37 Kapitel
»Sie müssen mir helfen!«
Völlig aufgelöst, mit wildem Blick stehe ich vor Kartiks Zelt. Er diskutiert nicht mit mir, sagt kein Wort, auch nicht, als ich ihm berichte, was gesch e hen ist. Er lädt Pippa auf seine Schulter und trägt sie den ganzen Weg durch den Wald bis zur Schule. Nur einmal bleibt er stehen, als wir die Schlucht überqu e ren und er das tote Reh erblickt, das wir dort unten zurückgelassen haben. Er hilft uns, Pippa in ihr Zimmer zu bringen, und dann renne ich zur Tür von Mrs Nightwing. Ich klopfe ungestüm und rufe in heller Verzweiflung, die ich nicht unte r drücken kann, ihren Namen.
Unsere Direktorin öffnet die Tür. Ihre Nachtkappe rutscht von ihren langen, ergrauenden Zöpfen.
»Um Himmels willen! Miss Doyle, was machen Sie mitten in der Nacht in Ihren Kleidern? Warum sind Sie nicht im Bett?«
»Es geht um Pippa«, keuche ich. »Sie …« Ich kann nicht zu Ende sprechen, aber es spielt keine Rolle. Mrs Nigh t wing hat den Alarm in meiner Stimme e r fasst. Sie handelt, ohne zu zögern, mit der ihr eig e nen, unerschütterlichen Entschlossen h eit; die ich bis zu diesem Augenblick nie richtig gewürdigt habe.
»Sagen Sie Brigid, sie soll sofort Dr. Thomas rufen.«
Die Lichter brennen die ganze Nacht. Ich sitze am Fenster in der Bibliothek, die Arme um meine Knie geschlu n gen, und mache mich so klein wie möglich. Im Hal b schlaf sehe ich sie. Nass. Hohläugig. Mit einem Hilf e schrei unter die glatte Oberfläche sinkend. Ich bohre meine Fingernägel in meine Handfläche, um wach zu bleiben. Felicity geht an mir vorbei. Sie vermeidet es, mich anzusehen, doch ihr Schweigen spricht für sich.
Du hast sie dort zurückgelassen, Gemma. Allein in diesem nassen Grab.
Eine Laterne wandert über den Rasen. Kartik. Das Licht hüpft und schwankt in seinem metallenen Kä fig. Ich muss mich anstrengen, um ihn zu erkennen. Er trägt eine Scha u fel und ich weiß, er kehrt zur Schlucht zurück, um einem Gebot zu gehorchen und das Reh zu begraben.
Aber ob er es zu seinem eigenen Schutz tut oder zu meinem, bleibt ungewiss.
Lange sitze ich so und beobachte, wie die Nacht dem Morgen weicht, das Purpurrot in Gelb übergeht, das Gelb verblasst . Als die Sonne über die Bäume blinzelt, bin ich bereit, eine letzte Reise anzutreten.
»Nimm das«, sage ich, als ich das Amulett in Felicitys Hand drücke.
»Aber warum?«
»Wenn ich nicht zurückkomme …« Ich setze noch ein mal an. »Falls irgendetwas schiefgeht, musst du die a n deren finden. Sie sollen dich als eine der Ihren erke n nen.«
Sie starrt das silberne Amulett an.
»Es ist deine Entscheidung, ob du mir nachkommst.« Ich mache eine Pause. »Oder ob du das Magische Reich für immer verschließt. Verstehst du?«
»Ja«, flüstert sie. »Versprich, dass du zurückkommst.«
Der Streifen Seide vom Kleid meiner Mutter ist weich in meiner Faust. »Ich werd’s versuchen.«