14. Kapitel
Am nächsten Morgen, in Mademoiselle LeFarges Franzö sischstunde, bin ich buchstäblich eine Leiche. Die Nac h wirkungen des Whiskeys sind teuflisch. Das Dröhnen in meinem Kopf lässt keinen Mo ment nach und das Frühstück –trockener Toast mit Ora n genmarmelade –möchte am liebsten wieder aus me i nem Magen heraus.
Ich werde nie, nie wieder Whiskey trinken. Von jetzt an gibt es nur noch Sherry.
Pippa sieht genauso elend aus wie ich. Ann scheint wohlauf zu sein – allerdings habe ich den Verdacht, dass sie beim Trinken geschummelt hat. Das sollte ich mir fürs nächste Mal vielleicht merken. Abgesehen von den Scha t ten unter ihren Augen scheint Fel i city den langen Abend gut überstanden zu haben.
Elizabeth bemerkt mein ramponiertes Aussehen und runzelt die Stirn. »Was ist denn mit der los?«, fragt sie und versucht damit, sich bei Felicity und Pippa wieder einz u schmeicheln. Ich bin neugierig, ob sie anbeißen werden, bereit, die Freundschaft der vergangenen Nacht zu verge s sen und Ann und mich wieder links liegen zu lassen.
»Bedaure, aber wir können die Geheimnisse unseres Zirkels nicht preisgeben«, sagt Felicity, indem sie mir e i nen ve r stohlenen Blick zuwirft.
Elizabeth wendet sich schmollend ab und flüstert Martha etwas ins Ohr, die dazu nickt. Cecily gibt je doch nicht so leicht auf.
»Fee, bitte sei nicht gleich eingeschnappt«, sagt sie honigsüß. »Ich habe im Schreibwarenladen neues Briefpapier gekauft. Sollen wir heute Abend gemei n sam Briefe nach Hause schreiben?«
»Tut mir leid, aber ich habe schon was vor«, antwortet Felicity kurz angebunden.
»Wenn das so ist.« Cecily presst ihre dünnen Lippen aufeinander. Sie würde die perfekte Pfarrersfrau abgeben, mit dieser tödlichen Kombination aus Selbstgerechtigkeit und einer Prise Unversöhnlic h keit. Wenn mir nicht so elend zumute wäre, würde ich mich noch ein bisschen mehr über die Abfuhr freuen, die sie bekommen hat. Ein Rülpser en t schlüpft mir, sehr zum Entsetzen aller, aber jetzt fü h le ich mich besser.
Martha wedelt mit der Hand vor ihrer Nase. »Du riechst wie eine Schnapsbrennerei.«
Cecily hebt neugierig ihren Kopf hoch. Sie und Felicity sehen sich an, Auge in Auge – Felicitys Blick ist hart, wä h rend um Cecilys Mundwinkel ein kleines, boshaftes Lä cheln zuckt. Mademoiselle LeFarge stürmt ins Klasse n zimmer und sprudelt franz ö sische Worte hervor, die mich schwindlig machen. Sie gibt uns fünfzehn Sätze auf, die wir in unsere Hefte übersetzen sollen. Cecily faltet ihre Hände vor sich auf dem Pult.
»Verzeihen Sie, Mademoiselle LeFarge …«
»En français!«
»Excusez-moi, Mademoiselle, aber ich glaube, Miss Doyle fühlt sich nicht wohl.« Cecily wirft Felicity einen tr i umphierenden Blick zu, als mich Ma demoiselle LeFarge zum Lehrerpult ruft, um mich näher in Augenschein zu nehmen.
»Sie sehen ein wenig mitgenommen aus, Miss Doyle.« Sie schnuppert und spricht mit leiser, ernster Stimme zu mir. »Miss Doyle, haben Sie Alkohol zu sich genommen?«
Das Kratzen der Federn hinter mir verlangsamt sich. Ich weiß nicht, was intensiver ist –der Whiskey, der aus me i nen Poren dringt, oder der Geruch der Angst im Raum.
»Nein, Mademoiselle. Bloß zu viel Orangenmarmelade zum Frühstück«, sage ich mit einem reum ü tigen Lächeln. »Ich habe eine Schwäche für Ora n genmarmelade.«
Sie schnuppert wieder, wie um sich zu überzeugen, dass ihre Nase sie getäuscht hat. »Nun gut, Sie können sich se t zen.«
Mit zitternden Knien gehe ich zu meinem Pult zurück, schaue dabei nur einmal kurz auf und sehe, wie Felicity von einem Ohr bis zum anderen grinst. Cec i ly blickt drein, als könnte sie mich mit Wonne im Schlaf erwürgen. Ve r stohlen steckt mir Felicity einen Zettel zu. Ich dachte, du bist erledigt.
Ich kritzle zurück: Das dachte ich auch. Ich fühle mich wie gerädert. Wie geht ’s deinem Kopf? Pippa sieht das heimliche Hin und Her von zusammeng e faltetem Papier. Sie verrenkt sich den Hals, um das Geschriebene zu lesen und zu erfah r en, ob es dabei womöglich um sie geht. Fel i city schirmt die Bo t schaft mit ihrer Hand ab. Widerwillig widmet Pippa sich wieder ihrer Aufgabe, nicht ohne mir vorher noch einen bitterbösen Blick aus ihren veilche n blauen Augen zuzuwerfen.
Flugs reicht mir Felicity den Zettel wieder herüber, aber diesmal hebt Mademoiselle LeFarge den Kopf. »Was ist dort hinten im Gange?«
»Nichts«, sagen Felicity und ich wie aus einem Mund, was unzweifelhaft darauf schließen lässt, dass tatsächlich etwas im Gange ist.
»Ich werde die heutige Stunde nicht wiederholen, ich erwarte also, dass Sie es nicht leichtfertig unter lassen, alles mitzuschreiben.«
»Bien sûr, Mademoiselle«, sagt Felicity, ganz französ i scher Charme und strahlendes Lächeln.
Als Mademoiselle ihren Kopf wieder gesenkt hat, falte ich den Zettel auseinander, den mir Felicity ge geben hat. Wir treffen uns heute nach Mitternacht wieder. Treue zum Orden des aufgehenden Mondes !
Ich seufze innerlich beim Gedanken an eine weitere schlaflose Nacht. Mein Bett mit seiner warmen wollenen Decke ist verlockender als eine Einladung zum Tee bei e i nem Herzog. Aber ich weiß schon, dass ich heute Nacht wieder durch den Wald schle i chen werde, getrieben von der Neugier, mehr über die Geheimnisse des Tagebuchs zu erfahren.
Als ich den Kopf wende, sehe ich, wie Pippa einen eigenen Zettel zu Felicity hinüberschickt. Ich gestehe es mir nur ungern ein, aber ich möchte für mein Leben gern wi s sen, was d araufsteht. Ein ärgerlicher, gehässiger Ausdruck huscht über Felicitys Gesicht, weicht jedoch ebenso rasch einem schmallippigen Lächeln. Überraschenderweise an t wortet sie nicht, sondern gibt zu Pippas Entsetzen den Ze t tel an mich weiter. Ausgerechnet jetzt steht Mademo i selle LeFarge auf und kommt den Gang zwischen unseren Pu l ten entlang, sodass mir nichts anderes übrig bleibt, als den Zettel zwischen die Seiten meines Hefts zu stecken und das Lesen auf später zu ve r schieben. Nach der Stunde ruft mich Mademoiselle LeFarge erneut zu sich. Felicity wirft mir einen wa r nenden Blick zu. Ich erwidere ihren Blick mit einem stummen: Was erwartest du von mir? Der Ge sichtsausdruck Pippas, die weiß, dass ihr Zettel noch i m mer ein Loch in mein Französischheft brennt, schwankt zwischen Angst und Ohnmacht. Sie will mir etwas sagen, aber Ann schließt die Tür und lässt mich mit Mademoiselle LeFarge und meinem eig e nen klopfenden Herzen allein.
»Miss Doyle«, sagt Mademoiselle LeFarge und schaut mit müdem Blick zu mir hoch, »sind Sie si cher, dass der Geruch Ihres Atems von Orange n marmelade und nicht von einer anderen Substanz herrührt?«
»Ja, Mademoiselle«, sage ich und versuche dabei, so flach wie möglich auszuatmen.
Sie hat den Verdacht, dass ich lüge, aber sie kann es nicht beweisen. Schließlich stößt sie einen Seufzer der Ent täuschung aus. Ich scheine die Menschen zu dieser Reakt i on herauszufordern. »Zu viel Marmel a de schadet der Figur, wie Sie wissen.«
»Ja, Mademoiselle, ich werde es mir zu Herzen nehmen.« Dass jemand wie Mademoiselle LeFarge, die alles andere als eine Wespentaille hat, Figurprobleme zur Spr a che bringt, ist erstaunlich, aber ich will nur meinen Kopf retten.
»Ja, das sollten Sie. Männer mögen keine dicken Frauen«, sagt sie. Ihre Offenheit ist entwaffnend. »Nun ja, es gibt Ausnahmen.« Unwillkürlich streicht sie mit dem Fi n ger über die Fotografie des jungen Mannes in Uniform.
»Ist das ein Verwandter von Ihnen?«, frage ich so höflich wie möglich. Es ist nicht mehr der Whiskey, der mir den Magen umdreht, sondern mein schlec h tes Gewissen. Ehrlich, ich mag Mademoiselle LeFa r ge und ich hasse es, sie zu täuschen.
»Mein Verlobter. Reginald.« Stolz spricht daraus, überschattet von einem Hauch von Wehmut, der mich erröten lässt.
»Erwirkt … sehr …«Ich merke, dass ich keine leise A h nung habe, was ich über diesen Mann sagen soll. Ich habe ihn nie getroffen. Er ist für mich nichts we i ter als eine schlechte Fotografie. Aber ich habe den Satz schon bego n nen. »Vertrauenswürdig«, setze ich mit Mühe hinzu.
Das scheint Mademoiselle LeFarge zu gefallen. »Er hat ein freundliches Gesicht, nicht wahr?«
»Ganz eindeutig«, sage ich.
»Aber ich halte Sie jetzt nicht länger auf. Sie wollen ja nicht zu spät zur Stunde von Mr Grünewald kommen. Und denken Sie daran –zu viel Orangenmarmelade ist ung e sund.«
»Ja, das werde ich. Danke«, sage ich und stolpere aus der Tür. Eine Lehrerin wie Mademoiselle LeFa r ge verdiene ich überhaupt nicht. Trotzdem weiß ich, dass ich heute Nacht in der Höhle sein und Mademoiselle LeFarge abe r mals enttäuschen werde, indem ich Dinge tue, die sie ho f fentlich nie herausfi n den wird.
Der für Felicity bestimmte Zettel schaut aus meinem Französischheft heraus. Langsam falte ich ihn auseinander. Pippas makellose runde Handschrift spricht Spott und Hohn.
Treffen wir uns heute Nachmittag beim Bootshaus? Meine Mutter hat mir neue Handschuhe g e schickt und du darfst sie tragen. Um Himmels willen lade sie nicht ein. Wenn sie versucht, ihre großen Pranken hineinzuzwängen, gehen die Handschuhe garantiert kaputt.
Zum ersten Mal an diesem Tag ist mir wirklich speiübel, obwohl es nichts mit dem Whiskey zu tun hat, sondern ein zig und allein damit, wie ich sie in diesem Moment hasse –Pippa , weil sie das g e schrieben hat, und Felicity, weil sie es mir gegeben hat.
Wie sich herausstellt, wird Pippa doch nicht zum Bootshaus kommen. Der ganze Marmorsaal schwirrt von der Neuigkeit –Mr Bumble ist da. Sämtliche Schülerinnen von Spence –von sechs bis sechzehn –scharen sich um Brigid, die uns brühwarm den ne u esten Tratsch berichtet. Sie schwärmt, was für ein stattlicher, respektabler Mann er doch sei, wie bil d hübsch Pippa aussehe und was für ein herrliches Paar sie abgäben. Ich glaube, ich habe Brigid noch nie so auf g ekratzt gesehen. Wer hätte gedacht, dass sich in der griesgrämigen alten Schachtel ein so romant i sches Gemüt verbirgt?
»Ja, aber wie sieht er aus?«, will Martha wissen.
»Ist er schön? Groß? Hat er alle seine Zähne?«, drängt Cecily.
»Jawohl«, sagt Brigid mit wissender Miene. Sie gefällt sich in dieser Rolle – ein bisschen Orakel zu spielen. »Stattlich und respektabel«, wiederholt sie, für den Fall, dass wir diese hervorstechenden Eige n schaften das erste Mal überhört haben. »Oh, was für eine wundervolle Partie unsere Miss Pippa macht. Nehmen Sie sich ein Beispiel an ihr. Wenn Sie alles beherzigen, was Ihnen Mrs Nightwing und die and e ren –einschließlich meiner Wenigkeit –raten, können Sie genauso ans Ziel gelangen wie Miss Pippa. Zum Altar im Wagen eines reichen Mannes.«
Es scheint nicht der richtige Zeitpunkt für die Frage zu sein, warum Mrs Nightwing und die anderen, einschließ lich Brigid, trotz all ihrer Weisheit nicht vorm Altar gela n det sind. Die Mädchen hängen so verzückt an Brigids Li p pen, als würde sie das Eva n gelium verkündigen.
»Wo sind sie jetzt?«, fragt Felicity ungeduldig.
»Nun.« Brigid senkt ihre Stimme. »Ich hab gehört, wie Mrs Nightwing sagte, sie wollten eine Runde durch den Park machen …«
Felicity zögert keine Sekunde. »Wir könnten vom Treppenhaus, vom Fenster im zweiten Stock, in den Garten schauen !«
Brigids Protest wird von der wilden Horde, die die Treppe h inauf zum Fenster stürmt, hinweggefegt. Wir Älteren überholen die jüngeren Mädchen, boxen uns mit der Kraft unserer Ellbogen den Weg frei. Im Nu haben wir uns die besten Plätze am Fenster ges i chert und die anderen drängen sich hinter uns und recken die Hälse, um auch etwas zu sehen.
Im Park unten schlendern Pippa und Mr Bumble, von Mrs Nightwing als Anstandsdame begleitet, die von Rosen und Hyazinthen gesäumten Wege entlang. Durch das off e ne Fenster können wir deutlich sehen, wie sie jetzt einen Schritt voneinander entfernt verl e gen stehen bleiben. Pippa verbirgt ihr Gesicht in e i nem Strauß Blumen, den er ihr vermutlich mitg e bracht hat. Sie sieht maßlos gelangweilt aus. Mrs Nightwing weist auf die verschiedenen Gewächse zu beiden Seiten des Weges hin.
»Könntet ihr uns auch mal ein wenig Platz machen, bitte?«, fordert ein resolutes, rundliches Mä d chen.
»Hau ab«, faucht Felicity, absichtlich grob, um die Kleine einzuschüchtern.
»Ich werd’s Mrs Nightwing sagen!«, piepst das Mäd chen.
»Tu’s nur, dann wirst du sehen, was passiert. Jetzt halt den Mund –wir versuchen zu hören, was sie s a gen!«
Das Gedränge hält an, aber wenigstens das Gequengel hat aufgehört. Es ist einfach zu komisch, Pippa und Mr Bumble zusammen zu sehen. Entgegen Brigids glühender Schilderung ist er in Wirklichkeit ein Fettwanst mit einem buschigen Schnurrbart und außerdem viel älter als Pippa. Soweit ich es beurteilen kann, ist überhaupt nichts Beso n deres an ihm.
»Pip ist ein echter Glückspilz«, sagt Cecily. »Sie könnte heiraten, ohne überhaupt eine Debütantinnen-Saison durchzumachen und sich von jedem Mann und seiner Mu t ter unter die Lupe nehmen zu lassen, ob sie zur Ehefrau taugt.«
»Ich glaube nicht, dass Pip dir zustimmen würde«, sagt Felicity. »Ich denke, es ist überhaupt nicht das, was sie will.«
»Nun, es geht ja nicht darum, was wir wollen, oder?«, sagt Elizabeth einfach.
Dazu fällt niemandem etwas ein. Der Wind weht Mrs Nightwings Stimme herüber. Sie sagt etwas von Rosen, die die Blumen der Liebe sind. Und dann ve r schwinden sie hinter einer hohen Hecke.