1. April 1871
Sarah kam tränenüberströmt zu mir. »Mary, Mary, ich kann das Tor nicht finden. Die magische Kraft verlässt mich.«
»Sarah, du bist erschöpft. Das ist alles. Probier es mo r gen noch einmal.«
»Nein, nein«, jammerte sie. »Ich hab’s jetzt stu n denlang versucht. Ich sag dir, sie ist weg.«
Mein Herz wurde von einer Eiseskälte erfasst. »Sarah, komm. Ich helfe dir, es zu finden.«
Sie fuhr mich so wütend an, dass ich meine Freundin fast nicht wiedererkannte. »Verstehst du nicht? Ich muss es selbst tun, sonst zählt es nicht. Ich kann mich nicht deiner Kraft bedienen, Mary.« Dann fing sie an zu weinen. »Oh, Mary, Mary, der Gedanke, nie wieder die Runen berühren zu können, nie wieder zu fühlen, wie ihre Magie durch mich hindurc h strömt, ist einfach unerträglich. Ich kann den Ge danken nicht ertragen, dass ich von nun an nur die gewöhnliche Sarah sein werde.«
An diesem Abend konnte ich keine Ruhe mehr finden oder auch nur einen einzigen Bissen essen. Eugenia b e merkte meinen Kummer und bat mich zu sich in ihr Zi m mer. Sie sagte, das komme oft vor –die magische Kraft e i nes Mädchens flammt auf und e r lischt dann wieder. Diese Kraft muss tief in der Seele genährt werden, sonst ist sie nichts als eine flüchtige Erscheinung. Oh, Tagebuch, sie vertraute mir an, dass Sarahs magische Kraft genau so b e schaffen ist, unbeständig und nicht von Dauer. Sie sagte, das Ma gische Reich entscheidet darüber, wer im Orden des aufgehenden Mondes aufsteigen und in die alten My s terien eingeweiht werden soll und wer zurüc k bleiben muss. Eugenia tätschelte meine Hand und versickerte, dass die Kraft in mir groß und stark sei. Aber es ist unvorstellbar für mich, ohne meine liebste Freundin und Schwester we i terzumachen.
Als Sarah spät in der Nacht zu mir kam, wollte ich alles tun, damit die Dinge wieder so würden, wie sie vorher w a ren, wir zwei einander so vertraut wie Schwestern und die Geheimnisse des Magischen Reichs zum Greifen nahe. Das sagte ich ihr.
»Oh, Mary«, rief sie. »Ich bin so froh. Du weißt, es gibt einen Weg, dass wir für immer zusammen sein können.«
»Was meinst du?«
»Ich muss dir ein Geständnis machen. Ich habe die Winterwelt besucht.«
Ich erschrak so sehr, dass es mich kalt überlief. »Aber Sarah, das ist eine Welt, die wir noch nicht betreten dürfen. Es gibt Dinge, die wir nicht ohne die Begleitung unserer Meisterinnen sehen sollen.«
Ein kalter Blick trat in Sarahs Augen. »Begreifst du nicht? Unsere Meisterinnen wollen, dass wir nur das ken nen, was sie kontrollieren können. Sie fürc h ten uns, Mary. Das ist der Grund , warum Eugenia mir die magische Kraft entzieht. Ich habe mit einem Geist gesprochen, dem Geist eines Mädchens, der dort umherirrt. Er hat mir die Wah r heit gesagt.«
Ihre Worte klangen überzeugend, trotzdem hatte ich Angst. »Sarah, einen dunklen Geist anzurufen widerspricht allem, was man uns gelehrt hat.«
Sarah umklammerte meine Hände. »Es ist nur, um an die Kräfte zu kommen, die wir brauchen. Keine Sorge, Mary. Wir werden diesen Geist beherrschen, nicht umg e kehrt, und wenn der Orden erst einmal sieht, wozu wir imstande sind, welche Macht wir selbst besitzen, werden sie mir erlauben zu bleiben. Wir werden für immer z u sammen sein.«
Mir graute vor der nächsten Frage. »Was verlangt dieser Geist dafür?«
Sarah streichelte zärtlich meine Wange. »Ein kleines Opfer, nicht mehr. Eine Ringelnatter vielleicht oder ein Eichhörnchen. Er wird es uns sagen. Schlaf jetzt, Mary. Und morgen sehen wir dann weiter.«
Oh, Tagebuch, mein Herz ist voll böser Vorahnungen beim Gedanken an diese Unternehmung. Aber was bleibt mir anderes übrig? Sarah ist meine liebste Freundin auf der Welt. Ick kann nicht ohne sie gehen. Und vielleicht hat sie recht. Vielleicht, wenn wir unsere Herzen stark und rein halten und bei dem, was wir tun, nur die besten Absichten hegen, können wir den dunklen Geist unserem Willen u n terwerfen.
Pippa ist fast atemlos vor Spannung. »Nun, das ist genau die richtige Stelle, um abzubrechen.«
»Ja, die Handlung dickt sich ein«, sagt Felicity. »Es fehlt nicht viel und sie könnte zu Pudding wer den.«
Alle kichern, außer mir. Ich habe ein flaues Gefühl im Magen. Vielleicht liegt es nur an der Hitze. Es ist ung e wöhnlich warm für September. Die Luft in der Höhle ist stickig und ich beginne unter meinem Korsett zu schwi t zen.
»Meint ihr, Mutter Elena könnte uns die Zukunft voraussagen?«, grübelt Ann.
Beim Gedanken an die Zigeuner suchen meine Augen unwillkürlich die von Felicity. Ihr Blick bohrt sich in me i nen, als würde ich sie mit diesem kurzen Augenkontakt verraten.
»Ich bin nicht sicher, ob uns Mutter Elena sagen könnte, welcher Wochentag heute ist«, erwidert Feli city.

»Ich habe eine geniale Idee«, trällert Pippa und plötzlich weiß ich, dass die Würfel gefallen sind. »Vers u chen wir doch, unsere eigenen magischen Kräfte in Schwung zu bringen.«
»Ich bin dabei«, sagt Felicity. »Wer will noch mit der anderen Welt in Kontakt treten?«
Pippa sitzt rechts von Felicity, ihre behandschuhten Hände sind ineinander geschlungen. Ann lässt sich neben Pippa plumpsen. Meine Nackenhaare sträuben sich.
»Ich glaube, das ist keine sehr gute Idee«, beginne ich, merke aber gleich, dass es feige klingt.
»Fürchtest du, dass wir dich in einen Frosch verwandeln?« Felicity klopft neben sich auf den Boden. Es hilft nichts. Ich werde mitmachen und den Kreis schließen mü s sen. Widerwillig nehme ich meinen Platz ein und fasse die Hände von Ann und Felicity.
Pippa bekommt schon wieder einen Kicheranfall. »Wie fangen wir an? Was für Worte sollen wir zum Auftakt sprechen?«
»Wir gehen der Reihe nach vor und jede von uns fügt von sich aus etwas hinzu«, schlägt Felicity vor. »Ich be ginne. O großmächtige Geister des Ordens des aufgehe n den Mondes. Wir sind eure Töchter. Sprecht zu uns. Verr a tet uns eure Geheimnisse.«
»Kommt zu uns, o ihr Töchter der Sappho.« Pippa bricht in Gelächter aus.
»Wir wissen nicht, ob sie Sapphierinnen sind«, sagt Felicity ärgerlich. »Wenn, dann lasst es uns ric h tig tun.«
Pippa beherzigt die Ermahnung und sagt sanft: »Kommt zu uns an diesen Ort.«
»Wir flehen euch an«, fügt Ann hinzu.
Stille. Sie warten auf mich.
»Also gut«, sage ich seufzend. »Aber ich tue das gegen mein besseres Wissen und ich möchte nicht, dass diese Worte später als kleine private Witzeleien wieder zurüc k kommen.«
Ich schließe die Augen, um störende Gedanken auszuschalten. »Sarah Rees-Toome und Mary Dowd. Wo immer ihr seid, zeigt euch. Ihr seid hier wil l kommen.«
Nichts zeigt sich. Nichts ist zu hören außer dem Geräusch des Wassers, das an den Wänden hera b tropft. Keine Geister. Keine Visionen. Ich weiß nicht, ob ich erleichtert oder ein wenig enttäuscht sein soll über meine Machtlosi g keit.
Mir bleibt nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Die Luft flirrt und flimmert von jähen Lichtexplosionen. Plötz lich ist es, als stünde die ganze Höhle in Flammen, so heiß, dass es mir den Atem nimmt. »Nein!« Unter Aufbietung all meiner Kraft breche ich den Bann und finde mich im Kreis von Pippa, Ann und Felicity wieder, die mich bestürzt a n starren.
»Gemma, was ist los?«, fragt Ann mit gepresster Stimme.
Ich ringe nach Atem.
»Oje. Mir scheint, da hat jemand ein klein wenig Angst bekommen«, sagt Felicity.
»Ja, kann schon sein«, sage ich und sinke zu Boden. Meine Arme sind bleischwer, aber ich bin froh, dass nichts passiert ist.
»Komisch«, sagt Pippa, »aber ich könnte schwören, ich hab für einen Moment eine Art Kribbeln g e spürt.«
»Mir ging es genauso«, sagt Felicity erstaunt.
Ann nickt. »Mir auch.«
Alle schauen mich an. Mein Herz klopft so heftig, dass ich fürchte, es könnte mir aus der Brust sprin gen. Ich zwinge mich, ganz ruhig zu klingen. »Ich weiß nicht, w o von ihr redet.«
Felicity steckt die Spitzen ihres Haars in den Mund. »Du hast gar nichts gespürt?«
»Nichts.« Ich muss mich sehr zusammennehmen, um nicht zu zittern.
»Nun«, sagt Felicity mit einem triumphierenden Lächeln. »Es scheint, als hätten wir drei ein bisschen mag i sches Potenzial. Jammerschade für dich, Ge m ma.«
Eigentlich ist das ein Witz. Sie denken, ich hätte keine Begabung für das Übersinnliche. Ich könnte mich totla chen, wenn ich nicht so erschüttert wäre.
»Um Himmels willen, Gemma«, sagt Pippa, angewidert die Nase rümpfend. »Du schwitzt wie ein Hafenarbeiter.«
»Kein Wunder bei dieser Hitze hier drinnen«, sage ich, froh, das Thema zu wechseln.
Felicity steht auf und streckt mir ihre Hand hin. »Komm. Lasst uns die Nacht genießen.«

Wir stolpern aus der Höhle. Hoch über uns fängt der Mond gerade an abzunehmen, er ist schon ein wenig angeknab bert, aber noch baden wir in seinem Licht und heulen ihn an wie die Wölfe. Wir fassen uns an den Händen und ta n zen im Kreis herum, a t men die klare, von Moosgeruch durchtränkte Nachtluft in vollen Zügen in unsere Lungen. Ich fühle mich sogleich besser.
»Es ist schrecklich heiß. Ich bekomme kaum Luft in diesem Korsett«, sagt Felicity.
»Ja, ich wünschte, wir könnten ein Bad im Weiher nehmen«, sagt Ann.
»Warum eigentlich nicht?«, meint Felicity. »Wer schnürt mir das Mieder auf? Freiwillige vor.«
Pippa hält sich die Hand vor den Mund und kichert, so als wäre sie schockiert und gleichzeitig be sorgt, prüde zu erscheinen. »Das können wir nicht machen.«
»Warum nicht? Es ist niemand da, der uns sieht. Und ich möchte ein bisschen frei atmen. Komm, Gemma –hilf mir.«
Meine Finger mühen sich mit den Bändern und Ösen ab, aber bald liegt Felicitys zarte Haut frei. Ihr Körper schim mert im Mondlicht. »Also los, wer kommt mit baden?«
»Warte!« Pippa stolpert hinter ihr her. »Was denkst du dir dabei? Felicity – das ist schamlos!«
»Wie können meine Knöchel und Arme schamlos sein?«, gibt Felicity zurück.
»Aber man darf sie nicht zeigen. Das ist unanständig!«
Felicitys Stimme weht uns entgegen. »Mach, was du willst. Ich gehe hinein.«
Das Wasser sieht kühl und verlockend aus. Mit Mühe schäle ich mich aus meinem engen Korsett. Mein Körper dehnt sich dankbar, befreit.
»Du auch?«, ruft Pippa entsetzt, als ich an ihr vorbeilaufe.
Das kalte Wasser entzieht meinem Körper augenblicklich die Hitze und lässt die Luft in meinen Lungen gefri e ren. Als ich mich an die Kälte gewöhnt habe, rufe ich Pi p pa und Ann heiser zu: »Kommt he r ein. Das Wasser ist wunderbar.«
Pippa kreischt in den höchsten Tönen, kaum dass ihr das Wasser bis an die Knie reicht.
»Schhh, nicht so laut. Wenn uns Mrs Nightwing hier findet, müssen wir zur Strafe bis ans Ende unse res Lebens als Lehrerinnen in Spence bleiben, wie diese altjüngferl i che, sauertöpfische Truppe, die uns jetzt unterrichtet«, sagt Felicity.
Pippa versucht sich schamhaft mit ihren Händen zu bedecken. Ihre Sittsamkeit ist übertrieben. Im Moment würde ich mich nicht den Teufel drum sch e ren, selbst wenn Prinz Albert höchstpersönlich hier auftauchte. Ich möchte nur immer so dahingleiten, losgelöst von der Zeit.
»Wenn du ganz reinkommst, Pip, sieht keiner mehr etwas«, sagt Felicity.
»Es ist so kalt!«, antwortet Pippa in der gleichen hohen Stimmlage wie zuvor.
»Wie du meinst«, sagt Felicity und schwimmt weit hinaus, bevor sie wieder umkehrt.
Ann bleibt vollständig angezogen am Ufer. »Ich halte Wache«, sagt sie.
Wir anderen haken uns ein, damit uns wärmer wird, hin und wieder berühren unsere Fußspitzen den sandigen Bo den. Wir schaukeln auf und ab wie drei miteinander ve r bundene Bojen.
»Was würde wohl Mrs Nightwing sagen, wenn sie uns jetzt so voller Grazie, Charme und Schönheit sehen könn te?«, kichert Pippa.
»Sie würde wahrscheinlich tot umfallen«, meint Ann vom Ufer her.
»Hal«, sagt Felicity. »Der Wunsch ist der Vater des Gedankens.« Sie legt ihren Kopf in den Nacken und lässt ihr Haar auf dem Wasser schwimmen wie einen Strahlenkranz.
Pippas Kopf fährt herum. »Habt ihr das gehört?«
»Was gehört?« Durch das Wasser in meinen Ohren ist es schwierig, Geräusche auseinanderzuhalten. Aber jetzt höre ich es. Das Knacksen eines Zweiges hallt zwischen den Bäumen.
»Da ist es wieder! Hast du’s gehört?«
»Herrje«, krächzt Ann.
»Unsere Kleider!« Pippa watet so schnell wie möglich aus dem Wasser und läuft zu unserem Klei derbündel, um in ihr Mieder zu schlüpfen. Im selben Moment tritt Kartik zwischen den Bäumen hervor, einen behelfsmäßigen Kr i cketschläger in der Hand. Ich kann nicht sagen, wer e r schrockener ist –Kartik oder Pippa.
»Wenden Sie Ihre Augen ab!«, kreischt sie nahezu hysterisch, während sie verzweifelt versucht, sich mit dem bisschen Spitze und Stoff zu bedecken.
Kartik gehorcht, zu überrascht, um zu widersprechen. Als er sich umdreht, fange ich seinen Blick auf. Staunen und Ehrfurcht mischen sich darin. Als sei ihm wahrhaftig eine Göttin aus Fleisch und Blut e r schienen.
»In früheren Zeiten hätten wir Sie niedergeworfen und Ihnen für das, was Sie gesehen haben, die Augen ausge kratzt«, ruft Felicity wütend aus dem Weiher.
Kartik sagt nichts. So plötzlich, wie er aufgetaucht ist, ist er wieder im Wald verschwunden.
»Das nächste Mal«, sagt Felicity, während sie Pippa beim Anziehen hilft, »werden wir ihm die Augen auskra t zen.«

Das Zimmer ist dunkel, aber ich weiß, dass sie nicht schläft. Kein Schnarchen ist zu hören.
»Ann, bist du wach?« Sie reagiert nicht, aber ich gebe nicht auf. »Ich weiß, dass du’s bist, also kannst du genauso gut antworten.« Stille. »Ich gebe keine Ruhe, bis du mit mir redest.« Draußen verkündet e i ne Eule, dass sie in der Nähe ist.
»Warum tust du dir das selbst an? Diese Schnitte?«
Eine gute Minute lang erfolgt keine Antwort und ich denke schon, vielleicht ist sie schließlich doch eingeschla fen. Aber dann flüstert sie mit erstickter Stimme, so leise, dass ich mich in der Dunkelheit anstrengen muss, um sie zu verstehen. »Ich weiß nicht. Manchmal fühle ich übe r haupt nichts und das macht mir solche Angst. Angst, dass ich ganz aufh ö ren werde zu fühlen. Dass ich einfach in mir selbst verschwinde.« Ein unterdrücktes Schluchzen ist zu hören. »Ich muss einfach irgendetwas spüren.«
Die Eule sendet wieder ihren nächtlichen Ruf aus.
»Du hörst auf damit«, sage ich. »Versprichst du mir das?«
Wieder Schluchzen. »Ja.«
Mein Gefühl sagt mir, ich sollte irgendetwas unternehmen. Meinen Arm um sie legen. Mich an sie schmiegen. Mir fällt nichts ein, was ich tun könnte, das uns nicht beide erschrecken und in Verlegenheit stürzen würde.
»Wenn du es weiter tust, sehe ich mich gezwungen, deine Stickerei zu konfiszieren, und was machst du dann ohne die Genugtuung, dein kleines Hollä n dermädchen samt Windmühle in sieben verschiedenen Garnfarben zu volle n den, hmmm?«
Sie lässt ein leises, glucksendes Lachen hören und ich bin erleichtert.
»Gemma?«, sagt sie nach einer Weile.
»Hmmm?«
»Du wirst es niemandem sagen, nicht wahr?«
»Nein.«
Noch mehr Geheimnisse. Wie kommt es, dass ich auf einmal so viele bewahren muss? Ann dreht sich zufrieden auf die andere Seite und das vertraute Schnarchen setzt ein. Ich starre auf einen Fleck an der Wand, den Schlaf herbe i sehnend, dem Schrei der Eule lauschend, in eine Nacht, die keine Antwort gibt.