24. Kapitel

 

Der Nachmittag hat sich herausgeputzt und die Wie sen und Gärten der Spence-Akademie für junge Da men wimmeln von Mädchen –beim Seilspringen, beim Krocketspielen, umherschlendernd, sich unte r haltend. Wir vier haben uns für ein Rasentennis-Doppel entschieden. Felicity und Pippa spielen gegen Ann und mich. Jedes Mal, wenn mein Schl ä ger den Ball trifft, fürchte ich, jemanden zu köpfen. Ich denke, dass ich Te n nis getrost der langen Liste von Ferti g keiten hinzufügen kann, die ich nicht erwerben werde. Zu fällig gelingt es mir, den Ball ins gegnerische Feld zu spi e len. Er segelt an Pippa vorbei, die ihm so enthusiastisch mit den A u gen folgt wie eine grasende Kuh.

Felicity schaut sie empört an. »Pippa!«

»Ich kann nichts dafür. Das war ein elender Aufschlag!«

»Du hättest dich wenigstens bemühen können, den Ball zu erreichen«, sagt Felicity, ihren Schläger durch die Luft wirbelnd. »Er war eindeutig außerhalb meiner Reichwe i te!«

»Aber so vieles ist jetzt innerhalb unserer Reichweite«, sagt Felicity vieldeutig.

 

Die Mädchen, die unser Match verfolgen, können die Anspielung nicht verstehen, ich aber verstehe sie sehr wohl. Pippa hi n gegen zeigt sich begriffsstutzig.

»Das ist langweilig und mein Arm tut weh«, jammert sie.

Felicity rollt mit den Augen. »Also schön. Machen wir einen Spaziergang, einverstanden?«

Unsere Schläger überlassen wir einem eifrigen Vierergespann mit geröteten Wangen. Wir haken uns unter und streifen durch die hohen Bäume, stoßen dabei auf Gruppen jüngerer Mädchen, die Robin Hood spielen. Das Problem ist, dass alle die schöne Marian sein wollen und niemand Bruder Tuck.

»Wirst du uns heute Nacht wieder ins Magische Reich bringen?«, fragt Ann, als die Stimmen der Kinder hinter uns zu einem Summen abgeklungen sind.

»Das kann ich euch schriftlich geben.« Ich lächle. »Es gibt jemanden, den ich euch vorstellen möchte.«

»Wen?«, fragt Pippa, während sie sich bückt, um ein paar Eicheln aufzusammeln.

»Meine Mutter.«

Ann schnappt nach Luft. Pippas Kopf fährt hoch. »Aber ist sie nicht …«

Felicity unterbricht sie. »Pippa, hilf mir, ein paar Goldruten für Mrs Nightwing zu pflücken. Das sollte sie heute Abend in eine milde Stimmung versetzen.«

Pflichtschuldig macht sich Pippa mit Felicity auf den Weg und bald suchen wir alle nach den gelben September blumen. Beim Weiher unten sehe ich Kartik, der mit ve r schränkten Armen am Bootshaus lehnt und mich beobac h tet. Sein s chwarzer Mantel flattert im Wind. Ich frage mich, ob er über das Schicksal seines Bruders Bescheid weiß. Einen Augenblick lang fühle ich Mitleid mit ihm. Aber dann muss ich an die Drohungen und den Spott de n ken und an die selbstgefällige Art, auf die er versucht hat, mich he r umzukommandieren, und mein Mitgefühl ist wie weggeblasen. Ich stehe kerzengerade und trotzig und starre geradewegs zu ihm zurück.

Pippa kommt hinzu. »Du lieber Himmel, ist das nicht der Zigeuner, der mich beim Baden gesehen hat?«

»Ich erinnere mich nicht«, lüge ich.

»Ich hoffe, er versucht nicht, uns zu erpressen.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sage ich in möglichst gleichgültigem Ton. »Oh, sieh mal –eine Herbstzei t lose.«

»Er schaut ziemlich gut aus, nicht?«

»Findest du?« Das rutscht mir raus, bevor ich es verhindern kann.

»Für einen Zigeuner zumindest.« Sie wirft auf eine reichlich affektierte Art den Kopf zurück. »Er scheint mich anzusehen.«

Dass Kartik möglicherweise Pippa beobachtet und nicht mich, ist mir bisher gar nicht in den Sinn ge kommen, und aus irgendeinem Grund ärgert mich diese Vorstellung. Auch wenn ich noch so wütend auf ihn bin, möchte ich, dass er nur auf mich achtet.

»Wo habt ihr denn eure Augen?«, fragt Ann. Ihre Hände sind voll langstieliger gelber Blumen, die schon die Köpfe hängen lassen.

»Bei dem Burschen dort drüben. Es ist der Zigeuner, der mich im Unterhemd gesehen hat.«

Ann blinzelt. »Ach ja. Der. Ist es nicht der, den du geküsst hast, Gemma?«

»Das ist nicht wahr!«, ruft Pippa entsetzt.

»Doch«, sagt Ann sachlich. »Aber nur, um uns vor den Zigeunern zu retten.«

»Ihr wart bei den Zigeunern? Wann? Warum habt ihr mich nicht mitgenommen?«

»Das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir auf dem Rückweg«, sagt Felicity ungehalten. Pippa beschwert sich, dass wir ihr wichtige Informationen vorenthalten h a ben, aber Felicitys Augen wandern zu Kartik und dann zu mir und ihr Blick verrät, dass sie mich durchschaut hat. Sie legt ihren Arm um Pippas Schultern und erzählt ihr von unserem Abenteuer im Zigeunerlager, und zwar so, dass ich völlig reing e waschen daraus hervorgehe. Ich bin eine großmütige, aufopfernde Heldin, die seinen Kuss ertragen hat, nur um uns zu retten. Es ist so überzeugend, dass ich es fast selbst glaube.

 

 

Als wir wieder durch das Tor aus Licht treten, begrüßt uns der Garten des Magischen Reichs mit s ü ßen Düften und einem strahlenden Himmel. Ich bin in einem Zwiespalt. Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich mit meiner Mutter haben we r de, und eine leise Stimme in mir sagt, dass ich diese Zeit nicht mit meinen Freundinnen teilen möchte. Aber sie sind meine Freundinnen und vielleicht wird sich meine Mutter freuen, sie kennenzulernen.

»Folgt mir«, sage ich und mache mich auf den Weg talabwärts. Von Mutter ist weit und breit nichts zu sehen.

»Wo ist sie?«, fragt Ann.

»Mutter?«, rufe ich laut. Keine Antwort. Nichts außer dem Zwitschern der Vögel. Was, wenn sie gar nicht wirk lich hier ist? Wenn ich es mir nur eingebi l det habe?

Meine Freundinnen weichen meinem Blick aus. Pippa flüstert Felicity leise etwas ins Ohr.

»Vielleicht hast du es nur geträumt?«, meint Felicity vorsichtig.

»Sie war dal Ich habe hier mit ihr gesprochen!«

»Ja, aber jetzt ist sie nicht da«, stellt Ann fest.

»Na komm«, sagt Pippa zu mir, wie man mit einem kleinen Kind spricht. »Lass uns die Zeit hier genießen. Es ist einfach wie im Paradies.«

»Suchst du mich?« Plötzlich steht Mutter in ihrem blauen Kleid vor uns. Sie ist so schön wie immer. Meine Freundinnen sind sprachlos über ihre Ersche i nung.

»Felicity, Pippa, Ann darf ich vorstellen, Virginia Doyle, meine Mutter.«

Die Mädchen murmeln eine höfliche Begrüßung.

»Ich freue mich ja so sehr, euch kennenzulernen«, sagt Mutter. »Was für hübsche Mädchen ihr alle seid.« Das hat die gewünschte Wirkung. Sie erröten, vollkommen bezaubert. »Wollen wir einen kleinen Spaziergang m a chen?«

Bald verlieren sie ihre Scheu und unterhalten Mutter mit Geschichten über Spence und über sich selbst. A l le drei wetteifern um ihre Aufmerksamkeit und ich bin ein bis s chen gekränkt, weil ich Mutter gern für mich allein haben möchte. Aber dann zwinkert sie mir zu, nimmt meine Hand und ich bin wieder glüc k lich.

»Wollen wir uns setzen?« Mutter zeigt auf eine aus hauchdünnen Silberfäden gewobene Decke, die auf dem Gras ausgebreitet ist. Für ein so federleic h tes Ding ist sie überraschend fest und behaglich. Fe licity streicht mit ihren Händen über das feine Gewebe. Die Fäden geben die e r staunlichsten Töne von sich.

»Du lieber Himmel«, sagt Felicity entzückt. »Hört ihr das? Pippa, versuch du es mal.«

Wir alle tun es. Und es ist, als würde unter unseren Fingern eine Harfensymphonie erklingen. Wir sind überwä l tigt.

»Ist das nicht wunderbar? Ich frage mich, was wir noch tun können«, überlegt Felicity.

Mutter lächelt. »Alles.«

»Alles?«, wiederholt Ann.

»In diesem Garten könnt ihr alles haben, was ihr euch wünscht. Ihr müsst nur wissen, was ihr wollt.«

Wir nehmen ihre Worte in uns auf, ohne ihre Bedeutung ganz zu erfassen. Schließlich steht Ann auf. »Ich probier ’s mal.« Sie zögert. »Was muss ich tun?«

»Was wünschst du dir am meisten? Nein sags uns nicht. Richte deine Gedanken darauf. Wie eine Beschw ö rung.«

Ann nickt und schließt die Augen. Eine Minute vergeht.

»Nichts ist geschehen«, flüstert Felicity. »Oder?«

»Ich weiß nicht«, sagt Pippa. »Ann? Ann; ist alles in Ordnung?«

Ann wippt auf ihren Fersen vor und zurück. Ihre Lippen öffnen sich leicht. Ich fürchte, sie ist in eine Art Trance gefallen. Ich schaue zu meiner Mutter, die einen Finger auf ihren Mund legt. Anns Lippen öffnen sich weit. Musik strömt aus ihrer Kehle, ein Gesang, wie ich ihn noch nie gehört habe, volltönend und klar, lieblich wie die Stimme eines Engels. Eine Gänsehaut läuft mir über die Arme. Je der Ton scheint sie zu verändern. Sie ist immer noch Ann, aber das Singen macht sie auf schmerzliche Weise schön. Ihr Haar glänzt. Ihre Wangen werden glatt und schi m mernd. Sie ist wie eine Nixe, die aus der dunklen Tiefe ans Licht emporgetaucht ist.

»Ann, du bist wunderschön«, stößt Pippa überrascht hervor.

»Wirklich?« Ann läuft zum Fluss, sieht ihr Spiegelbild. »Ja, es stimmt !« Sie lacht beglückt. Es ist überraschend, von Ann ein richtiges Lachen zu h ö ren. Sie schließt die Augen und lässt ihre glockenre i ne Stimme über das Tal schweben.

»Incroyable!«, sagt Felicity, mit ihrem Französisch a n gebend. »Jetzt will ich es probieren!«

»Ich auch!«, ruft Pippa.

Sie schließen die Augen, meditieren einen Moment und machen die Augen wieder auf.

»Ich sehe ihn nicht«, sagt Pippa, um sich blickend.

»Wartet Ihr auf mich, mein Fräulein?« Ein schöner junger Ritter tritt hinter einer großen goldenen Eiche hervor. Er lässt s ich vor Pippa auf ein Knie sinken. Pippa schnappt nach Luft. »Ich habe Euch erschreckt Verzeiht mir.«

»Ich hätte es mir denken können«, flüstert mir Felicity trocken ins Ohr.

Pippa blickt ihn strahlend an. »Schon verziehen«, sagt sie leichthin.

Er erhebt sich. Er ist nicht älter als achtzehn, aber hochgewachsen, mit Haaren von der Farbe reifen Korns. Seine breiten Schultern sind von einem Ke t tenhemd bedeckt, so leicht und anschmiegsam, dass es fast flüssig wirkt. Seine Ausstrahlung ist die eines Löwen. Machtvoll. Anmutig. Edel.

»Wo ist Euer Streiter, mein Fräulein?«

Pippa stolpert vor lauter Anstrengung, vornehm zu klingen, über ihre Zunge. »I-ich habe keinen Stre i ter.«

»Dann bitte ich Euch, mir diese Ehre zu erweisen. Wenn mir das Fräulein seine Gunst schenken will.«

Pippa wendet sich uns zu, ihr Flüstern kippt in ein aufgeregtes Quieken um. »Bitte sagt mir, dass ich das nicht träume.«

»Es ist kein Traum«, flüstert Felicity zurück. »Oder wir träumen alle das Gleiche.«

Pippa muss sich furchtbar zusammennehmen, um nicht vor Glück zu schreien und auf und ab zu hop sen wie ein Kind. »Edler Ritter, ich schenke Euch meine Gunst.« Sie versucht, einen gebieterischen Ton anzuschlagen, kann aber das Kichern kaum u n terdrücken.

»Mein Leben für das Eure.« Er verneigt sich. Wartet.

»Ich glaube, es ist an der Zeit, ihm irgendetwas von dir zu geben, einen Beweis der Zuneigung«, flüs tere ich ihr zu.

»Oh.« Pippa errötet. Sie zieht einen Handschuh aus und reicht ihn ihm.

»Mein Fräulein«, sagt der Ritter ergeben. »Ich gehöre Euch.« Er reicht ihr seinen Arm, sie nimmt ihn, wirft noch einmal einen Blick zu uns zurück, dann lässt sie sich von ihm auf die Wiese hinunterführen.

»Irgendwelche Ritter für dich?«, frage ich Felicity. Sie schüttelt den Kopf. »Was hast du dir dann ge wünscht?«

Ein rätselhaftes Lächeln geht über ihr Gesicht. »Unbegrenzte Macht.«

Mutter betrachtet sie mit einem kühlen Blick. »Gib acht, was du dir wünschst.«

Ein Pfeil schwirrt an unseren Köpfen vorbei. Er bleibt in einem Baumstamm unmittelbar hinter uns stecken. Eine Jägerin kriecht aus der Deckung. Ihr Haar ist zu einem l o ckeren Knoten gesteckt wie das einer Göttin. Ein voller Kö cher mit Pfeilen hängt über ihren Rücken, einen Bogen hält sie schussbereit in den Händen. Der Köcher ist alles, was sie am Leib trägt. Sie ist nackt wie ein neugeborenes Baby.

»Du hättest uns töten können«, sage ich. Ich halte den Atem an und versuche, nicht auf ihre Blöße zu starren.

Sie zieht den Pfeil aus dem Baumstamm. »Aber ich habe es nicht getan.« Sie wendet sich Felicity zu, die sie faszi niert und furchtlos betrachtet. »Du bist nicht ängstlich, oder?«

»Nein«, sagt Felicity und greift sich den Pfeil. Sie lässt ihre Finger über die scharfe Spitze gleiten. »Nur neugie rig.«

»Bist du auch eine Jägerin?«

Felicity reicht den Pfeil zurück. »Nein. Mein Vater pflegte zu jagen. Er sagte, die Jagd sei der Sport, den er am meisten liebe.«

»Aber du hast ihn nie begleitet?«

Felicity lächelt bitter. »Nur Söhne dürfen jagen. Töchter nicht.«

Die Jägerin umfasst mit einer Hand Felicitys Oberarm. »In diesem Arm steckt große Kraft. Du könntest eine vor zügliche Jägerin werden. Du bist mächtig stark.« Das Wort mächtig entlockt Felicity ein Lächeln und ich weiß, dass sie bekommen wird, was sie sich gewünscht hat. »Möchtest du es le r nen?«

Als Antwort nimmt Felicity Pfeil und Bogen.

»Um den Stamm des Baumes dort ringelt sich eine Schlange«, sagt die Jägerin.

Felicity kneift ein Auge zu, setzt den Pfeil auf und spannt mit aller Kraft die Sehne. Der Pfeil fliegt hoch in die Luft, fällt nieder und hüpft ein Stück über den Boden. Felicitys Wangen röten sich vor Enttä u schung.

Die Jägerin klatscht Beifall. »Eine beachtliche Leistung. Aus dir könnte eine gute Bogenschützin werden. Aber zu erst musst du aufmerksam beobac h ten und geduldig üben.«

Felicity und aufmerksam und geduldig? Vergiss es. Jägerin oder nicht, vor ihr liegt ein dorniger Weg, wenn sie Fel i city Disziplin beibringen will. Aber zu meiner Überr a schung ist Felicity eine gelehrige Schülerin. Ohne zu mu r ren oder zu widersprechen, folgt sie der Jägerin und lässt sich bereitwillig wieder und wieder die richtige Technik zeigen.

»Was hast du dir gewünscht?«, fragt mich Mutter, als wir zwei allein sind.

»Ich habe, was ich will. Du bist hier.«

Sie streichelt meine Wange. »Ja. Für eine Weile noch.«

Meine gute Stimmung verfliegt. »Wie meinst du das?«

»Gemma, ich kann nicht für immer bleiben, sonst würde ich schließlich wie eine von diesen unglückli chen Seelen umherirren, die nie ihren Seelenfrieden finden, weil sie ihre Aufgabe nicht erfüllen.«

»Und was ist deine?«

»Ich muss wiedergutmachen, was Mary und Sarah vor vielen Jahren getan haben.«

»Was haben sie getan?«

Bevor Mutter antworten kann, stürzt Pippa auf mich zu, rennt mich vor überschwänglicher Begeiste rung fast über den Haufen. Stürmisch fällt sie mir um den Hals. »Hast du ihn gesehen? War er nicht der vollendete Kavalier? Er g e lobte, mein Streiter zu sein! Ja, er gelobte sogar, sein Le ben für mich hinzugeben! Hast du je etwas nur halb so Romantisches gehört? Kannst du das fassen?«

»Kaum«, sagt Felicity spöttisch. Sie kommt gerade von ihrer Jagdlektion zurück, erschöpft, aber glück lich. »Es ist nicht so leicht, wie es aussieht, das kann ich euch sagen. Mein Arm wird mir eine Woche lang wehtun.«

Sie beschreibt mit ihrer Schulter kleine Kreise und zuckt vor Schmerz ein bisschen zusammen. Aber ich weiß, dass sie für diesen schmerzenden Arm dankbar ist, dankbar und froh, weil er ein Beweis ihrer ve r borgenen Kräfte ist.

Ann kommt herübergeschlendert. Ihr dünnes, strähniges Haar fällt in duftigen Ringellocken auf ihre Schultern. Auch i hre Nase scheint nicht mehr zu laufen. Ann zeigt auf die hohen, schlanken Kristalle, die sich in einem weiten Kreis hinter meiner Mutter erheben. »Was sind das für St ä be?«

»Das sind die Runen des Orakels, das Herz dieser Welt«, sagt Mutter. Ich trete zu einem der Kristall stäbe. »Fass ihn nicht an«, warnt Mutter.

»Warum nicht?«, fragt Felicity.

»Man muss zuerst wissen, wie die Magie funktioniert, wie man sie beherrscht, bevor man sie in sich aufnimmt und sich ihrer dann auf der anderen Seite bedient.«

»Wir können diese Wunderkraft in unsere Welt bringen?«, fragt Ann.

»Ja, aber jetzt noch nicht. Sobald der Orden des aufgehenden Mondes wiedererstanden ist, können sie euch le h ren, damit umzugehen. Bis dahin ist es nicht sicher.«

»Warum nicht?«, frage ich.

»Es ist schon so lange her, dass die Magie hier genutzt wurde. Nicht auszudenken, was passieren könnte. Es könn te etwas nach draußen gelangen. Oder herein.«

»Sie summen«, sagt Felicity.

»Ihre Energie ist gewaltig«, sagt Mutter. Sie schlingt einen Faden Goldgarn zu einer Figur.

Wenn ich meinen Kopf auf die eine Seite lege, scheinen die Kristalle fast zu verschwinden. Aber wenn ich ihn auf die andere Seite lege, kann ich sie vom Boden emporste i gen sehen, funkelnder als Diamanten. »Wie genau funkti o niert es?«, frage ich.

Mutters Finger schlüpfen durch die Garnschlingen, hinein u nd heraus. »Wenn man die Kristalle berührt, ist es, als würde man eins mit der Magie. Sie fließt durch deine Adern. Und dann vermagst du in der a n deren Welt das Gleiche zu tun wie hier im Mag i schen Reich.«

Felicity hält ihre Hand noch ein wenig dichter an einen der Stäbe. »Merkwürdig. Als ich näher ge kommen bin, hat er aufgehört zu summen.«

Ich kann nicht widerstehen. Ich strecke meine Hand aus, nicht so weit, dass ich den Kristall berüh re, aber ziemlich nahe an ihn heran. Ein Energi e strom erfasst mich. Meine Augenlider flattern. Das Verlangen, den Kristall zu berü h ren, ist überwält i gend.

»Gemma!«, ruft Mutter.

Schnell ziehe ich meine Hand zurück. Mein Amulett glüht. »W-was war das?«

»Du bist gewissermaßen die Rohrleitung«, erklärt Mutter. »Die Magie fließt durch dich hindurch.«

Felicitys Gesicht verdüstert sich. Aber plötzlich kommt ihr eine Idee und sie grinst von einem Ohr zum anderen. Sie lehnt sich auf ihre Ellbogen zurück. »Stellt euch vor, wir hätten diese magische Kraft in Spence!«

»Dann könnten wir tun, was wir wollen«, setzt Ann hinzu.

»Ich würde einen Schrank voll mit den allermodernsten Kleidern haben. Und haufenweise Geld.« Pippa kichert.

»Ich würde für einen Tag unsichtbar sein«, sagt Felicity.

»Das würde ich nicht«, sagt Ann heftig.

»Ich könnte Vaters Schmerz lindern.« Ich schaue zu Mutter. Ihre Augen verengen sich.

»Nein«, sagt sie, während sie die Figur wieder auftrennt.

»Warum nicht?« Meine Wangen glühen.

»Wir würden vorsichtig sein«, sagt Pippa.

»Ja, schrecklich vorsichtig«, pflichtet ihr Felicity bei. Sie versucht Mutter umzustimmen, als wäre sie eine von uns e ren Lehrerinnen, die sich leicht um den Finger wickeln la s sen.

Mutter zerknüllt das Garn in ihrer Faust. Ihre Augen blitzen. »Sich diese Kraft zu eigen zu machen, ist kein Spiel. Es ist harte Arbeit. Und es bedarf gründlicher Vorb e reitung, nicht wilder Neugier übe r eifriger Schulmädchen.«

Felicity ist bestürzt. Ich nehme die Bemerkung persönlich und bin empört, vor meinen Freundinnen gerügt wo r den zu sein. »Wir sind nicht übereifrig.«

Mutter legt mir mit einem leisen Lächeln die Hand auf den Arm und ich fühle mich beschämt, weil ich mich so kindisch benommen habe. »Alles zu seiner Zeit.«

Pippa schaut sich einen der Kristallstäbe genau an. »Was sind das für Zeichen hier unten am Fuß?«

»Das ist eine alte Sprache, älter als Griechisch oder Latein.«

»Aber was heißt es?«, will Ann wissen.

»Ich verändere die Welt. Die Welt verändert mich.«

Pippa schüttelt den Kopf. »Was bedeutet das?«

»Alles, was du tust, kommt zu dir zurück. Wenn du eine Situation beeinflusst, beeinflusst das auch dein Leben.«

»Mein Fräulein!« Der Ritter ist zurückgekommen. Er hat eine Laute mitgebracht und stimmt ein Lied an, in dem er Pippas Schönheit und Tugend besingt.

»Ist er nicht traumhaft? Ich glaub, ich sterbe vor Glück. Komm, lass uns tanzen!« Ann am Ärmel hinter sich her ziehend läuft Pippa auf den hinreißenden Troubadour zu. Die Runen sind völlig vergessen.

Felicity klopft ihren Rock ab und folgt ihnen. »Kommst du auch?«

»Gleich«, rufe ich ihr nach.

Mutter nimmt die Garnschlinge wieder auf und mit fliegenden Fingern arbeitet sie weiter an ihren kunstvollen Fi guren. Plötzlich hält sie inne. Schließt die Augen und stöhnt, als sei sie verwundet.

»Mutter, was ist? Geht es dir gut? Mutter!«

Als sie die Augen wieder öffnet, atmet sie schwer. »Es kostet so viel Kraft, es fernzuhalten.«

»Was fernzuhalten?«

»Das Ungeheuer. Es sucht noch immer nach uns.«

Das kleine Mädchen mit dem schmutzigem Gesicht guckt hinter einem Baum hervor. Mit weit au f gerissenen Augen schaut es meine Mutter an. Mu t ters Gesicht wird weich. Ihr Atem geht wieder normal. Sie ist die unu m schränkte Autorität, an die ich mich erinnere –geschäftig in unserem Haus hantierend, Befehle erteilend, im alle r letzten Moment die Tischordnung ändernd. »Es besteht kein Grund zur Besorgnis. Ich kann die Bestie eine Weile an der Na se herumführen.«

Felicity ruft nach mir. »Gemma, du versäumst das Allerbeste.« Die drei wirbeln umeinander herum, schwingen gemeinsam das Tanzbein zum Rhythmus der Laute.

Mutter beginnt das Garn zu einer neuen Figur zu schlingen. Ihre Hände zittern. »Warum machst du nicht mit? Ich möchte gern sehen, wie du tanzt. Also los, Liebling.«

Widerwillig schlendere ich zu meinen Freundinnen hinüber. Unterwegs erspähe ich das kleine Mä d chen, das noch immer mit erschrockenen Augen auf meine Mutter starrt. Das Kind hat etwas an sich, dem ich mich nicht entziehen kann. Ich habe das unb e stimmte Gefühl, es gibt da etwas, was ich wissen müsste.

»Zeit zu tanzen!« Felicity ergreift meine beiden Hände und wirbelt mich wild herum. Mutter klatscht den Takt. Der Ritter schlägt die Laute schneller und schneller, feuert uns an, uns immer rascher zu dr e hen, mit fliegendem Haar, die Hände der anderen fest umklammert.

»Was immer du tust, lass nicht los!«, schreit Felicity, während wir unsere Körper der Fliehkraft hin geben, bis wir nur noch ein großer farbiger Fleck in der Landschaft sind.

 

 

Bis wir in unsere Zimmer zurückkehren, hat der nachtdunkle Himmel schon eine sanftere Schattierung ang e nommen. Die Dämmerung ist nur noch wenige Augenblicke entfernt. Mo r gen werden wir für unser Abenteuer bitter büßen mü s sen.

»Deine Mutter ist reizend«, sagt Ann, als sie unter ihre Decke schlüpft.

»Danke«, flüstere ich, während ich eine Bürste durch mein Haar ziehe. Das Tanzen und die nachfolgende u n sanfte Landung im Gras –haben es hoffnungslos durchei n andergebracht, genauso wie meine Gedanken.

»Ich erinnere mich überhaupt nicht an meine Mutter. Findest du das sehr schlimm?«

»Nein«, sage ich.

Halb im Schlaf murmelt Ann leise: »Ich frage mich, ob sie sich an mich erinnert …«

Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Aber es spielt keine Rolle. Ann schnarcht schon. Ich gebe das Bürsten auf und schlüpfe unter meine eigenen De cken. Da spüre ich neben mir ein Knistern. Ich taste mit der Hand umher und entdecke in den Laken ve r steckt eine Nachricht. Ich muss damit ans Fenster gehen, um sie entziffern zu können.

 

Miss Doyle,

Sie spielen ein sehr gefährliches Spiel. Wenn Sie jetzt nicht aufhören, bin ich gezwungen einzugreifen. Ich bitte Sie, Schluss zu machen, solange Sie noch können.

 

Ein weiteres Wort wurde hastig darunter gekritzelt, dann durchgestrichen.

 

Bitte.

 

Die Unterschrift fehlt, aber ich weiß, das ist Kartiks Werk. Ich zerreiße die Nachricht in ganz kleine Stücke. Dann öf f ne ich das Fenster und übergebe die Schnipsel dem Wind.