.«

Reverend Waite schlägt die Bibel zu. »Also sprach der Herr. Lasset uns beten.«

Ein Scharren und dumpfes Poltern pflanzt sich wie eine Welle fort, als wir uns niedersetzen und unsere Bibeln wei terreichen, bis alle Bücher ordentlich am Ende jeder Bank aufgestapelt sind. Ich gebe meine Bibel an Pippa weiter, die meine Hand festhält.

»Nur noch eine letzte Nacht. Bevor ich für immer fort bin. Das ist alles, worum ich dich bitte.«

Ich ziehe meine Hand weg und die Bibel fällt in ihren Schoß. Dann wende ich mich wieder dem En gel zu. Ich starre ihn so lange und so intensiv an, dass er sich zu b e wegen scheint. Natürlich liegt es an der hereinbrechenden Dunkelheit, aber für einen Moment könnte ich schwören, dass ich die Flügel des Engels flattern sehe, dass seine Hände das Schwert fester packen und das Schwert blitza r tig in das Lamm fährt. Ich wende meine Augen ab und der Moment ist vorbei.

 

 

Nach dem Abendessen folge ich den anderen nicht wie üblich in den Marmorsaal. Ich höre sie nach mir rufen. Doch ich gebe keine Antwort. Stattdessen si t ze ich allein im Empfangszimmer, mit dem aufgeschlagenen Französisc h buch im Schoß, und tue so, als würde ich mich auf Konj u gationen und Zeiten konzentrieren. Aber in Wahrheit warte ich auf ihre Schritte draußen im Flur. Mir ist noch nicht klar, was ich sagen werde, aber ich weiß, dass ich Miss Moore nicht gehen lassen kann ohne den Versuch einer Er klärung oder Entschuldigung.

Nach einer Weile kommt sie an der offenen Tür vorbei. Sie trägt ein flottes Reisekostüm und einen breitkrempi gen Hut. Sie sieht aus, als würde sie in die Ferien ans Meer fa h ren –und nicht, als ließe sie Spence in einer Wolke aus Verlogenheit und Niedertracht hinter sich z u rück.

Ich folge ihr zur Eingangstür.

»Miss Moore?«

Sie schließt die Knöpfe ihres Handschuhs und streckt die Finger. »Miss Doyle, was führt Sie hier her? Versäumen Sie nicht kostbare Minuten gesel l schaftlichen Kontakts?«

»Miss Moore«, sage ich mit erstickter Stimme. »Es tut mir so leid.«

Sie lächelt matt. »Ja, das glaube ich Ihnen.«

»Ich wünschte …« Das unterdrückte Weinen schnürt mir die Kehle zu.

»Ich würde Ihnen gern mein Taschentuch geben, aber ich glaube, es ist schon in Ihrem Besitz.«

»Oh, tut mir leid«, keuche ich. Jetzt erinnere ich mich, dass sie mir nach Pippas epileptischem Anfall ein Taschen tuch geborgt hat. »Verzeihen Sie mir.«

»Nur, wenn Sie sich selbst verzeihen.«

Ich nicke. Von draußen wird an die Tür geklopft. Miss Moore wartet nicht auf Brigid. Sie öffnet die Tür weit, weist den Kutscher an, ihren Koffer zu nehmen, und be o bachtet, wie er ihn auf den Wagen lädt.

»Miss Moore …«

»Hester.«

»Hester«, sage ich und empfinde es als einen beschämenden Luxus, sie beim Vornamen zu nennen. »Wohin werden Sie jetzt gehen?«

»Ich möchte ein bisschen reisen, denke ich. Dann miete ich mir irgendwo in London eine Wohnung und bewerbe mich als Hauslehrerin.«

Der Kutscher ist bereit. Miss Moore nickt ihm zu. Dann wendet sie sich noch einmal an mich. Ihre Stimme schwankt, aber der Griff, mit dem sie meine Hände u m fasst, ist sicher.

»Gemma wenn Sie jemals etwas brauchen soll ten …« Sie bricht ab, offenbar nach Worten suchend. »Was ich s a gen will, ist, Sie scheinen von einem a n deren Schlag zu sein als die meisten Mädchen hier. Ich denke, Ihre Zukunft wird sich vielleicht nicht in Tanztees und höflicher Ko n versation erschöpfen. Was für einen Weg Sie auch ei n schlagen werden, ich hoffe, dass ich an Ihrem Schicksal weiter Anteil nehmen kann und dass Sie sich nicht scheuen we r den, mich zu besuchen.«

Mir läuft eine Gänsehaut über die Arme. Ich bin Miss Moore so unendlich dankbar. Ich verdiene ihre Freundlich keit gar nicht.

»Werden Sie das tun?«

»Ja«, höre ich mich sagen.

Sie lässt meine Hände los und schreitet erhobenen Hauptes durch die Tür und auf die Karosse zu. Auf halbem Weg dreht sie sich noch einmal um und ruft mir zu: »Sie werden sich mit diesen Stillleben i r gendwie arrangieren müssen.«

Damit steigt sie in den Wagen und klopft zweimal. Die Pferde wiehern und ziehen an, dann traben sie, Erde au f wirbelnd, auf die Toreinfahrt zu. Ich be o bachte, wie der Wagen in der Ferne kleiner und kleiner wird, bis er um e i ne Kurve biegt und in der Nacht verschwindet.