33. Kapitel
Dr Bumble gibt sich nicht so leicht geschlagen, wie wir gedacht hatten. Er ist zu Pippas Eltern gegangen und hat ihnen alles haarklein berichtet. Das Ehepaar Cross ist en t setzt, dass sie die Kontrolle über das Einzige verloren h a ben, was sie immer unter Kontrolle haben sol l ten –ihre Tochter. Ihr Pfand. Sie versicherten Mr Bumble, es handle sich um nichts we i ter als eine nervöse Überspanntheit eines jungen Mädchens, das seinem Hoc h zeitstag entgegenbangt, und das Ganze sei völlig aus der Luft gegriffen. Schließlich und endlich, wie könne ein so schönes Mädchen wie Pi p pa etwas anderes sein als ein Bild der Gesundheit? Mr Bumble akzeptierte ihre Erkl ä rung voll und ganz, da sie die Eltern sind und wir nur dumme Mädchen. In Spence hat die Sache jedoch ein Nachspiel. Deswegen sind wir vier in Mrs Nightwings Arbeitszi m mer versammelt. Unter den tadelnden Augen der Pfauenfede r tapete müssen wir uns Vorwürfe und Anschuldigungen a n hören und hilflos zusehen, wie sich unsere Freiheit lan g sam in alle Winde ze r streut.
Morgen wird Pippa mit ihren Eltern Spence verlassen und am Wochenende wird sie Mr Bumble hei raten. Hastige Vor b ereitungen haben begonnen. Die Ordnung wird wi e derhergestellt. Der Stolz hoc h gehalten. Wen kümmert das lebenslange Glück oder Unglück eines Mädchens, wenn es gilt, den Schein zu wa h ren?
Pippa starrt in ihren Schoß und kaut dabei, völlig zerstört, heftig auf ihrer Unterlippe, während Mrs Nightwing Pippas Eltern und ihren Verlobten zu b e sänftigen sucht. Mrs Nightwing läutet die Küche n glocke und kurz darauf erscheint Brigid , schnaufend und keuchend vom raschen Treppensteigen.
»Brigid, bitte führen Sie Mr Cross und Mr Bumble in die Bibliothek und bieten Sie ihnen ein Glas von unserem bes ten Portwein an.«
Das freut die Männer. Sie lächeln selbstgefällig und werfen sich in die Brust.
»Ich hoffe sehr, dass Sie dieses akzeptieren werden, als Zeichen der Entschuldigung und meiner Versicherung, dass es keine weitere Misshelligkeit geben wird.« Mrs Nightwing wirft Mr Bumble aus dem Augenwinkel einen fragenden Blick zu.
Mrs Cross wedelt die Bedenken fort. »Glücklicherweise wurde ja kein großes Unheil angerichtet.«
Mr Bumble kräuselt seinen Schnurrbart. »Ich bin ein vernünftiger Mann. Aber Sie sollten den Mäd chen viel straffere Zügel anlegen. Sie dürfen nicht ihren eigenen En t scheidungen überlassen werden. Das ist ungesund.«
Ich schließe die Augen und sehe im Geist Mr Bumble mit dem Kopf voran die lange Treppe hinun tersausen und sich den Hals brechen, bevor er seinen Portwein schlürfen kann.
Es ist die reinste Ironie, dass wir jetzt bestraft werden, weil wir ihm die Wahrheit gesagt haben.
»Sie haben vollkommen recht. Ich werde mir Ihren Rat zu Herzen nehmen, Mr Bumble«, sagt Mrs Nightwing mit einer seltenen Geste der Kapitulation. Sie will ihn lediglich beruhigen, aber er ist viel zu aufgeblasen, um das zu b e merken.
Die Männer entfernen sich mit Brigid. Mrs Cross er hebt sich und richtet ihre Handschuhe, indem sie sie hoc h zieht und die Falten glatt streicht. »Komm jetzt, Pippa. Wir mü s sen für das Hochzeitskleid Maß nehmen lassen. Ich denke, ein Duchess-Satin wird sich gut machen.«
Über Pippas zitternde Lippen kommt ein leises, verzweifeltes Flehen. »Bitte, Mutter! Bitte zwing mich nicht, ihn zu heiraten.«
Mrs Cross verzieht ihren Mund zu einem hässlichen, harten Strich, durch den sie zischt: »Du bist eine Schande für unsere Familie.«
»Miss Cross«, sagt Mrs Nightwing, zwischen sie tretend. »Sie werden eine wunderschöne Braut sein. Ganz London wird von Ihnen sprechen. Und nach Ihrer Hochzeitsreise, wenn Sie eine glückstrahlende junge Ehefrau sind und all das vergessen ist, dann kommen Sie uns besuchen.«
Mrs Cross’ Gesichtszüge haben sich entspannt und ihre Augen füllen sich tatsächlich mit Tränen. Zär t lich fasst sie nach Pippas Kinn. »Ich weiß, dass du mich jetzt verachtest. Aber ich verspreche dir, eines Tages wirst du mir dankbar sein. Die Ehe verschafft Unabhängigkeit. Wirklich. Wenn du k lug bist, kannst du alles haben, was du willst. Und jetzt kümmern wir uns um dein Kleid, ja?«
Pippa folgt ihrer Mutter hinaus, dreht sich aber noch einmal zu uns um, mit einem so verzweifelten Blick, dass mir ist, als würde ich selbst gegen meinen Willen zur He i rat gezwungen.
Nun sitzen wir nur noch zu dritt Mrs Nightwing und ihrem ebenso imponierenden Schreibtisch g e genüber. Eine Schublade wird geöffnet. Mary Dowds Tagebuch knallt auf die glänzende Mahagonioberfl ä che. Mein Magen krampft sich zusammen. Jetzt s e hen wir alle unserem Todesurteil entgegen.
»Wer kann mir darüber etwas sagen?«
Sekunden verticken, laut wie Kanonenschüsse, in der Standuhr.
»Miss Bradshaw?«
Ann ist den Tränen nahe. »Es i-s-st ein B-b-b-buch.«
»Ich kann sehen, dass es ein Buch ist. Ich habe jede Seite studiert.« Mrs Nightwing blickt uns über den Rand ihrer Brille finster an. »Jede Seite.«
Wir wissen, welche sie im Besonderen meint, und zittern auf unseren Stühlen.
»Miss Worthington, hätten Sie die Freundlichkeit, mir zu sagen, wie Sie in den Besitz dieses Buches gekommen sind?«
Felicity fährt hoch. »Sie haben mein Zimmer durchsucht?«
»Ich warte auf eine Antwort. Oder werde ich in dieser Angelegenheit Ihren Vater kontaktieren müs sen?«
Felicity sieht aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.
Ich schlucke mühsam. »Es ist meins«, sage ich.
Mrs Nightwing blinzelt mich durch ihre Brillengläser an. Auf diese Weise ähnelt sie einer Eule, die eine Beute e r späht. »Ihres, Miss Doyle?«
Ich habe ein flaues Gefühl im Magen. »Ja.« Auch gut, sollen sie mich hinauswerfen. Dann ist endlich Schluss mit alldem.
»Und wie, bitte, sind Sie an so einen Schund gekommen?«
»Ich hab’s gefunden.«
»Sie haben’s gefunden?« Sie wiederholt meine Worte langsam, um deutlich zu machen, wie sehr sie mir glaubt. »Wo?«
»Im Wald.«
Mrs Nightwing starrt mich unverwandt an, doch ich bin zu benommen, um Furcht zu empfinden. »Anscheinend hat sich im Wald eine ganze Menge zugetragen. Miss Cross hat mir alles gestanden.«
Ich höre, wie Ann neben mir zu weinen anfängt und Felicity auf ihrem Stuhl herumrutscht. Aber ich bin völlig abgestumpft und erwarte das Unausweic h liche.
»Sie sagte mir, Miss Moore habe Ihnen das Buch gegeben.«
Damit habe ich nicht gerechnet. Diese Mitteilung bringt mich mit einem Schlag ins Hier und Jetzt zu rück.
»Ist das wahr?«
Mein Mund öffnet sich, um zu sagen, nein, es ist alles meine Schuld, aber Felicity kommt mir zuvor.
»Ja, das stimmt«, sagt sie so ruhig, dass ich meinen Ohren kaum traue. »Es war Miss Moore.«
»Ich bedaure, das hören zu müssen. Aber ich muss Sie bitten, mir alles zu sagen, Miss Worthington.«
»Nein. Das stimmt nicht«, rufe ich, als ich endlich meine Stimme wiederfinde.
»Du hast selbst gesagt, du hättest es in der Bibliothek gefunden.« Ein harter, verzweifelter Blick trifft mich aus Felicitys Augen. »Und Miss Moore hatte uns gesagt, wenn wir mehr über den Orden des au f gehenden Mondes wissen wollen, dann sollten wir in die Bibliothek gehen.«
»Der Orden des aufgehenden Mondes? Was für einen Unsinn hat Ihnen Miss Moore da in den Kopf gesetzt?«
»Sie hat uns zu der Höhle geführt und uns die Zeichnungen an den Wänden gezeigt.«
»Einige davon sind mit Blut gemalt«, fügt Ann hinzu. Sie unterstützt Felicitys Version.
»Ich habe Miss Moore nie erlaubt, mit Ihnen zu dieser Höhle zu gehen«, sagt Mrs Nightwing.
»Trotzdem hat sie uns hingeführt, Mrs Nightwing.« Felicity reißt die Augen weit auf, in dem Ve r such, unschuldig dreinzuschauen.
»So war es nicht. Ich habe das Tagebuch gefunden …«
Felicity legt eine Hand auf meinen Arm. Nach außen hin wirkt es freundschaftlich, in Wirklichkeit drückt sie dabei aber fest zu. »Mrs Nightwing weiß schon, was geschehen ist, Gemma. Wir müssen jetzt die Wahrheit sagen.« Und zu Mrs Nightwing gewandt: »Sie hat uns sogar einen A b schnitt daraus vorgelesen.«
Ich springe auf. »Weil wir sie darum gebeten haben!«
»Miss Doyle, setzen Sie sich sofort wieder hin!«
Ich lasse mich auf meinen Stuhl fallen. Ich kann Felicity nicht ansehen.
»Das sind sehr schwerwiegende Anschuldigungen gegen Miss Moore.« Mrs Nightwing hat die Idee bereits aufge nommen und so für sich zurechtgebogen, dass die Schuld weder uns noch Spence noch sie selbst trifft. Sie braucht einen Sündenbock. Sie will alles glauben außer der Wah r heit –nämlich dass wir imstande waren, all das ganz allein, aus freien Stücken zu tun, und zwar direkt unter ihren A u gen. »Ist das wahr, Miss Bradshaw?«
»Ja«, sagt Ann, diesmal ohne zu stottern.
»Mrs Nightwing«, flehe ich. »Ich allein bin für alles verantwortlich. Sie können mich bestrafen, wie Sie es für ric h tig halten, aber bitte geben Sie nicht Miss Moore die Schuld.«
»Miss Doyle, ich weiß, dass Sie das Herz auf dem rechten Fleck haben, aber es ist nichts dadurch g e wonnen, dass Sie versuchen, Miss Moore zu schü t zen.«
»Ich versuche nicht, sie zu schützen!«
Mrs Nightwing schlägt einen milderen Ton an. »Hat Ihnen Miss Moore aus diesem Buch vorgel e sen?«
»Ja, aber …«
»Und hat sie Sie zu der Höhle geführt?«
»Nur, um uns die Wandmalereien zu zeigen …«
»Hat sie Ihnen Geschichten über das Okkulte erzählt?«
Ich bringe keinen Ton heraus. Ich nicke nur. Ein Sprichwort sagt, dass man Gott im Detail findet. Mit der Wahrheit ist es genau das Gleiche. Greif nur e i nen Punkt heraus und lass a ndere, wesentliche Dinge weg, dann kannst du jemanden vernichten. Mrs Nightwing lehnt sich in ihren ausladenden Ohrense s sel zurück. Er ächzt und stöhnt unter ihrem Gewicht.
»Ich weiß, wie leicht junge Mädchen zu beeindrucken sind. Auch ich war einmal ein junges Mäd chen«, sagt sie, obwohl es mir schwerfällt, dieses hinter ihren jetzigen Ausmaßen zu erkennen. »Ich weiß, wie sehr Mädchen den Wunsch haben zu gefa l len und wie groß der Einfluss einer Lehrkraft sein kann. Ich werde sofort ein ernstes Wort mit Miss Moore reden. Und damit ein solcher Verstoß nicht wieder vorkommt, werde ich dafür sorgen, dass abends alle Türen abgeschlossen werden und die Schlüssel in meiner Obhut bleiben, bis Sie mein Ve r trauen wiedergewonnen haben.«
»Was wird mit Miss Moore geschehen?«, frage ich leise.
»Ich dulde keine leichtfertige Missachtung meiner Autorität durch die Lehrerschaft. Miss Moore wird entlassen.«
O nein, bitte lass das nicht wahr sein. Sie ist entschlossen, unsere geliebte Miss Moore zu feuern. Was haben wir nur getan?
Ein markerschütternder Schrei zerreißt die Stille im Zimmer. Er kommt von unten. Mrs Nightwing springt auf und rast die Treppe hinunter, wir dicht hinter ihr. Brigid steht in der Eingangshalle. Sie hält irgendetwas krampfhaft in ihrer Hand.
»Alle Heiligen, steht mir bei! Sie ist es – sie ist geko m men, mich zu holen.«
Mrs Nightwing packt sie an den Schultern. Brigids Augen s ind wild vor Angst. Sie lässt das Ding in i h rer Hand auf den Boden fallen, als wär ’s eine Schla n ge. Es ist eine Zigeunerpuppe, leicht angesengt, mit einer Haarlocke eng um ihre Kehle geschlungen.
Circe.
»Sie ist zurückgekommen«, wimmert Brigid. »Süßer Jesus, sie ist zurückgekommen!«