EPILOG

»Dieses Land ist Ihnen zu höchstem Dank verpflichtet«, sagte der Präsident zum wiederholten Male. »Es steht tief in Ihrer Schuld.«

Drei Tage waren seit dem Ende der Schlacht von Washington vergangen, und dies war das erste Mal seit dieser Zeit, daß Blaine unter vier Augen mit den Präsidenten sprach. Der Oberbefehlshaber hatte darauf bestanden, ins Weiße Haus zurückzukehren, nachdem er nur eine Nacht in Camp David verbracht hatte. Tyson Gashs Polizeibrigade war aus Washington abgezogen worden und hatte die Aufräumarbeiten den zweiundachtzigsten Luftlandetruppen überlassen, die vier Stunden nach dem Beginn der Schlacht eingetroffen waren.

Wenn die Brigade so lange geblieben wäre, bis die Medien nach der Abschaltung von Prometheus wieder arbeiten konnten, hätte man sie als Helden gefeiert. Gash hätte die Bedingungen für seine Rückkehr in den Dienst diktieren können, nachdem man ihn verschmäht hatte. Doch die Männer der Polizeibrigade wurden vor Morgengrauen in den Andrews-Luftwaffenstützpunkt zurückgefahren, wo ihre Transportflugzeuge darauf warteten, die Truppen und ihre Ausrüstung zu ihrer Basis in Arizona zurückzubringen. Die einzigen, die den Transport nicht mitmachten, waren die wenigen Verletzten. Doch alles deutete darauf hin, daß ihr Krankenhausaufenthalt nicht von langer Dauer sein würde.

Die zweiundachtzigste diente außerdem als Rückendeckung für die Delta Force bei der Zurückeroberung von Greenbrier und Site R. Keiner der zeitweise dort Beschäftigten verstand genau, was geschehen war. Es gab zahlreiche Gerüchte, doch nur wenige Tatsachen, so daß die Wahrheit unklar blieb. Nur der Präsident, Charlie Byrne, Angela Taft und Ben Samuelson kannten die ganze Geschichte, und sie hatten nicht die Absicht, sie weiterzuerzählen.

Niemand hatte damit gerechnet, aber am Montag arbeitete die Regierung bereits wieder reibungslos. Da im Innern des Kapitols nur wenig Schaden angerichtet worden war, hielt der Kongreß bereits eine fast normale Sitzung ab, während gleichzeitig draußen die Bautrupps mit den umfangreichen Reparaturarbeiten begannen. Die Repräsentanten des Landes begannen, sich mit erneuerter Energie und Zuversicht zu streiten. In dieser Hinsicht hatte sich die Grundvoraussetzung für den Tag Delphi als falsch erwiesen. Die Regierung war stärker denn je zuvor aus dieser Krise hervorgegangen.

»Es ist noch nicht zu Ende. Es ist noch nicht vorbei«, sagte Blaine zum Präsidenten, während sie durch den Rosengarten spazierten.

»Sie spielen sicherlich auf Dodd an.«

»Was geschieht mit ihm, wenn er von seiner Raumstation zurückkehrt, Mr. Präsident?«

»Was sollte Ihrer Meinung nach geschehen, Mr. McCracken?«

»Ich würde ihn gerne persönlich empfangen, um ihm die Handschellen anzulegen und ihn wegen Hochverrats zu verhaften.«

»Worauf nach meinen Informationen immer noch die Todesstrafe steht.«

»Unter bestimmten Voraussetzungen, ja.«

Der Präsident blieb stehen. »Kann das Land einen solchen Anklageprozeß verkraften, Blaine?«

»Ich denke, das Land würde es nicht verkraften, wenn eine solche Anklage nicht erhoben würde.«

»In dieser Angelegenheit stimme ich nicht mit Ihnen überein, Blaine. Ich frage mich sogar, mit welchem McCracken ich gerade spreche. Mit dem, der die letzten zehn Jahre draußen verbracht hat, oder mit dem, der die letzten paar Wochen drinnen verbracht hat? Ersterer würde für Dodds Verhaftung und den größten Prozeß plädieren, den dieses Land jemals erlebt hat. Letzterer würde erkennen, daß es dieses Land zerreißen könnte, wenn das ganze Ausmaß von Dodds Plänen bekannt würde.«

»Sie machen denselben Fehler wie Dodd, Sir. Sie haben einen zu schwachen Glauben an dieses Land.«

»Vielleicht. Aber ein Prozeß würde Dodd eine Forum für seine Ideen verschaffen, und wenn es seinen Anwälten gelingen sollte, ihn herauszuschlagen, könnte seine Position am Schluß sogar gestärkt werden. Richtig oder falsch?«

»Richtig«, stimmte Blaine zu.

»Und wir müßten uns irgendwann vielleicht noch einmal damit auseinandersetzen, wenn nicht durch Dodd, dann durch jemand anderen. Richtig oder falsch?«

McCrackens Blick war Antwort genug.

Der Präsident sah ihn nachdenklich an. »Nachdem diese Sache vorbei und erledigt ist, möchte ich, daß Sie drinnen bleiben, und die einzige Möglichkeit, wie Sie hierbleiben können, ist, genau in diesen Bahnen zu denken. Es muß eine andere Lösung für das Problem Samuel Jackson Dodd geben.«

Der Spaceshuttle Atlantis drückte sich gegen den Andockring der Raumstation Olympus. Die Insassen spürten einen heftigen Ruck, als die Verriegelung einrastete.

»Andockmanöver abgeschlossen«, gab der Pilot bekannt.

»Treten Sie ein, wenn Sie bereit sind«, begrüßte sie der Kommandant der Station.

Sam Jack Dodd hatte die Annäherung des Spaceshuttles aufmerksam verfolgt und sich gefragt, wer oder was ihn an Bord erwarten würde.

»Mr. Dodd?« rief ihn eine Stimme von der Atlantis über seinen Privatkanal an.

»Das klingt wie die Stimme Blaine McCrackens«, antwortete er. »Ich fühle mich geehrt, daß Sie diese Reise persönlich unternommen haben.«

»Es tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, aber ich spreche von der Erde aus zu ihnen. Ich habe erst einmal genug von Weltraumabenteuern.«

»Natürlich, diese unangenehme Omega-Sache!«

»Wie ich sehe, eilt mein Ruf mir weit voraus.«

»Dann werden Sie mich bei der Landung erwarten, vermute ich.«

»Nein.«

»Dann Ihre Helfer.«

»Ebenfalls nein. Ihre Limousine wird Sie dort erwarten, wie geplant.«

Dodd grinste süffisant. »Unter diesen Umständen nehme ich an, daß Sie ein Geschäft mit mir abschließen wollen, im Namen des …«

»Wieder falsch. Sie scheinen heute einen schlechten Tag zu haben, Mr. Dodd.«

»Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich, Mr. McCracken?«

»Auf der Seite all derer, die bereit sind, sich gegen Menschen wie Sie zu wehren.«

»Menschen wie mich! Ich sollte Sie darauf hinweisen, daß Sie sich problemlos unter meinesgleichen einreihen ließen. Schließlich wollen wir beide doch nur das Beste für unser Land.«

»Ich glaube, ich will wesentlich mehr. Zum Beispiel sicherstellen, daß die Selbstbestimmung erhalten bleibt. Das Land soll seinen Kurs selbst festlegen, Mr. Dodd. Es steht einzelnen Menschen oder Gruppen nicht zu, allen anderen ihre Vorstellungen über die Zukunft aufzudrängen. Ich habe Samstag nacht die Folgen einer solchen Politik erlebt, und ich kenne sie auch von früher. Viele Menschen sind hier völlig sinnlos gestorben, und noch viel mehr wurden verletzt. Und alle haben Angst.«

»Genau das ist es ja! Sie haben nichts verstanden.«

»Und Sie verstehen schon seit langem nichts mehr. Ein Land ist kein Geschäftsunternehmen, keine simple Versorgungseinrichtung. Es ist ein lebendes und atmendes Wesen. Wir wachsen, und wir verändern uns. Wäre der Tag Delphi erfolgreich gewesen, würde es kein Wachstum und keine Veränderung mehr geben. Es würde nur Vorschriften geben, die auf Ihren Diagnosen beruhen und kritiklos befolgt werden müßten. Tut mir leid, Mr. Dodd. Das Land mag im Augenblick durchaus sehr krank sein, aber es kann die Art von Medizin, die Sie ihm verschreiben wollen, nicht brauchen.«

Dodd schob sich zum kleinen Aussichtsfenster hinüber, bevor er antwortete.

»Für einen einfachen Killer können Sie sehr gut reden. Ich freue mich schon darauf, nach der Landung Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Wie ich schon sagte, ich werde nicht dort sein.«

»Sie lassen mich laufen?«

»Das habe ich damit nicht gesagt.«

»Ach, dem Land soll eine peinliche Vorführung erspart werden, stimmt's?« Dodd grinste und faßte neue Hoffnung. »Natürlich, ich hätte eher daran denken sollen.« Erneut hatte die Schwäche der Regierung ihm in die Hände gespielt. »Erwarten Sie nicht, Ihnen zu versprechen, daß ich es nicht wieder versuchen werde«, fügte er trotzig hinzu.

»Erwarten Sie nicht, daß ich Ihnen irgend etwas verspreche!«

»Nein.«

»Wir werden uns irgendwann begegnen, Mr. McCracken.«

»Nein, Mr. Dodd, das glaube ich nicht.«

McCracken besuchte gerade Kristen Kurcell im Krankenhaus, als der Spaceshuttle Atlantis mit Samuel Jackson Dodd an Bord landete und nur von der üblichen Wachtruppe erwartet wurde. Erstaunt, aber dennoch vorsichtig bestieg Dodd seine Limousine und wurde weggebracht. Er wußte, daß McCracken es auf ihn abgesehen hatte, und wollte darauf vorbereitet sein.

Die Kugel, die Kristen in Arlo Cleeses Lieferwagen getroffen hatte, hatte ihr Bein schwer verletzt. Am frühen Sonntag morgen war sie operiert worden, und sie hatte gerade ihre erste Therapiestunde absolviert, als Blaine am Mittwoch nachmittag zu Besuch kam. Die Schmerzen waren grausam gewesen, und die kleinste Bewegung hatte ihr plötzlich große Mühe gemacht.

»Ich habe mir schon immer einen eigenen Trainer gewünscht«, sagte sie zu Blaine. Die Falten, die die Schmerzen während der Therapie in ihr Gesicht gegraben hatten, waren immer noch sichtbar. »Du bist nicht zufällig frei, oder?«

Er setzte sich neben ihr aufs Bett und nahm ihre Hand. »Das kommt auf den Preis an.«

»Immerhin bist du ein Profi. Samstag nacht war doch nur eine Routineübung für dich.«

»Solche Aktionen sind niemals Routine. Manche sind nur einfach etwas schwieriger als andere.«

»Und diese?«

»Rangiert eindeutig unter den drei schwierigsten.« Blaine rutschte näher an Kristen heran und strich ihr übers Haar. »Aber vielleicht wird die nächste noch eine Weile auf sich warten lassen, zumindest so lange, bis ich dir geholfen habe, dein Bein wieder in Ordnung zu bringen.«

»Das Geld wird ein Problem sein. Ich bin im Augenblick arbeitslos, falls du das vergessen hast.«

»Ich habe jetzt gute Freunde in Washington. Ich will mal sehen, was ich für dich tun kann.«

»Stelle ich mir komisch vor.«

»Freunde zu haben?«

»Zumindest in Washington. Hast du vor, hierzubleiben?«

»Kommt drauf an wie man mich behandelt«, sagte Blaine zu ihr. »Ich war hier schon mal Gast. Die Gesellschaft hat mir nicht gepaßt. Und die Company auch nicht.«

»Die Zeiten ändern sich.«

»Eigentlich nicht. Aber Menschen ändern sich, und vielleicht hat sich der Kreis wieder einmal geschlossen. Es kommt nicht darauf an, mit wem man auf die Tanzparty geht, Kris, sondern mit wem man anschließend nach Hause geht.«

Sie sah auf ihr bandagiertes Bein hinab. »Ich werde in nächster Zeit auf keine Tanzparty gehen können.«

»Dann müssen wir uns für die Zwischenzeit eine andere Freizeitbeschäftigung suchen.«

Er zog ihren Kopf zu sich heran und küßte sie.

»Suchst du etwas, Indianer?«

McCracken blieb einen Meter hinter Johnny Wareagle stehen, der eine der schwarzen Gedenktafeln am Mahnmal für die Vietnamveteranen studierte.

»Die fehlenden Namen der Männer, die mit uns gedient haben«, sagte Johnny, ohne sich umzudrehen. Eine Schlinge, die er schon gar nicht mehr benutzte, hing von seiner verletzten rechten Schulter. »Ich stand hier und habe mir vorgestellt, daß ihre Namen zusammen mit den anderen eingraviert wären, Blainey.« Schließlich drehte er sich ein Stück um. »Die Vorstellung hat mir gefallen.«

»Auch du hast noch einige Gefälligkeiten zu erwarten, Indianer.«

Wareagle sah wieder auf das Mahnmal. »Werde ich damit erreichen können, daß sie die Namen hinzufügen, Blainey?«

»Vielleicht. Die Leute hier in der Hauptstadt sind zur Zeit gerade in recht großmütiger Stimmung. Seit Samstag nacht sehen sie verschiedene Dinge etwas anders.«

Die Atomsprengköpfe, die Wareagle vor Traggeos Zugriff geschützt hatte, befanden sich immer noch unter schwerer Bewachung in der verlassenen Mine in Colorado. Es gab keine Möglichkeit, die grünen Container zu bergen, die das Pfadfinderfähnlein zusammen mit ihm ausgeladen hatte, bis ein erneuter Frühlingseinbruch den Schnee abtauen ließ und den Bergpaß für Transportlaster sicher machte. Vielleicht morgen oder übermorgen.

Wareagle sah McCracken skeptisch an. »Blicken diese Leute durch deine Augen, Blainey, oder blickst du durch ihre?« Er verstummte und trat einen Schritt vom Mahnmal zurück. »Vor Jahren haben wir uns gleichzeitig, aber unabhängig voneinander von ihnen getrennt, weil wir zu der Überzeugung gelangten, daß wir Außenseiter sind. Aber wir haben uns getäuscht, weil wir zu nahe am Mittelpunkt standen, um unsere wahre Stellung zu denen zu erkennen, die uns verachteten. Sie waren die eigentlichen Außenseiter. Doch das erkennen sie nicht, weil sich aus ihrer Perspektive gesehen alles um sie dreht.«

»Die Schlacht von Washington könnte ihre Perspektive erweitert haben.«

»Nur für kurze Zeit, Blainey. Nutze sie, solange sie anhält.«

»Das habe ich vor, Indianer.«

Es begann mit einem Kurssturz um neunzehn Punkte an einem einzigen Tag an der Wall Street, der durch Gerüchte über eine bevorstehende Ermittlung von Betrugsversuchen bei Regierungsverträgen ausgelöst wurde. Das Finanzamt gab eine Stellungnahme heraus. Das Justizministerium hatte ein Großes Geschworenengericht einberufen. Innerhalb von nur achtundvierzig Stunden befanden sich die Dodd Industries und ihre vielen Unterabteilungen am Rand des Bankrotts, als Panikverkäufe die Märkte auf der ganzen Welt erschütterten.

An den Docks des Landes weigerten sich die Hafenarbeiter, irgendeinen Dodd-Frachter zu be- oder entladen. Das internationale Frachtgeschäft der Dodd Industries stockte, als ihre Jets keine Starterlaubnis für Flüge nach Sydney, Tokio oder London mehr erhielten. Ein Streik legte die Industrie- und Produktionsanlagen der Firmengruppe lahm. Gleichzeitig erschienen auf den Titelseiten aller wichtigen Zeitungen des Landes lange Listen mit den Bestechungsgeldern, die Sam Jack Dodd gezahlt hatte, um sein Imperium ausbauen zu können. Anklage war erhoben worden.

Das war nur der Anfang. Und das Ende.

Samuel Jackson Dodd würde niemals wegen Hochverrats vor Gericht kommen. Die sorgfältig dosierten Gerüchte über seine Beteiligung an der geplanten Zerstörung Washingtons genügten bereits, auch wenn die Wahrheit über seine Vergangenheit nicht plötzlich ans Licht gekommen wäre.

Mit Genehmigung und Unterstützung des Weißen Hauses hatte Blaine McCracken seinen Plan in die Wege geleitet, indem er stille Besuche bei verschiedenen Angehörigen der richtigen Gewerkschaften, Börsenhändler und Regierungsbehörden machte. Niemand erfuhr die ganze Wahrheit, aber alle wußten anschließend genug, um Samuel Jackson Dodd auf jeden Fall das Handwerk legen zu wollen. Dodd würde vielleicht dem Gefängnis entgehen, aber nicht dem Skandal, der seine gewaltige Macht zerstören und für immer verhindern würde, daß der Tag Delphi erneut anbrach.