Dreißigstes Kapitel

Clive Barnstable, ein Angehöriger des Südafrikanischen Innenministeriums, erwartete McCracken im internationalen Terminal des Flughafens Jan Smuts und führte ihn von der Schlange, die sich vor der Paß- und Zollkontrolle gebildet hatte, zu einem Diplomateneingang.

»Ich wünschte, meine Instruktionen hätten es mir ermöglicht, Verstärkung anzufordern«, beschwerte er sich.

»Das waren meine Instruktionen«, erwiderte Blaine. »Ich will nicht mehr Aufmerksamkeit als absolut notwendig auf meine Ankunft lenken.«

Barnstable, ein gertenschlanker Mann, der einen beigefarbenen, von Schweißflecken verunstalteten Leinenanzug trug, wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn ab. »Wie Sie wünschen.«

Die Linienmaschine aus Washington war am Donnerstag kurz vor Anbruch der Morgendämmerung gelandet. Der Flug hatte siebzehn Stunden gedauert, und gemeinsam mit der Zeitverschiebung von fünf Stunden hatte McCracken im Prinzip einen kompletten Tag verloren, der ihm nun eventuell fehlen würde. Sein Gesuch, von einem Experten über Travis Dreyer und die AWB abgeholt und assistiert zu werden, war über die entsprechenden Kanäle weitergeleitet worden, wenngleich man dabei alles vermieden hatte, was zu einem Stirnrunzeln der falschen Stellen führen würde.

»Draußen wartet ein Wagen«, sagte Barnstable.

»Wir nehmen ein Taxi.«

»Der Wagen steht im Halteverbot.«

»Dann muß er Diplomaten-Nummernschilder haben.«

Barnstables Schultern sackten hinab, als er McCrackens Gedanken nachvollzog. »Sie haben natürlich recht«, lautete seine Antwort.

»Was ist mit den Informationen, die ich angefordert habe?« fragte Blaine Barnstable, als sie sich dem Abfertigungsschalter im Diplomatenbereich näherten.

Barnstables dürres Gestell hüpfte auf und ab. »Die warten an einem sicheren Ort auf Sie.« Sein Tonfall wurde barsch. »Hoffentlich ist die Sache wirklich so wichtig. Man legt sich nicht einfach so mit Whiteland an.«

»Whiteland?«

»Das ist der Name, den Dreyer dem Privatstaat im östlichen Transvaal gegeben hat, den die AWB gebildet hat.«

»Wissen Sie was? Suchen wir uns ein Taxi, und Sie können mich unterwegs ins Licht setzen.«

Der Präsident nahm die Nachrichten, die Samuelson ihm um sechs Uhr am Donnerstagmorgen brachte, eher frustriert als wütend hin. Er hatte die Nacht über erneut kein Auge zugemacht und auf die Bestätigung gewartet, daß die gleichzeitige Festnahme der bekannten Mitglieder Delphis erfolgreich abgeschlossen worden war. Als der diensthabende Offizier ihn informiert hatte, daß Samuelson eingetroffen war, wußte er, daß etwas schiefgegangen war.

Der Präsident hatte seinen Bademantel so nachlässig übergestreift, daß man einen Großteil seiner nackten Brust sehen konnte. Während der FBI-Direktor Bericht erstattete, schritt er am Erkerfenster seines Büros auf und ab.

»Wie viele haben wir geschnappt, Ben?« fragte er mit seltsam ruhiger Stimme, bevor Samuelson enden konnte.

»Vier von fünfzehn, Sir. Damit bleiben elf übrig.«

Der Präsident blieb stehen. »Ich kann auch rechnen, Ben. Ich bin auch ganz gut darin, etwas zusammenzusetzen, und spontan würde ich sagen, daß die vier, die wir erwischt haben, Delphi zur selben Zeit wie Bill Carlisle verlassen haben.«

»Ihre ersten Aussagen lassen darauf schließen, Sir.«

»Und was ist mit den anderen?«

»Keiner meiner Leute kann genau sagen, wieso sie uns durch die Lappen gingen. Keine zwei Fälle scheinen gleich zu sein. Anscheinend sind sie einfach verschwunden.«

»Also eine koordinierte Aktion.«

»Genau, wie die Festnahme eine gewesen wäre.«

»Also müssen sie gewußt haben, daß wir kommen.«

Der FBI-Chef stand ganz starr da. »Sir, ich weiß, daß die Verantwortung sowohl für das Scheitern der Aktion als auch für das offensichtliche Leck bei mir liegt, denn nur meine Leute waren involviert. Ich kann nur sagen, daß ich bei dieser Operation alle erdenklichen Eventualitäten in Betracht gezogen habe. Noch eine halbe Stunde vor Beginn der Operation hat kein einziger meiner Einsatzleiter gewußt, worum es sich handelte. In einigen Fällen war ihnen sogar nicht einmal der Einsatzort bekannt. Ja, es ist vorstellbar, daß ein paar der elf Wind von der Sache bekommen haben oder gewarnt worden sind. Aber alle elf? Nein, das können sie nicht von meinen Leuten erfahren haben.«

»Wollen Sie damit andeuten, daß einer aus unserem Inneren Zirkel der Informant ist?«

»Nicht unbedingt, Sir. Wir wissen, daß der Countdown bereits läuft. Es ist vorstellbar, daß der Rückzug der Delphi-Mitglieder bereits geplant war und sie uns nur durch einen glücklichen Zufall entkommen sind.«

»Und wenn nicht, Ben?«

Samuelson zögerte, bevor er antwortete, und wich dabei dem Blick des Präsidenten aus. »Dann müssen wir davon ausgehen, daß Delphi bereits über die Aktion informiert war, bevor meine Leute den Marschbefehl bekamen.«

»Und wenn dies der Fall ist, wissen Sie auch, daß wir Ihren Zeitplan mittlerweile kennen.«

»Ja, Sir, aller Wahrscheinlichkeit nach.«

»Dann bleibt ihnen vielleicht keine andere Möglichkeit mehr, als die Dinge zu beschleunigen und nicht mehr bis zum nächsten Dienstagabend zu warten.«

Der FBI-Chef sagte nichts.

»Na schön, Ben, unter diesen Umständen können wir auf weitere Täuschungsmanöver verzichten. Ich will, daß diese Männer gefunden werden. Und wenn wir sie nicht finden können, will ich, daß sie von allen Möglichkeiten abgeschnitten werden.« Der Präsident hielt gerade lange genug inne, um seine Gedanken zu sammeln. »Das bedeutet, wir frieren nicht nur ihre persönlichen, sondern auch ihre Geschäftskonten ein. Und ich will, daß die Telefonleitungen aller beteiligten Regierungsmitglieder angezapft werden.«

»Soll ich mir dafür einen Gerichtsbeschluß besorgen?«

»Eine Anordnung des Präsidenten müßte genügen.«

»Natürlich«, sagte Samuelson, zögerte dann aber. »Sir?«

»Ja, Ben?«

»Haben Sie in Erwägung gezogen, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Stellen Sie diese Arschlöcher als das bloß, was sie sind, bevor sie ihren Plan in die Wirklichkeit umsetzen können.«

»Ich habe diese und hundert andere Möglichkeiten in Betracht gezogen. Doch selbst im günstigsten Fall – einmal vorausgesetzt, daß das Volk mir glaubt – wird es zu einer Panik kommen. Dieses Vorgehen könnte des weiteren dazu führen, daß Delphi in Verzweiflung gerät und seine Atomwaffen einsetzt. Das ist sein Trumpf, Ben, die große Unbekannte in dieser Gleichung.«

Der Präsident fügte allerdings nicht hinzu, daß die beiden Männer, für die McCracken sich verbürgt hatte, derzeit auf der Suche nach diesem Atomwaffenarsenal waren. Außerdem war er McCrackens Ratschlag gefolgt und hatte nicht einmal die Mitglieder seines Inneren Zirkels darüber informiert, daß Blaine ebenfalls unterwegs war; er hatte noch nicht einmal die internationalen Repräsentanten Delphis erwähnt. Es sei vorstellbar, so hatte McCracken ihn gewarnt, daß die Reichweite des Feindes sich sogar bis zu diesem Zirkel erstreckte, und nun hatte es den Anschein, als wären diese Befürchtungen nicht unbegründet gewesen.

Auf jeden Fall war jeder Vorteil, den McCracken ihm kurzfristig verschafft hatte, mittlerweile wieder verspielt, und mit ihm auch jedes Vertrauen. Unter diesen Umständen konnte der Präsident sich nur auf einen ehemaligen Agenten, der sich derzeit in Südafrika aufhielt und bis zum gestrigen Tag als Ausgestoßener gegolten hatte, und zwei von dessen Freunden verlassen. Nun blieb ihm nur noch eine Möglichkeit.

Der Präsident würde General Cantrell befehlen, morgen früh den Plan Evac, also die Evakuierung, in Kraft zu setzen. Wenn sich im Verlauf der nächsten vierundzwanzig Stunden nichts änderte, würde er die Regierung an einen sicheren Ort bringen lassen.

Hinaus aus Washington.

Barnstable brachte McCracken in das verschwenderische Carlton Hotel im Carlton-Center von Johannesburg, in dem Blaine den Rest des Morgens damit verbrachte, sich mit der Karte von Whiteland vertraut zu machen. Ein Laptop und mehrere zusammengerollte Landkarten erwarteten sie, als sie den Raum betraten.

»Wofür ist der Computer gedacht?« fragte Blaine.

»Fast alles, was wir über Dreyer, die AWB und Whiteland wissen, ist im Großrechner des Innenministeriums gespeichert. Ich hätte zu viele Dateien kopieren müssen, also habe ich diesen Laptop mitgebracht, damit Sie sich in das System einschalten können.«

McCracken breitete die Karten auf dem Bett aus, während Barnstable das Modem aktivierte und die Verbindung mit den Datenbänken des Innenministeriums herstellte. Whiteland war so groß, daß acht Karten nötig waren, um das gesamte Gebiet abzudecken. Barnstable zufolge hatte die AWB vor drei Jahren ihren Anspruch auf die etwa zwanzigtausend Morgen Land kundgetan, um damit praktisch eine eigene Nation zu etablieren. Die südafrikanische Regierung hatte die Geste ignoriert, zum Teil, um die Konfrontation zu vermeiden, die Dreyer suchte, zum Teil in der Hoffnung, daß das Problem sich einfach von allein lösen würde. Das war natürlich nicht der Fall; ganz im Gegenteil, es verschlimmerte sich, je deutlicher die Regierung de Klerk ihre Bereitschaft andeutete, die weiße Herrschaft zu beenden. Es ließ sich absehen, daß bald die ersten freien Wahlen stattfinden und eine aus mehreren Rassen bestehende Übergangsregierung antreten würde. Dementsprechend kochten die Emotionen immer stärker über, während die Extreme sich immer weiter außerhalb der Mitte polarisierten. Das hatte zu einem dramatischen Zulauf für die AWB geführt. Barnstable zufolge wurden fast täglich neue Rekruten aufgenommen, und in Whiteland wurde wie verrückt gebaut, um die neuen Mitglieder auch unterbringen zu können.

Dieser Trend wurde von den einen Monat alten Plänen bestätigt, die Barnstable organisiert hatte. Mit wenigen Ausnahmen unterschied Whiteland sich kaum von anderen Städten oder Siedlungen. Einige Gebiete waren noch nicht mit fließendem Wasser und Innentoiletten ausgestattet und muteten etwas provinzieller an. Allem Anschein nach hatte Dreyer Schwierigkeiten, mit dem Bedarf an neuen Häusern Schritt zu halten.

Das Stadtzentrum von Whiteland war genau das, ein Viertel sich schneidender Straßen in der Mitte des Territoriums, das die AWB einfach für sich beansprucht hatte. Nur ein kleiner Teil davon befand sich im Besitz der Familie Dreyer. Der Rest war Staatsgebiet gewesen, bis Travis Dreyer seinen dreisten Schachzug durchgeführt und die Regierung herausgefordert hatte, ihn doch daran zu hindern. Anscheinend war die Parzelle von fünf Morgen Land im südöstlichen Teil von Whiteland, die rechtmäßig der Familie Dreyer gehörte, zum Kommandozentrum der AWB umgebaut worden. Blaine richtete seine Aufmerksamkeit auf die Karte, auf der dieser Komplex abgebildet war.

Der hintere Teil des Kommandozentrums grenzte an den Wald, der den gesamten Besitz umschloß. Es verfügte über drei oberirdische und vier unterirdische Stockwerke; die letzteren bestanden im Prinzip aus Betonbunkern, die von der Außenwelt völlig abgeschottet werden konnten. Ein drei Meter hoher elektrischer Zaun schloß praktisch jede Möglichkeit aus, von hinten unbemerkt auf das Gelände einzudringen. Weitere Absperrungen oder andere ausgeklügelte Sicherheitsmaßnahmen waren nicht vorhanden, und Blaine hatte auch mit keinen gerechnet. Denn was für einen Eindruck würden die Bewohner von Whiteland bekommen, wenn ihre Hauptstadt wie eine Festung oder ein Gefängnis aussah? Trotzdem vermutete Blaine, daß regelmäßig Wachen um den Komplex patrouillieren würden.

»Was ist mit diesen offenen Linien hier?« fragte Blaine und deutete auf eine Ecke des Lageplans.

»Luftschächte für die Klimaanlage«, erklärte Barnstable und beugte sich über Blaines Schulter. »Zu dem Zeitpunkt, da wir den Plan bekommen haben, waren die Geräte selbst noch nicht installiert.«

»Ich nehme an, Sie haben sie von einem Verbindungsmann in Whiteland bekommen.«

»Ja.«

»Und er befindet sich noch vor Ort?«

Barnstable runzelte die Stirn. »Derjenige, der uns diese Pläne zuspielte, ist spurlos verschwunden. Der Verbindungsmann, den wir zuvor eingeschleust hatten, hat bei einem Unfall eine Hand verloren. Wir haben noch ein paar auf dem Gelände, setzen sie aber nicht mehr großartig ein. Es wäre doch sinnlos, sie in Gefahr zu bringen, solange wir nicht aufgrund der Informationen, die sie uns beschaffen, gegen Whiteland vorgehen wollen.«

»Würden sie mir zur Verfügung stehen?«

»Ihnen! Einige habe Familie und wollen so schnell wie möglich da raus. Ich glaube nicht, daß sie einem Mann helfen werden, der solche Absichten wie Sie hegt.« Barnstable hielt inne und beugte sich über den Tisch. »Absichten, bei denen Witwen und Waisen zurückbleiben.«

»Sobald ich also in Whiteland bin, bin ich auf mich allein gestellt.«

»Falls Sie hineinkommen, meinen Sie.«

»Das dürfte nicht allzu schwierig sein, Barnstable. Sie haben gesagt, dort würden jeden Tag neue Rekruten eintreffen. Ich melde mich einfach freiwillig.«

McCracken studierte weiterhin die Lagepläne und die relevanten Geheimdienst-Informationen, während Barnstable ins Innenministerium fuhr, um die falschen Papiere zu besorgen, die Blaine benötigen würde, um sich Zutritt zu Whiteland zu verschaffen. Am späten Mittag kehrte er ins Hotel zurück.

»Ich habe Ihnen einen Background verschafft, der Dreyer sehr gefallen wird«, sagte er und nahm einen Jiffyumschlag aus seiner Aktentasche. »Ein arbeitsloser frustrierter Ehemann und Vater.« Er gab Blaine den Umschlag und zog den Hemdsärmel hoch, um auf die Uhr zu sehen. »Darin befinden sich alle Ausweise, die Sie benötigen, um aufgenommen zu werden. In vierzig Minuten fährt ein Bus nach Whiteland ab.«

»Und ich muß nur einsteigen?«

»Whiteland pflegt eine Politik der offenen Tür. Das einzige Problem liegt darin, daß es keinen Kontakt zur Außenwelt mehr gibt, sobald Sie den Komplex betreten haben. Solche Kontakte sind nicht nur streng verboten; es gibt auch keine Telefone und keine Postzustellung. Alle Lieferwagen werden auf einem dafür bestimmten Platz am Stadtrand entladen, und ihr Inhalt wird von ausgewähltem Personal verteilt.«

»Er macht mir die Sache nicht einfach, nicht wahr?«

Barnstable zuckte grimmig mit den Achseln. »Selbst wenn Sie finden sollten, was Sie suchen, wird es verdammt schwierig sein, das Gelände wieder zu verlassen. Und ich bin nicht befugt, Ihnen in dieser Hinsicht zu helfen.«

»Darüber werde ich mir den Kopf zerbrechen, wenn es soweit ist.«

Der Treffpunkt für die neuen Rekruten der AWB war der große Flohmarkt von Johannesburg, der in der Nähe eines alten Lagerhauses abgehalten wurde, das zum Market Theater umgebaut worden war. Der Bus wartete bereits, als Barnstable Blaine einen Häuserblock entfernt aussteigen ließ, und fünfzehn Sitzplätze waren bereits mit Männern besetzt, die sich aus den verschiedensten Landesteilen hier eingefunden hatten. Männer, die ihren Haß und ihre Hoffnungslosigkeit offen auf den Gesichtern zur Schau trugen. Die jemanden brauchten, den sie für ihre schlechte Situation verantwortlich machen konnten, die zurückschlagen wollten.

Der Bus fuhr im Punkt ein Uhr los, und McCracken verbrachte die fast vierstündige Fahrt zur neuesten Township Südafrikas in der vierten Reihe von hinten. Whiteland lag auf halber Strecke zwischen Johannesburg und dem Krüger-Nationalpark, und auf dem letzten Stück des Weges konnte er gelegentlich Blicke auf den Olifants River werfen. Der Bus bog fünfzehn Kilometer hinter Marble Hall von der Autobahn ab und fuhr über eine holprige, unbefestigte Schotterstraße weiter. Sie passierten einige Wachtposten und Schilder, die unwillkommene Besucher eindringlich zur Umkehr aufforderten. Drei Kilometer später fuhr der Bus durch ein befestigtes Tor und hielt dann vor drei schlichten weiße Gebäuden.

Blaine fühlte sich augenblicklich an das Ausbildungslager erinnert, in das er eingezogen worden war, nachdem er sich 1968 freiwillig zur Army gemeldet hatte. Männer in den üblichen Khaki-Uniformen und staubüberzogenen braunen Stiefeln der AWB begrüßten die aussteigenden Passagiere mit Handschlag. Drei berittene Soldaten hielten Wache. Die Männer des Begrüßungskomitees lächelten, die Berittenen sahen stur geradeaus. Aber ihre Augen waren alle gleich, schroff und unversöhnlich. Blaine kannte solche Augen nur allzu gut. Es waren die von Männern, die von Haß und Intoleranz lebten. Und er wußte genausogut, daß sich die Niederlage in den Blicken derjenigen, die ihn im Bus hierher begleitet hatte, bald ebenfalls in Haß verwandeln würde.

Ein kahlköpfiger Mann mit einem gewaltigen Schnurrbart, der sich als Colonel Smeed vorstellte, hielt eine kurze Rede, nach der die Neuankömmlinge dann zu einer ersten Befragung abkommandiert wurden. Blaine wurde dem Colonel selbst zugeteilt. Als er an die Reihe kam und an einem Tisch in einem der drei Gebäude Platz nahm, sagte er die genau einstudierten biographischen Daten der Identität auf, die Barnstable und das Innenministerium für ihn geschaffen hatten. Der Colonel nahm alles nüchtern zu Kenntnis und trug die Daten in einige Formulare ein.

Nachdem alle Gespräche beendet waren, mußten die neuen Rekruten draußen Aufstellung nehmen. Als ein Jeep herangefahren kam, salutierten Smeed, und die anderen AWB-Soldaten und schlugen die Haken zusammen. Blaine machte einen Mann aus, den er als Travis Dreyer erkannte; er stand in dem Jeep und hielt sich am Rahmen der Windschutzscheibe fest. Der Jeep rollte aus, und Dreyer sprang hinab. Seine blankgeputzten schwarzen Stiefel knirschen auf dem Schotter, als er steifbeinig näher kam, die Arme mechanisch an den Seiten schwingend und die Brust übertrieben herausgestreckt. Er war glattrasiert und hatte ganz kurz geschnittenes, blondes Haar. Seine Augen leuchteten in einem kristallinen Blau.

In dem üblichen Sam Browne-Halfter der AWB steckte eine Neun-Millimeter-Browning mit Elfenbeingriff. Die Waffe hing viel zu tief und schlug gegen sein Bein, als er die Reihe seiner Soldaten abschritt, die noch immer Haltung angenommen hatten.

»Steht bequem«, sagte er und ging weiter.

Nun wandte er sich den neuen Rekruten zu und musterte einen jeden mit strengem Blick. Blaine befürchtete schon, er würde zu lange vor ihm stehen, doch Dreyer schenkte ihm nicht mehr Beachtung als den anderen. Der Mann bedachte die Gruppe mit einem letzten Nicken, ging zu dem Jeep zurück und nahm wieder seinen Platz hinter der Windschutzscheibe ein.

Der Jeep fuhr davon, und Colonel Smeed befahl den sechzehn neuen Rekruten, ihn wieder an Bord des Busses zu begleiten, der langsam durch Whiteland fuhr, während der Colonel seine Antrittsrede fortsetzen. Blaine prägte sich die Örtlichkeiten ein und stellte sie in einen Zusammenhang mit den Details, an die er sich von seinem sorgfältigen Studium der Pläne am heutigen Vormittag erinnerte. Die Karten und Informationen, die er über den Computer bekommen hatte, ließen Whiteland keine Gerechtigkeit angedeihen. Hier wurde überall gebaut, und eine ganze Reihe von Arbeitern schuftete unermüdlich an den einfachen Fertighäusern, die aus dem Boden gestampft wurden. Rasenflächen und Gärten wurden angelegt, überall blühten Blumen.

Während der Bus durch Whiteland kroch, stellte Blaine fest, daß die Schule schon mit einem Flügel erweitert worden war und ein zweiter sich derzeit in Bau befand. Kinder spielten in Khaki-Shorts und -Hemden Fußball. Frauen schleppten sich an Segeltuchtaschen mit Lebensmitteln ab. Ein paar Leute fuhren mit Fahrrädern über die frisch gepflasterten Straßen.

Im Geschäftsbezirk wurde McCracken klar, daß Barnstables Informationen bereits überholt waren; er zählte mindestens drei Läden, die weder in den Geheimdienstberichten erwähnt wurden noch auf den Plänen abgebildet waren. Hätte er nicht genau gewußt, wo er hier war, hätte er vermutet, es handele sich um irgendeine Kleinstadt auf dem Lande. Die einzigen Geräusche, die diese Illusion zunichte machten, waren die der schweren Baumaschinen, die versuchten, mit den Anforderungen nach neuen Häusern und anderen Gebäuden Schritt zu halten.

Einige Leute auf der Straße lächelten und winkten. Die Gesten wirkten einladend, aber die Gesichter der Menschen waren verschlossen.

Blaine konzentrierte sich so stark darauf, sich die Örtlichkeiten einzuprägen, daß er die Ausführungen des Colonels kaum beachtete. Bevor er es richtig mitbekam, hielt der Bus schon vor einem Drahtzaun, der den Exerzierplatz von Whiteland umgab. Die Ausbildungsmethoden, die Blaine beobachten konnte, waren weder besonders einfallsreich noch beeindruckend. Männer wurden in kleinen Gruppen im Nahkampf unterwiesen. Eine andere Gruppe marschierte im Gleichschritt. Eine dritte arbeitete mit Gewehren, denen Bajonette aufgesetzt waren.

Die Puppen, die sie aufspießten, waren schwarz bemalt.

McCracken lauschte geistesabwesend den Prahlereien des Colonels über die strengen Sicherheitsvorkehrungen, die hier in Whiteland getroffen worden waren. Er betonte die Tatsache, daß jeder Mann und jede Frau, die hier aufgenommen wurde, bereit sein mußte, seine oder ihre Prinzipien unter allen Umständen zu verteidigen. Sie befänden sich mitten in einem Krieg, erklärte der Colonel, und sie stellten das letzte Bollwerk und die letzte Hoffnung der Nation dar – und der weißen Rasse.

Blaine hörte das Donnern von Gewehrschüssen und das Klicken, mit dem die Waffen neu geladen wurden. Die Ziele verstreuten weiße Baumwolle und Stroh in die Luft, doch die Treffer schienen kaum im Verhältnis zu der Zahl der abgegebenen Schüsse zu stehen. Er stellte sich vor, daß sich überall auf der Welt ähnliche Szenen abspielten. Der Haß wurde sanktioniert und unter einem Schleier der Legitimität mit Waffen ausgerüstet. Wenn nichts dagegen unternommen würde, würde der Plan der Delphi überall Gewalt und Intoleranz erzeugen und es den Repräsentanten der Organisation dadurch ermöglichen, die Herrschaft an sich zu reißen.

Aber man konnte den Tag Delphi noch aufhalten. Hier.

Und heute.