7. Kapitel
Es ist das Geräusch, das mich weckt. Meine Augen lider öffnen sich schwerfällig, gegen die Reste von Träumen a n kämpfend. Ich liege auf der Seite, dem Bett von Ann z u gewandt. Am anderen Ende des Zimmers sehe ich undeu t lich die Tür und in ihr einen Schatten. Um mehr zu erkennen, müsste ich mich bew e gen, mich halb herumdrehen, mich aufsetzen. Aber das will ich gar nicht. Es ist die Logik einer Fünfjähr i gen: Was ich nicht sehen kann, kann mich auch nicht sehen. Zweifellos sind schon viele Leute mit abgehackten Köpfen aufg e wacht, weil sie das Gleiche gedacht haben.
Also schön, Gemma, kein Grund zur Panik. Wahrscheinlich ist es nichts. Ich blinzle und warte, bis sich meine A u gen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Das Mondlicht streckt seine Finger zwischen die Falten der langen Sam t vorhänge. Draußen kratzt ein Zweig an der Fensterscheibe. Ich horche angestrengt auf das andere Geräusch, hier dri n nen im Zimmer. Aber außer Anns gleichmäßigen Atemz ü gen ist nichts zu hören. Einen Moment lang denke ich, wahrscheinlich habe ich es nur geträumt. Und dann höre ich es wieder. Das Knarren von Dielen unter vorsichtigen Tritten, das mir sagt, dass i ch es mir nicht nur eingebildet habe. Ich kneife meine Auge n lider bis auf schmale Schlitze zu, um so zu tun, als würde ich schlafen, und trotzdem zu s e hen. Niemand schlägt mir den Kopf ab, ohne dass ich mich zur Wehr setze. Eine Gestalt kommt näher. Meine Zunge fühlt sich dick und trocken in meinem Mund an. Die Gestalt streckt eine Hand aus und ich fahre hoch wie ein Blitz und knalle mit dem Kopf gegen den Maue r vorsprung über meinem Bett.
Ich schreie vor Schmerz auf, vergesse meinen Besucher und presse alle zehn Finger an meinen drö h nenden Kopf.
Eine überraschend kleine Hand hält mir den Mund zu. »Willst du die ganze gottverdammte Schule auf wecken?« Felicity beugt sich über mich, das Mon d licht verleiht ihrem Gesicht harte Konturen und milchweiße Haut. Es könnte das Gesicht des Mondes selbst sein.
»Was tust du hier?«, frage ich, während ich über die gänseeigroße Beule taste, die an meinem Haa r ansatz wächst.
»Ich hab dir gesagt, wir würden dich holen.«
»Du hast nicht gesagt, dass es mitten in der gottverdammten Nacht sein wird«, sage ich, ihren Ton nacha h mend. Felicity soll merken, dass sie sich in mir verrechnet hat. Ich werde ihr zeigen, dass ich die Kraft habe, es mit ihr aufzunehmen, und sie nicht so leicht gegen mich gewinnen kann.
»Komm mit. Ich will dir etwas zeigen.«
»Was?«
Sie spricht langsam mit mir, wie mit einem Kind. »Folge mir und ich zeig’s dir.«
Mein angeschlagener Kopf tut noch immer weh. Ann schnarcht ein bisschen und bekommt nicht das Geringste mit.
»Komm am Morgen wieder«, sage ich und lasse mich in mein Kissen zurückfallen. Ich bin wach genug, um zu wis sen, dass das, was sie mir zu dieser Stunde zeigen will, nichts Gutes sein kann.
»Dieses Angebot mach ich dir nicht noch mal.«
Schlaf wieder ein, Gemma. Die Sache klingt nicht sehr verheißungsvoll. Es ist die Vernunft, die da spricht. Aber Vernunft war noch nie meine Stärke. Außerdem bedeutet Vernunft in den allermeisten Fä l len Langeweile. Dies ist eine Herausforderung und noch nie in meinem Leben habe zu einer Herausfo r derung Nein gesagt.
»Also gut. Ich stehe auf«, sage ich. Sicherheitshalber, damit es nicht zu bereitwillig klingt, füge ich hinzu: »Aber ich hoffe, es lohnt sich.«
»Oh, darauf kannst du dich verlassen.«
Und schon folge ich Felicity den Flur entlang, vorbei an Zimmern mit schlafenden Mädchen und Bildnissen von Frauen aus der Vergangenheit der Spence-Akademie für junge Damen. Die Frauen auf den Bildern, weiß gekleidete Geister mit harten Ge sichtern, missbilligen offensichtlich unseren Streich. Doch ihre Augen scheinen zu sagen: Geh. Geh, s o lange du noch kannst. Die Freiheit währt kurz.
Als wir zu der ausladenden Haupttreppe kommen, bleibe ich stehen. »Was ist mit Mrs Nightwing?«, frage ich, wäh rend ich nach oben blicke, wo die mächtigen Treppen in ein viertes Stockwerk münden, das in der Dunkelheit nicht zu sehen ist.
»Ihretwegen brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Sobald die ihr Glas Sherry getrunken hat, ist sie für die Nacht erledigt.« Felicity betritt die Stufen.
»Warte!«, flüstere ich leise, damit ich niemanden aufwecke.
Felicity bleibt stehen, dreht sich zu mir um, ihr blasses Gesicht spöttisch verzogen. Mit wiegenden Hüften kommt sie die paar Stufen wieder herauf und bleibt direkt vor mir stehen. »Wenn du hier versa u ern und deine Zeit damit verbringen willst, Zierkissen mit Gott segne unser Heima t land zu besticken und in Korsett und Faltenrock Rasente n nis zu spielen, dann geh wieder ins Bett. Aber wenn du e i ne Portion echten Spaß haben willst, nun, dann …«
Und damit hüpft sie leichtfüßig die Stufen hinunter und um die Ecke zur nächsten Treppe, wo ich sie nicht mehr sehen kann.
Pippa erwartet uns im Marmorsaal. Der riesige offene Kamin ist jetzt dunkel, nur ein paar glimmende Scheite knacksen und glühen noch, geben aber keine richtige Wärme und kein Licht mehr ab. Pippa springt aus ihrem Versteck hinter einem großen Farn hervor, die Augen groß vor Aufregung. »Wo bleibt ihr so lange?«
»Es waren nur ein paar Minuten«, sagt Felicity.
»Ich hasse es, hier zu warten. All diese Augen auf den Säulen. Es ist, als würden sie mich beobachten.«
Die marmornen Faune und Nymphen nehmen sich in der Dunkelheit geisterhaft aus. Der ganze Raum wirkt, als sei er l ebendig, er scheint jede unserer Bewegungen wahrz u nehmen, jeden unserer Atemzüge zu zählen.
»Sei kein Angsthase. Wir sind doch mutige Mädchen, oder? Wo sind die anderen?« Wie auf ein Stichwort kom men zwei Mädchen die Treppe heru n ter und schließen sich uns an. Ich werde Elizabeth vorgestellt, einem kleinen ra t tenähnlichen Ding, das erst dann den Mund aufmacht, nachdem alle anderen ihre Meinung geäußert haben, und der hohlwangigen Cecily, deren schmale Oberlippe sich kräuselt, als sie mich sieht. Martha, die Ann in der Kapelle ein Bein gestellt hat, ist nicht dabei. Offensichtlich gehört sie nicht zu dem Klub; sie wünscht es sich nur. Desw e gen hat sie das gemacht –um sich bei ihnen beliebt zu machen.
»Fertig?«, fragt Cecily.
Wo bin ich da hineingeraten? Warum sage ich nicht einfach: Na schön, Mädchen, es hat mich g e freut. Vielen Dank für den Mitternachtsspaziergang durch die prunkvollen alten Gemäuer. Es war gro ß artig zu sehen, wie der Saal zu nächtlicher Stunde in wundervoller, albtraumhafter Glut zum Leben erwacht, aber ich will jetzt einfach wieder z u rück ins Bett. Stattdessen folge ich ihnen hinaus auf den Ra sen, wo der Vollmond gelb durch eine dünne, hohe Wolkenbank sickert. Der gottverdammte Nebel ist immer noch da und es ist fürchterlich kalt. Ich habe nur mein Nachthemd an. Die anderen waren schlauer und haben sich ihre blauen Samtcapes umgehängt.
»Folgt mir.« Felicity macht sich auf den Weg hügelauf zur Kapelle. Nach wenigen Schritten hat sie der Nebel ver schluckt. Ich hefte mich an ihre Fersen und die anderen rei h en sich hinter mir ein, sodass an Umkehren nicht mehr zu denken ist. Schnell bereue ich meinen Entschluss, di e sen Wichtigtuerinnen in die undurchdringliche, nebelige Nacht hinaus und bis zur Kapelle zu folgen. Aber zu spät.
»Wir haben hier in Spence eine Tradition«, sagt Felicity. »Einen kleinen Initiationsritus für Neuan kömmlinge, die sich vielleicht als würdig erweisen, in unseren inneren Kreis aufgenommen zu werden.«
»So so, ihr vier seid also der innere Kreis.« Ich höre mich mutiger an, als ich mich fühle. »Sieht eher nach e i nem inneren Quadrat aus, oder nicht?«
»Du hast Glück, dass du hier sein darfst«, gibt Cecily scharf zurück.
Ja, ich habe ein unglaubliches Glück, bloß im Nachthemd hier in der Eiseskälte zu stehen. Manche Leute wü r den es eine bemerkenswerte Dummheit nennen, aber ich bin voller Optimismus.
»Also, was ist diese geheime Initiation?«
Elizabeth bittet Felicity mit einem Blick, das Geheimnis lüften zu dürfen. »Du brauchst nur etwas aus der Kapelle herauszuholen.«
»Soll heißen, etwas zu stehlen?«, frage ich, kein bisschen begeistert über diese Aussicht, aber es gibt jetzt kein Zurück mehr.
»Es ist kein Diebstahl. Letzten Endes wird es Spence nie verlassen. Es geht nur darum, zu beweisen, dass du ver trauenswürdig bist«, sagt Felicity.
Obwohl die einzig vernünftige Antwort wäre, es interessiert mich nicht und ich gehe wieder ins Bett, sage ich stattdessen: »Was soll ich herausholen?«
Die Wolken lockern auf, buttergelbes Mondlicht sickert hindurch. Felicity öffnet den Mund, leckt sich die Lippen. »Den Messwein.«
»Den Messwein?«, wiederhole ich.
Aus Pippas Kehle dringt ein Geräusch, als würde sie einen Hustenanfall bekommen, der sich rasch in Gekicher auflöst, und mir wird klar, dass Felicity sich diese Extr a mutprobe aus dem Stegreif ausg e dacht hat.
Cecily schaut entsetzt drein. »Aber Fee, das ist ein Sakrileg!«
»Ja, ich bin auch nicht sicher, ob das eine gute Idee ist«, sage ich.
»Wirklich? Ich finde, es ist eine ausgezeichnete Idee«, gibt Felicity schnippisch zurück. Die Tochter des Admirals hat es nicht gern, wenn ihr die Crew den Gehorsam ve r weigert. »Und was ist mit dir, El i zabeth? Was denkst du?«
Elizabeth, die Marionette, schaut zwischen ihren zwei Herrinnen, Felicity und Cecily, hin und her. »Oh, ich, ich meine …«
Pippa fällt ihr ins Wort. »Ich finde, es ist eine großartige Idee.«
Ich könnte fast schwören, dass ich die Bäume Idiotin raunen höre. Auf was habe ich mich da eing e lassen?
»Erzähl mir nicht, dass du dich fürchtest, allein da hineinzugehen«, sagt Felicity.
Sie hat es genau erfasst, aber das darf ich natürlich nicht zugeben. »Was, wenn Reverend Waite en t deckt, dass der Messwein fehlt? Wird er nicht Ve r dacht schöpfen?«
Ein verächtliches »Ha« entschlüpft Felicitys Lippen. »Der Trunkenbold wird nur vermuten, dass er den Wein selbst gesoffen hat. Außerdem halten sich in dieser Jahre s zeit immer Zigeuner mit ihren Wohnwagen hier im Wald auf. Notfalls können wir es denen in die Schuhe schieben.«
Diese Idee gefällt mir überhaupt nicht. Die Tür der Kapelle scheint seit der Abendandacht größer und bedrohl i cher geworden zu sein. Trotz meines Unb e hagens weiß ich, dass ich hineingehen werde. »Wo bewahrt er den Wein auf?«
Pippa schiebt mich zur Tür. »Hinter dem Altar. Dort ist eine kleine Mauernische.«
Sie hebt mit all ihrer Kraft den Riegel hoch. Die Tür öffnet sich knarrend, drinnen herrscht gruftähnliche Finste r nis.
»Ihr könnt nicht erwarten, dass ich die im Dunkeln finde.«
»Taste dich vor«, sagt Felicity und schubst mich hinein.
Ich kanns nicht glauben, dass ich tatsächlich hier in der finsteren, unheimlichen Kapelle bin, bereit, ein Sakrileg zu begehen. Du sollst nicht stehlen. Eins von Gottes Entw e der-du-gehorchst-mir-oder-ich-werde-dich-zerschmettern—Geboten . Wenn ich ausg e rechnet das stehle, was nach dem Glauben der Kirche das heilige Blut Christi ist, macht es die Sache sicher nicht besser. Noch ist es nicht zu spät. Ich könnte umkehren und wieder ins Bett gehen. Das könnte ich, aber ich würde damit für immer auf die Macht verzic h ten, die ich jetzt über diese Mädchen habe.
Richtig. Abo bring’s hinter dich, so rasch wie möglich. Das Licht, das durch die offene Tür fällt, erhellt die Vo r halle ein wenig, aber die Apsis, wo sich der Altar und der Wein befinden, liegt in völl i ger Dunkelheit. Ich bewege mich Schritt für Schritt darauf zu. Und dann höre ich, wie hinter mir die Tür zugeworfen wird. Die Mädchen und das Licht ve r schwinden und der Riegel außen fällt mit einem dumpfen Schlag in die Verankerung. Sie haben mich ei n gesperrt. Ohne nachzudenken, stürze ich hin und werfe mich mit der Schulter gegen die Tür. Sie gibt nicht nach. Und a u ßerdem tut es verdammt weh.
Dumm, dumm, dumm, Gem. Was habe ich erwartet? Wie konnte ich auf die Geschichte, sie würden mich gern mit in ihrem privaten Klub haben wollen, hereinfallen? Anns Stimme schwirrt in meinem Kopf –Was soll ’s? Gegen die kann man nicht gewinnen. Ich habe keine Zeit, mir selbst leidzutun. Ich muss nachdenken.
Bestimmt gibt es noch einen anderen Ausgang. Ich muss ihn nur finden. Rings um mich scheint die Ka pelle von Schatten bevölkert zu sein. Mäuse trippeln unter Kirche n bänken, ihre Krallen klicken auf dem Marmorboden. Ich bekomme eine Gänsehaut –nicht nur von der Kälte. Der Mond ist stark. Sein Licht fällt durch die farbigen Gla s fenster, erweckt einen Engel zum Leben, dann das Gorg o nenhaupt, dessen gelbe Augen in der Dunkelheit auffl a ckern.
Ich taste mich von einer Kirchenbank zur nächsten und hoffe, dabei nicht auf pelzige Nagetiere oder Schlimmeres zu treten. Jedes Geräusch hallt wie verrückt. Das Gekra b bel nächtlichen Ungeziefers. Das Knarren und Ächzen der Bäu m e im Wind. Eigentlich geschieht es mir ganz recht, Opfer eines so üblen Streichs geworden zu sein. Es ist nur eine kleine In i tiation, ein Ritus, den wir hier in Spence pflegen –wir quälen einander gern. Grazie, Charme und Schönheit –dass ich nicht lache! Es ist eine Schule für Sa distinnen mit exzellenten Kenntnissen im Te e servieren.
Klick, klick. Ächz.
Felicity ist wahrscheinlich genauso wenig mit Admiral Worthington verwandt wie ich.
Klick, klick. Ächz.
Ich will gar nicht nach Paris fahren.
Klick, klick. Krächz.
Ein Husten. Ich habe nicht gehustet. Aber wenn ich es nicht war, wer war es dann?
Der Gedanke braucht nur eine Sekunde, um in meinen Beinen anzukommen. So schnell ich nur kann, laufe ich stolpernd den Mittelgang entlang. Die Stufen zum Altar stoppen mich. Ich falle darüber und lande der Länge nach auf dem harten Marmor, die scharfe Kante schneidet mir ins Bein. Hinter mir höre ich Schritte, bin schon auf Hä n den und Knien, und dann sehe ich etwas, dort direkt hinter der Orgel –eine Tür, die einen Spaltbreit offen steht. Ich krabble darauf zu, fühle die letzte Stufe, erhebe mich und stürze auf wackligen Beinen zu der verheißungsvo l len Tür. Gleich werde ich wissen, wohin sie führt.
Plötzlich ist etwas über mir. Lieber Gott, ich sehe wohl Gespenster, denn irgendetwas, irgendjemand fliegt über meinen Kopf und landet mit einem dum p fen Aufschlag zwischen d er Tür und mir. Eine Hand presst sich auf me i nen Mund, erstickt meinen Schrei. Der andere Arm u m schlingt mich, hält mich wie in einem Schraubstock fest.
Instinktiv beiße ich in die Hand an meinem Mund. Ich werde einfach auf den Boden gestoßen. Und dann bin ich wieder auf meinen Füßen und mit einem Satz an der Tür. Eine Hand packt meinen Knöchel, ich fliege hin, schlage so hart auf dem Boden auf, dass es mir vor den geschloss e nen Augen flimmert.
»Hören Sie auf. Bitte.« Die Stimme ist jung, männlich und kommt mir irgendwie bekannt vor.
Ein Streichholz flammt in der Dunkelheit auf. Meine Augen folgen dem Licht bis in eine Laterne. Der Licht schein dehnt sich aus, fängt den Umriss von breiten Schu l tern unter einem schwarzen Um hang ein, bevor er sich über ein Gesicht mit dunklen, von langen Wimpern umrahmten Augen breitet. Ich sehe keine Gespenster. Er ist wirklich da. Ich springe auf, aber er ist schneller und verstellt mir den Zugang zur Tür.
»Ich werde schreien. Ich schwör’s.« Meine Stimme ist nicht mehr als ein Krächzen und mein Herz hä m mert gegen meine Rippen.
Sein ganzer Körper ist aufs Äußerste gespannt und aufmerksam. »Nein, das werden Sie nicht. Wie wollen Sie e r klären, was Sie hier tun mitten in der Nacht, ohne richtig angezogen zu sein, Miss Doyle?«
Instinktiv schlinge ich die Arme um mich, um die Konturen meines Körpers unter dem dünnen weißen Nach t hemd z u verbergen. Er kennt mich, weiß me i nen Namen. Mein Puls pocht in meinen Ohren. Wie lange würde es dauern, bis irgendjemand mein Schreien hörte?
Ich trete hinter den Altar, der nun zwischen uns ist. »Wer sind Sie?«
»Das spielt keine Rolle.«
»Sie kennen meinen Namen. Warum darf ich Ihren nicht wissen?«
Er überlegt, bevor er eine knappe Antwort gibt. »Kartik.«
»Kartik. Ist das Ihr richtiger Name?«
»Ich habe Ihnen einen Namen genannt. Das genügt.«
»Was wollen Sie?«
»Nur mit Ihnen reden.«
Denk nach, Gemma. Lass ihn reden. »Sie sind mir ge folgt. Heute auf dem Bahnhof. Und vorhin bei der A n dacht.«
Er nickt. »Ich habe mich in Bombay als blinder Passagier auf der Mary Elizabeth eingeschifft. Raue Überfahrt. Ich weiß, ihr Engländer habt ein schrec k lich sentimentales Verhältnis zur See, aber ich kann darauf verzichten.« Die Laterne wirft seinen Schatten quer über die Wand, als wü r de ein geflügeltes Etwas dort schweben. Der Mann, der sich Kartik nennt, bewacht noch immer die Tür. Keiner von uns bewegt sich.
»Warum? Warum haben Sie den weiten Weg gemacht?«
»Wie ich schon gesagt habe, ich muss mit Ihnen sprechen.« Er macht einen Schritt vorwärts. Ich we i che zurück und er bleibt stehen. »Es geht um jenen Tag und Ihre Mu t ter.«
»Was wissen Sie über meine Mutter?« Meine Stimme erschreckt einen Vogel, der sich in den Dachsparren ve r steckt. Angstvoll, mit wild schl a genden Flügeln, flattert er zu einem anderen Balken.
»Ich weiß, dass sie nicht an der Cholera gestorben ist.«
Ich hole tief Luft. »Wenn Sie meine Familie erpressen wollen …«
»Unsinn.« Noch ein Schritt vorwärts.
Meine Hände, die sich an den kalten Marmor des Altars klammern, zittern, als bereiteten sie sich auf einen Kampf vor. »Weiter.«
»Sie haben gesehen, was geschehen ist, nicht wahr?«
»Nein.« Die Lüge lässt meinen Atem flach und rasch gehen.
»Sie lügen.«
»N-nein … ich …«
Blitzschnell wie ein Vogel landet er auf dem Altar, geht vor mir in die Hocke und hält mir die Laterne dicht vors Gesicht. Er könnte mich leicht damit verbrennen. »Zum letzten Mal, was haben Sie ges e hen?«
Mein Mund ist völlig ausgetrocknet vor Angst. »Ich … ich habe gesehen, wie sie getötet wurde. Ich sah, wie beide getötet wurden.«
Seine Kiefer pressen sich aufeinander. »Weiter.«
Ein Schluchzen, das herauswill, lässt meinen Atem zittern. Ich dränge es zurück. »Ich … Ich habe ve r sucht, ihr etwas zuzurufen, aber sie konnte mich nicht hören. Und dann …«
»Was dann?«
Die Last auf meiner Brust ist unerträglich. »Ich weiß nicht. Es war, als ob die Dunkelheit selbst an fing, sich zu bewe g en … ich habe so etwas noch nie gesehen … irgen d ein furchterregendes Etwas.« Mit einem Mal tut es gut, e i nem völlig Fremden zu erzählen, was ich bis jetzt allen a n deren verschwiegen habe.
»Ihre Mutter hat sich selbst das Leben genommen, nicht wahr?«
»Ja«, flüstere ich, erstaunt, dass er das weiß.
»Sie hatte Glück.«
»Was fällt Ihnen ein …«
»Glauben Sie mir, sie hatte Glück, dass sie nicht von jenem Etwas geholt wurde. Mein Bruder war nicht so glüc k lich.«
»Was ist es?«
»Nichts, was man bekämpfen kann.«
»Ich habe es wieder gesehen. Auf der Kutschfahrt hierher. Ich hatte nochmals eine … Vision.«
Er ist alarmiert. Ich sehe seine Angst und jetzt tut es mir leid, ihm das alles gesagt zu haben. Im Nu ist er vom Altar herunter und vor mir. »Hören Sie mir gut zu, Miss Doyle. Sie dürfen mit niemandem über das sprechen, was Sie g e sehen haben. Verstehen Sie?«
Mondlicht fällt gebrochen durch das bunte Glas. »Warum nicht?«
»Weil Sie sich dadurch in Gefahr bringen.«
»Was war das dunkle Etwas, das ich gesehen habe?«
»Es war eine Warnung. Und wenn Sie nicht wollen, dass noch schlimmere Dinge geschehen, b e schwören Sie keine weiteren Visionen herauf.«
Die Nacht, der böse Streich, die Angst und Müdigkeit alles zusammen lässt mich völlig unkontro l liert hysterisch auflachen. »Und wie, bitte schön, soll das gehen? Es ist nicht so, als würde ich sie herbeir u fen.«
»Blocken Sie Ihre Gedanken dagegen ab, dann werden die Visionen bald aufhören.«
»Und wenn ich es nicht kann?«
Er packt mein Handgelenk und umklammert es mit festem Griff. »Sie werden es können.« Ich winde mich unter dem Druck der Umklammerung. Er lässt meine Hand los, ein zufriedenes Lächeln huscht über sein Gesicht. Ich ziehe meinen Arm dicht an mich heran und reibe die brennende Haut.
»Wir werden Sie beobachten, Miss Doyle.«
Ein schepperndes Geräusch an der schweren Eingangstür der Kapelle dringt von draußen herein. Ich höre Reverend Waite, der betrunken vor sich hin trällert, während er he r umfuhrwerkt, um den Riegel hochzuheben, und flucht, als der krachend wieder herunterfällt. Ich weiß nicht, ob ich froh oder entsetzt sein soll, dass er mich hier finden wird. In dem ku r zen Moment, in dem ich mich umgedreht habe, ist mein Peiniger verschwunden. Er ist einfach weg. Die Seitentür ist unbewacht. Ich kann entwischen. Und dann seh ich sie. Die Flasche mit dem Messwein steht voll und griffbereit in einer Mauernische.
Der hölzerne Riegel ist bezwungen, Reverend Waite bereits im Anmarsch. Aber heute wird er auf seinen Wein verzichten müssen. Den habe ich. Wä h rend ich durch die Seitentür hinausschlüpfe, trage ich die Karaffe vorsichtig im Arm. Am oberen Ende e i nes dunklen Treppengewölbes blei b e ich stehen. Was, wenn Kartik dort unten in dem fin s teren Tunnel auf mich wartet?
Reverend Waite ruft halb betrunken: »Ist da jemand?«
Ich bin im Treppengewölbe und die Stufen hinunter und hinten aus der Kapelle heraus, als hätte man mich aus einer Kanone geschossen. Erst als ich den ganzen Hügel hina b gestolpert bin und den imposanten Backsteinbau von Spe n ce vor mir sehe, bleibe ich stehen, um zu verschnaufen. Eine Krähe krächzt ihr heiseres Kräh und lässt mich z u sammenzucken. Überall fühle ich Augen auf mir.
Wir werden Sie beobachten.
Was meinte er damit? Wer ist »wir«? Und warum sollte jemand ein Mädchen im Auge behalten, das nicht klug ge nug ist, ein Quartett boshafter Internat s gören in Schach zu halten? Was weiß er über meine Mu t ter?
Richte deinen Blick nur auf die Schule, Gemma. Dir wird nichts geschehen. Ich hefte meine Augen auf die Fensterreihen vor mir. Sie hüpfen mit jedem Schritt auf und nieder. Du wirst keine weiteren Visionen heraufb e schwören.
Es ist lächerlich. Als hätte ich auch nur die geringste Kontrolle über sie. Als brauchte ich nur die Augen zu schließen, einfach so, wie jetzt gerade, und eine Vision herbeiwünschen. Mein Atem verlan g samt sich, wird gleichmäßiger. Mein ganzer Körper ist warm und en t spannt, als triebe ich in einem gar köstlichen Bad aus Ro senwasser dahin. Als mir der Duft von Rosen in die Nase steigt, schlage ich die Augen auf.
Das kleine Mädchen aus der Gasse steht hell schimmernd vor mir. Es winkt mir mit der Hand. »Hier entlang.«