36. Kapitel
Das Tor pulsiert von Licht. Als wir hindurchstol pern, scheint alles genauso, wie es war. Der Fluss rauscht weiter sein süßes Lied. Der Sonnenuntergang ist immer noch ein verschwender i sches Farbenspiel. Bl ü ten schweben vorbei.
»Seht ihr?«, sagt Felicity. Triumph leuchtet aus ihren Augen. »Nichts fehlt. Ich habe es euch gesagt, sie wollte die Macht, die die Magie verleiht, nur für sich selbst.«
Ich kümmere mich nicht um sie, lausche auf irgendetwas Ungewöhnliches.
Sie hüpfen vor mir die Wiese hinunter und gehen auf den Garten zu, Hand in Hand, wie ein Trio von Ausschnei depuppen.
Der Wind dreht sich und bringt den Duft von Rosen mit sowie jenen anderen, üblen Geruch, der mich veranlasst, ihnen nachzulaufen.
»Wartet! Felicity, bitte hör mir zu, ich glaube, wir sollten umkehren.«
»Umkehren? Wir sind gerade erst angekommen«, sagt sie spöttisch.
Anns Gesicht ist hart wie Stein. »Wir kehren nicht zurück o hne die magische Macht, die es uns erlaubt, a l lein hierherzugelangen.«
Plötzlich ist die Jägerin neben uns. Das überrascht und erschreckt mich. Seltsam, dass ich sie nicht habe kommen hören. Unwillkürlich fällt mir ein, wie sie mir die Beeren angeboten hat. Bei dem Gedanken überläuft es mich kalt. Mit einem Finger streicht sie über Felicitys blutverschmie r tes Gesicht und reibt ihren Daumen an dem Blut. Sie bringt den Finger an ihren Mund, kostet davon und lächelt. »Ich sehe, du hast mir ein Opfer gebracht.«
»Ja«, sagt Felicity. »Wirst du uns die Kraft verleihen, die wir brauchen, um das Magische Reich zu betreten?«
»Habe ich dir das nicht versprochen?« Die Jägerin lächelt, aber in ihrem Lächeln ist keine Spur von Wärme. »Folgt mir.«
Ich packe Felicity am Arm. »Bleib«, flüstere ich. »Irgendetwas stimmt nicht. Überhaupt nicht. Wir sollten nicht auf sie hören.«
»O doch, endlich stimmt irgendetwas«, sagt Felicity, reißt sich los und läuft hinter den anderen her.
Ich folge ihnen durch den silbernen Torbogen in die Grotte. Meine Mutter ist nirgends zu sehen. Die Gerüche meiner Kindheit wehen vorüber. Curry. Pfeifenrauch. Und noch etwas anderes. Da ist er wi e der. Der üble Gestank.
Wir haben die Kristalle des Orakels erreicht, das Herz aller Dinge.

Der Wind springt um. Der Geruch wird stärker, ein Gestank wie von in der Sonne faulendem Fleisch. Riecht das niemand außer mir?
»Was machen wir jetzt?«, fragt Pippa.
»Wir bedienen uns der Magie, um mich auf die andere Seite hinüberzubringen«, sagt die Jägerin.
»Wenn wir uns an den Händen halten und dich hinüberbringen, wirst du uns dann geben, was wir brauchen, um zu kommen und zu gehen, wie es uns beliebt?«
»Nicht ich. Meine Herrin. Sie wird euch geben, was ihr verdient.«
In mir schlägt eine Warnglocke an und lässt sich nicht mehr abstellen.
»Deine Herrin?«, fragt Felicity verwirrt.
Alles in mir schreit: Lauft! Meine Hand liegt auf Felicitys Arm, und als spürte sie meine Angst, weicht sie lan g sam von dem Kreis zurück. Die Jägerin scheint zu wac h sen. Ihre Augen werden schwarz, ihre Stimme ein Zischen.
»Kommt zu mir, meine Schönen.«
Der Himmel verwandelt sich in ein wogendes Meer aus dunklen Wolken. Blitzschnell erhebt sich die Jägerin vor uns, ragt hoch über uns empor, ein riesiges, brüllendes Un geheuer, das die Seelen der Verdammten in seinem ausg e breiteten schwarzen Umhang trägt. Felicity vermag sich nicht von der Stelle zu rühren, kann ihren Blick nicht von dem Skelettgesicht lösen, mit seinen rot umränderten A u gen, den kreisenden schwarzen Pupillen und den scharfen, spitzen Zähnen. Das Ungeheuer krallt seine Hand um ihren Arm. Felicitys Mund öffnet sich zu einem entsetzten O. Ihre A u gen füllen sich mit einer Schwärze wie von Tinte.
»Nein!«, schreie ich, werfe mich mit aller Wucht gegen Felicity und reiße sie mit mir zu Boden. Sie zittert am gan zen Leib, ihre Augen sind immer noch schwarz. Pippa taumelt, stürzt auf die Knie und stolpert schreiend den Hü gel hinunter in Richtung Fluss.
»Ann! Hilf mir! Wir müssen sie zurückholen!«
Felicity zwischen uns mitschleifend rennen wir zum Fluss. Wir müssen Pippa finden. Wir müssen fort von hier. Ein Sturm bläst. Er reißt Blätter, Zwe i ge und Äste von den Bäumen, lässt sie auf uns he r untersausen. Ein Ast verfehlt knapp meinen Kopf und streift meine Wange, sodass sie blutet.
Der dunklen, gespenstischen Gestalt wächst ein weiteres Paar Arme und noch eins. Sie schleicht sich heran, bereit, uns in ihrer Umarmung zu zermalmen. Felicity kommt jetzt wieder zu sich, sie schwankt, dann läuft sie. Wir erreichen den Fluss, aber wo ist Pippa?
Anns Schrei zerreißt die Luft. »Hilfe!«
Ann starrt in den Fluss, zieht an ihrem Haar. Ihr Spiegelbild hat sich verwandelt. Ihr Gesicht ist mit grässlichen Ge schwüren bedeckt. Die Haare fallen ihr in dicken Bü scheln aus und lassen kahle Stellen auf ihrem Schädel z u rück. Es ist, als würde ihre Haut von den Knochen schme l zen.
»Hör auf, dich anzusehen, Ann! Hör auf!«, rufe ich.
»Ich kann nicht! Ich kann nicht!«
Ann beugt sich tiefer über den Rand des Wassers. Ich schlinge meine Arme um ihre Brust, aber sie ist schwer und l ässt sich nicht von der Stelle bewegen und dann packt Felicity mit an und mit einem kräft i gen Ruck ist Ann frei und fällt rückwärts ins Gras.
»Wo ist Pippa?«, schreit sie gegen den Wind.
»Ich weiß es nicht«, schreie ich zurück.
Etwas gleitet über meine Hand. Schlangen winden sich durch das hohe Gras, während es verwelkt und verdorrt. Wir springen auf einen Felsen. Birnen fa l len von einem Baum und verfaulen zu unseren Fü ßen. Ann beobachtet wimmernd, wie ihre Haut i m mer hässlicher wird.
»Hilfe!« Pippas Schrei dringt uns durch Mark und Bein. Als wir über das dürre Gras laufen, sehen wir sie. Sie hat sich in ein großes, schwarzes Boot g e flüchtet und auf den Fluss hinaustreiben lassen. Das Ungeheuer ist zwischen uns und dem Ufer und zwingt uns so, Abstand zu halten.
»O ja, recht so … holt sie zurück «, lacht es.
»Bitte! Helft mir!«, ruft Pippa. Aber wir sind machtlos. Sie ist von uns abgeschnitten. Wir trauen uns nicht an dem Ungeheuer vorbei. Meine Angst ist so groß, dass ich nur den einen Gedanken habe –uns hier herauszubringen.
»Durch das Tor – schnell!«, rufe ich.
Der Wind peitscht Felicitys Haar über ihr blasses Gesicht. »Wir können Pip nicht im Stich lassen!«
»Wir kommen zurück und dann holen wir sie!«, schreie ich, an Felicitys Hand zerrend.
»Nein!«
»Verlasst mich nicht!« Pippa klettert in den Bug des Bootes. Es neigt sich unter ihrem Gewicht.
»Pippa – nein!«, schreie ich, aber es ist zu spät. Sie springt in den Fluss, ihre Hände greifen in die Luft und der Fluss schließt sich über ihnen wie Eis, alles unter sich b e grabend außer ihrem erstickten Schrei. Ich erinnere mich an meine Vision am Tag von Pippas epileptischem Anfall, als ich sah, wie sie ins Wasser hinuntergezogen wurde. Und nun endlich verstehe ich, mit maßlosem Entsetzen.
Das Gespenst heult wütend auf und dann rast die Dunkelheit selbst brüllend auf uns zu.
»Pippa! Pippa!«, schreit Felicity, bis sie heiser ist.
»Felicity, wir müssen fort – schnell!«
Das Ungeheuer wirft fast schon seinen Schatten auf uns. Zum Überlegen ist keine Zeit. Ich kann nur handeln. Ich erreiche das Tor und schleuse uns hi n durch und zurück in die Höhle, während die Kerzen flackernd und hustend ihr letztes Licht versprühen. Wir sind alle da, in Sicherheit, wie es scheint. Aber Pippas Körper auf dem Boden wird von unkontro l lierbaren Krämpfen erfasst.
Anns Stimme zittert. »Pippa? Pippa?«
Felicity schluchzt. »Du hast sie dort zurückgelassen! Du warst es!«