18. Kapitel
Auf dem Weg zum Zigeunerlager müssen wir ein ganzes Stück durch Dornengestrüpp gehen, das uns die Beine ze r kratzt. Die Nächte werden schon kälter. Die feuchte Luft ist klamm. Sie schmerzt beim Ei n atmen und kommt als weißer Dampf aus meinem Mund wieder heraus. Bis wir die Zelte und das La gerfeuer, die großen Wagen aus Holz und die auf ihren Kastengeigen spielenden Männer erbl i cken, habe ich vor Anstrengung Seite n stechen. Drei große Hunde sitzen am Boden. Wie wir an ihnen vorbeiko m men sollen, weiß ich nicht.
»Was nun?«, flüstert Ann atemlos.
Die Frauen sind bereits in ihren Zelten verschwunden. Ein paar Kinder laufen herum. Fünf jun ge Männer sitzen um das Feuer, trinken und tauschen Geschichten in einer Spr a che aus, die wir nicht verstehen. Einer der Männer e r zählt einen Witz. Seine Freunde lachen und klatschen Be i fall. Der Klang der dunklen, kehligen Stimmen dringt in meine Ei n geweide und weckt in mir den Impuls wegzure n nen. Ich weiß nicht, worauf ich mich da eingelassen habe. Mein Herz klopft so wild, dass ich keinen klaren Ge danken fassen kann.
Einer der Männer ist Ithal. Seine seltsamen goldenen Augen t anzen im Licht des Feuers. Ich erhasche Felicitys Blick und nicke in Ithals Richtung, um a n zudeuten, dass er da ist.
Ann ist meinem Blick gefolgt und schaut sich ängstlich um. »Was ist?«
»Eine Planänderung. Wir müssen morgen während des Tags wiederkommen.«
»Aber du sagtest doch …«, wendet Ann ein.
Ich mache kehrt, dabei tritt mein Fuß auf einen Zweig, der mit einem lauten Knacks zerbricht. Die Hunde schla gen sofort an. Ithal fährt hoch, einen Dolch in der Hand, wachsam wie ein wildes Tier. In seiner Muttersprache g e bietet er seinen Freunden, still zu sein. Auch sie horchen jetzt gespannt, bereit, sich zu verteidigen.
»Bravo«, flüstert Felicity.
»Mach nicht mir einen Vorwurf. Beschwer dich beim Wald«, knurre ich zwischen zusammengebisse nen Zähnen.
Ithal hält einen Finger hoch, als Zeichen für seine Kameraden. Auf Englisch ruft er: »Wer ist da?«
»Wir sind erledigt«, flüstert Ann, vor Schreck wie gelähmt.
»Nicht ganz«, sagt Felicity. Sie richtet sich auf und tritt hinter dem Baum hervor, während wir versuchen, sie zu rückzuziehen.
»Was tust du?«, flüstert Ann laut, in panischer Angst.
Felicity kümmert sich nicht um uns. Sie geht mit erhobenem Kopf auf die Zigeuner zu, eine Erscheinung in we i ßem und blauem Samt. Die Männer sta r ren sie ehrfürchtig an, Felicity, die Göttin. Ich selbst weiß nicht, wie sich Macht anfühlt. Aber so jede n falls sieht sie aus und langsam verstehe i ch, warum jene Frauen der Vorzeit sich in Höhlen verstecken mussten. Warum unsere Eltern, unsere Lehrer und unsere Verehrer wollen, dass wir uns anständig und berechenbar benehmen und nicht aus der Reihe ta n zen. Der Grund ist nicht, dass sie uns schützen wo l len; der Grund dafür ist, dass sie uns fürchten.
Ein lüsternes Lächeln spielt um Ithals Lippen. Er verbeugt sich vor Felicity. Als er uns hinter dem Baum e r späht, ängstlich und verschüchtert, flötet er uns süße Töne zu, aber das wölfische Grinsen bleibt.
Am liebsten würde ich augenblicklich nach Spence zurücklaufen. Aber ich kann Felicity nicht im Stich lassen. Und die Männer könnten mir folgen, ins tiefe Dickicht des Waldes. Ich nehme Anns feuch t kalte Hand in meine und trete kerzengerade in den Kreis der Männer, der sich um uns drei schließt.
»Ich wusste, du würdest wiederkommen«, sagt Ithal spöttisch zu Felicity.
»Nichts wusstest du. Soviel ich mich erinnere, ließ ich dich gestern auf der anderen Seite der Mauer ste hen. Dort, wo immer dein Platz sein wird –auf der anderen Seite der Dinge.« Sie verhöhnt ihn. Das scheint mir keine weise Taktik zu sein, allerdings war ich noch nie im mitternäch t lichen Wald von vor Manneskraft strotzenden jungen Zi geunern umringt. Ich sehe mich außerstande, mit Rat und Tat einzugreifen. Ich kann nur die Luft anhalten und wa r ten.
Ithal tritt näher, spielt mit der Schleife des Haubenbands unter Felicitys Kinn. Seine Stimme ist po l ternd, lachend, d röhnend, aber das Lächeln erreicht seine Augen nicht. Sie blicken verletzt und zornig. »Heute Nacht seid ihr auf der anderen Seite der Mauer.«
»Bitte«, krächzt Ann. »Wir sind nur gekommen, um Mutter Elena zu besuchen.«
»Mutter ist nicht hier«, sagt einer der Männer. Er ist kaum älter als ein Junge. Vielleicht fünfzehn, mit einer Na se, in die er noch nicht richtig hineing e wachsen ist. Wenn wir abhauen müssen, ist er der Erste, dem ich einen Tritt gebe.
»Ich wünsche, Mutter Elena zu sehen«, sagt Felicity kühl und selbstbewusst. Ich bin die Einzige, die die Angst dahinter spürt, und ihre Furcht erschreckt mich noch mehr als die gesamte Situation.
Wie sind wir nur in diesen Schlamassel geraten? Und wie kommen wir da wieder heraus?
»Was ist hier los?« Kartik betritt in seiner Zigeunerverkleidung den Schauplatz, seinen behelfsmäßigen Kricke t schläger in der Hand. Er reißt die Augen weit auf, als er mich sieht.
»Bitte, wir müssen unbedingt zu Mutter Elena«, sage ich und hoffe, dass ich mich nicht so zittrig an höre, wie mir zumute ist.
Ithal hält seine Hände hoch, sodass man die dicken Schwielen auf seinen Handflächen sehen kann, Zei chen eines harten Lebens unter freiem Himmel. »Aha … diese Gadsche gehört dir. Ich bitte um Verze i hung, mein Freund.«
Kartik schlägt einen spöttischen Ton an. »Sie gehört nicht mir …« Er korrigiert sich. »Ja, sie gehört mir.« Er packt meine Hand und zieht mich fort aus dem Kreis. Ein Chor von Pfiffen und Johlen folgt uns. Eine andere Hand schlingt sich um mein freies Handgelenk. Sie gehört dem Jungen mit der großen Nase.
»Wie können wir sicher sein, dass sie dir gehört? Sie scheint nicht besonders willig zu sein«, ätzt er. »Vielleicht kommt sie lieber mit mir.«
Kartik zögert, lange genug, um die Männer, die die Szene lachend verfolgen, in ihrem Misstrauen zu bestärken. Der Griff der Großnase ist hart wie Eisen und die Furcht schmeckt metallisch in meinem Mund. Für moralische Be denken ist jetzt keine Zeit. Vernunft führt hier nicht weiter. Ich küsse Kartik o h ne Vorwarnung. Seine Lippen, die sich auf meine pressen, überraschen mich. Sie sind warm, zart wie ein Hauch, fest und samtig wie ein Pfirsich. Ein Duft wie nach zerstoßenem Zimt hängt in der Luft, aber ich falle nicht in eine Vision. Es ist sein Geruch, der mich umfängt. Ein Geruch, der meinen Magen in die Kniekehlen rutschen lässt. Ein Geruch, der meine Gedanken vernebelt und einen unersättlichen Hunger nach mehr weckt.
Kartiks Zunge schlüpft für eine Sekunde zwischen meine Lippen und es durchfährt mich siedend heiß. Ich reiße mich los, keuchend, mein Gesicht glühend rot. Ich kann niemanden ansehen, insbesondere Ann und Felicity nicht. Was müssen sie jetzt von mir denken? Was würden sie erst denken, wenn sie wus s ten, wie sehr ich es genossen habe? Was bin ich für ein Mädchen, dass ich Vergnügen an e i nem Kuss finde, den ich mir kühn genommen habe?
Ein stämmiger Mann im Hintergrund prustet laut lachend heraus: »Jetzt sehe ich, dass sie wirklich dir g e hört !«
»Ja«, krächzt Kartik. »Ich bringe die drei zu Mutter Elena, damit sie ihnen die Zukunft voraussagt. Wir brauchen ihr Geld, nicht ihre Probleme.«
Kartik führt uns zu Mutter Elenas Zelt. Felicity nimmt ihn genauer ins Visier. Ihre Augen wandern von mir zu ihm und wieder zurück. Ich setze mein steinernes Gesicht auf und schließlich wendet sie sich ab. Kartik hebt für Fel i city und Ann die Zel t klappe, aber mich zieht er mit einem unsanften Ruck zur Seite. »Was fällt Ihnen ein hierherz u kommen?«
»Ich will mir die Zukunft voraussagen lassen«, erwidere ich. Es ist eine blödsinnige Antwort, aber meine Lippen sind immer noch warm von seinem Kuss und ich bin zu durcheinander, um mir etwas Klügeres einfallen zu lassen. »Ich bitte um Entschu l digung für mein Benehmen«, bringe ich mühsam heraus. »Unter den gegebenen Umständen war es notwendig. Ich hoffe, Sie halten mich nicht für vore i lig.«
Er hebt eine Eichel vom Boden auf, wirft sie in die Luft und schlägt sie mit seinem Kricketholz. Der Schläger ist so alt und voller Risse und Sprünge, dass er ziemlich kraftlos wirkt. Kartiks Mund ist nur ein schmaler Strich. »Das wird mir bis in alle Ewigkeit vorgehalten werden.«
Das Kribbeln in meinem Magen gefriert. »Tut mir leid, dass ich Sie in Verlegenheit gebracht habe«, sage ich. Er antwortet nicht und ich fühle mich so gedemütigt, dass ich am liebsten im Boden versinken würde.
»Wo ist die Vierte in Ihrem kleinen Bund? Hat sie sich im Wald versteckt?«
Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, dass er Pippa meint. Ich erinnere mich an den Blick, mit dem er sie dort am Weiher angesehen hat. Offenbar hat er nicht au f gehört, an sie zu denken.
»Sie ist krank«, sage ich gereizt.
»Hoffentlich nichts Ernstes.«
Ich weiß nicht, warum ich mich durch die offensichtliche Tatsache, dass Kartik in Pippa verliebt ist, so verletzt fühle. Es gibt keine Romanze zwischen uns. Nichts, was uns verbindet, außer diesem dun k len Geheimnis, das keiner von uns will. Nicht Ka r tiks Verlangen ist es, das schmerzt. Es ist mein eig e nes. Zu wissen, dass ich nie haben werde, was sie hat –eine Schönheit, die einem alles wie von selbst in den Schoß fallen lässt. Ich fürchte, ich werde immer um die Dinge kämpfen müssen, die ich haben will.
»Nichts Ernstes«, sage ich, schwer schluckend. »Darf ich jetzt hineingehen?« Ich mache eine Bewe gung, um die Zeltklappe zu öffnen, aber seine Hand umklammert mein Handgelenk.
»Tun Sie das nicht noch einmal«, sagt er warnend. Dann schiebt er mich ins Zelt hinein, bevor er selbst wieder im Wald verschwindet.