Achtes Kapitel

»Ich sehe keine Aktenmappen in der Nähe, Hank«, sagte McCracken zu der Gestalt, die auf den Stufen des Lincoln-Denkmals saß.

»Und du wirst auch keine sehen«, gab Belgrade zurück und hielt eine Hand schützend vor die Augen, um nicht von der Sonne geblendet zu werden. »Setz dich, MacSack. Ich gebe dir drei Minuten.«

»Klingt seltsam.«

»Zwei Minuten und fünfundfünfzig Sekunden. Ich weiß nicht, in welche Sache du in der letzten Nacht geraten bist, aber Washington spielt heute morgen völlig verrückt. Langley, um es genauer zu sagen.«

Blaine hatte Sal Belamo von einem Zimmer im Hotel Jefferson angerufen, nachdem er in der Nacht zuvor aus dem Rock Creek Park geflohen war. Er hatte den Raum verlassen, nachdem er den Anruf getätigt hatte, und sich in einem anderen Hotel in Crystal City in Alexandria ein Zimmer genommen.

»Mannomann«, kommentierte Belamo, nachdem McCracken ihm alles erzählt hatte. »Sieht so aus, als müßte ich die morgige Episode von ›Wenn die Kacke am Dampfen ist‹ auslassen.«

»Finde heraus, was Operation Gelbe Rose und Prometheus bedeuten, und ich werde dir einen Fernseher mit Großbildschirm spendieren. Sorge dafür, daß Johnny Wareagle hier auftaucht«, fügte Blaine hinzu, auf den großen Indianer bezogen, den er in solchen Situationen um seine Unterstützung bat, »und ich lege noch eine Stereoanlage drauf.«

Das kam gewöhnlich nicht vor, aber heute morgen hatten sich alle Anstrengungen Belamos als sinnlos erwiesen. Er konnte keine Erwähnung von Operation Gelbe Rose oder Prometheus in irgendeiner Datenbank finden, ob sie nun allgemein zugänglich war oder nicht. Und Johnny Wareagle war nirgends aufzutreiben.

»Das ist nicht alles«, hatte Sal grimmig ergänzt. »Die Polizei hat keine Spur von den fünf Typen gefunden, die du aus dem Weg geräumt hast. Das kann nur bedeuten, daß jemand gekommen ist und sie geholt hat, Boß, und sie müssen das sehr schnell erledigt haben.« Das beste, was Sal für Blaine tun konnte, war es schließlich, ein Treffen mit jemandem zu vereinbaren, der vielleicht die fehlenden Antworten hatte: Hank Belgrade.

Hank war ein großer, kräftiger Mann, der wie nur ganz wenige in Washington ein Gehalt bezog, ohne eine klar definierte Beschäftigung zu haben. Sowohl das Innen- als auch das Verteidigungsministerium führten ihn in ihren Mitarbeiterlisten, doch tatsächlich arbeitete er für keins von beiden. Statt dessen fungierte er als Verbindung zwischen den beiden und kümmerte sich um ihre schmutzige Wäsche. Er hatte Zugang zu Datenbanken, von denen nur wenige in Washington überhaupt wußten, daß sie existierten.

»Clifton Jardine wurde ermordet«, nahm Belgrade das Gespräch schließlich wieder auf.

McCracken setzte sich neben ihm auf die Stufen ganz links vom Denkmal. Die Nachricht überraschte ihn nicht. Ein Mann wie Daniels hätte niemals eine Büroklammer bestellt, ohne sich das genehmigen zu lassen. Es paßte, daß er den Direktor mit in die Sache eingeweiht hatte. Wenn Daniels wegen seines Wissens umgebracht wurde, war es durchaus wahrscheinlich, daß Jardine das gleiche Schicksal ereilte.

»Läuft meine Uhr noch, Hank?«

»Das hängt davon ab, ob der Grund für dieses Treffen mit Jardines Tod zu tun hat.«

»Willst du das wirklich wissen?«

»Habe ich das vielleicht aufgebracht, MacSack?«

»Schön. Wie du willst. Jardine war nicht der einzige Mann aus Langley, der gestern nacht umgebracht wurde. Wenn du wieder in deinem Büro bist, sieh mal nach, ob etwas über Tom Daniels hereingekommen ist.«

»Warst du zu dieser Zeit in der Gegend?«

»Eigentlich eher, nachdem es passiert ist.«

»Das heißt?«

»Daniels hatte noch Zeit, mit mir zu reden. Jemand greift nach dem ganzen Land. Jemand will es übernehmen.«

Belgrade starrte Blaine an. »Wir reden davon, daß es hier einen Regierungsumsturz geben soll?«

»Daniels sagte mir, ich hätte zehn Tage, um es aufzuhalten. Mehr konnte er nicht mehr ausführen, bevor er starb.«

»Zehn Tage …«

»Jetzt sind es vielleicht nur noch neun. Ich habe die fünf Männer umgebracht, die Daniels getötet haben. Aber mach dir nicht die Mühe, das zu überprüfen, denn die Spuren sind verwischt worden.«

Belgrades Hand strich nervös über sein Doppelkinn. »Großer Gott, das erklärt es.«

»Erklärt was?«

»Es war Daniels, der dir gegenüber die Operation Gelbe Rose erwähnt hat, nicht wahr?«

»Sie und Prometheus.«

»Nun, ich habe gar nichts über Prometheus und fast nichts über Gelbe Rose herausfinden können.«

»Fast nichts?«

»Die Daten sind gelöscht worden, MacSack.«

»So, daß du nichts mehr davon herausbekommen kannst?«

»Du hättest mich gestern anrufen sollen.«

»Was meinst du damit?«

»Daß die Löschung heute morgen um zwei Uhr dreißig vorgenommen wurde. Klingelt da etwas?«

»Die Morde an Jardine und Daniels …«

Belgrade nickte. »Jemand muß befürchtet haben, daß du oder jemand anders danach suchen wird.«

Blaine sah ihn an. »Und du wärest nicht hier, wenn sie nicht etwas übersehen hätten.«

»Ich habe ein paar Nachforschungen betrieben. Dazu mußte ich mich anmelden, was bedeutet, daß mein Zugangscode aufgezeichnet wurde. Und das wiederum heißt, daß derjenige, der die Daten verschwinden ließ, auch herausfinden kann, daß ich danach gesucht habe. Unter den gegebenen Umständen macht mich das nicht sehr glücklich.«

»Sag mir, was du herausgefunden hast, bevor meine Zeit abläuft.«

»Zwei merkwürdige Hinweise, MacSack. Zuerst einmal der Ausdruck ›Delphi‹. Sagt dir das etwas?«

»Nein.«

»Geht mir genauso. Auch die Datenbanken gaben nichts her, als ich danach gesucht habe.«

»Und der zweite Hinweis?«

»Ein Name: H. William Carlisle.«

»Nie gehört von ihm.«

Belgrade rückte ein wenig näher. »Jemals von der Trilateralen Kommission gehört?«

»Sie war der absolute Traum von Verschwörungstheoretikern, nicht wahr?«

»Und ist es bis heute geblieben«, verriet ihm Belgrade. »Die Gründung der Kommission geht in die frühen siebziger Jahre zurück. Ihr erklärtes Ziel war es, eine dauerhafte Partnerschaft zwischen den herrschenden Klassen der Vereinigten Staaten, Westeuropas und Japans zu fördern – daher der Begriff ›trilateral‹.«

»Die Welt sicherer zu machen für westliche Geschäftsinteressen, nicht wahr?«

»Das wollten sie ganz groß angehen.«

Belgrade gab eine gedrängte Zusammenfassung von der Geschichte der Trilat, beginnend mit ihrer Begründung im Jahr 1973 durch David Rockefeller und Zbigniew Brzezinski. Eine Reihe von nationalen und internationalen Schocksituationen in den späten Sechzigern und frühen Siebzigern, die ihren Höhepunkt im arabischen Ölembargo und Nixons neuer Wirtschaftspolitik fanden, ließen die westliche Geschäftswelt um ihr Überleben, zumindest um ihre Vorherrschaft fürchten. Die Trilaterale Kommission wurde zum Mittel, mit dem die internationale Elite zurückschlug. Die multinationalen Firmen, die durch ihre Mitglieder repräsentiert wurden, glaubten, daß sie durch die Anwendung sorgfältig entwickelter Grundsätze die Weltpolitik kontrollieren oder zumindest beeinflussen konnten. Diese Mitglieder sahen sich eher als Hüter denn als Manipulatoren, doch der Unterschied war in Theorie und Praxis nur ein semantischer. Für Männer wie George Ball, Henry Kissinger und Jimmy Carter bestand die ideale Antwort darin, eine gemeinsame Behandlung der weltwirtschaftlichen Angelegenheiten anzustreben. So dünn war die Linie zwischen Politik und Wirtschaft geworden, daß ihre Ziele durch einen breit angelegten, globalen, korporativen Kapitalismus in Reichweite kommen konnten. Das wichtigste dieser Ziele bestand darin, sich vor künftigen internationalen Ereignissen zu schützen, die der Gemeinschaft zu schaden vermochten. Unilateral war keines der internationalen Beine der Trilat mächtig genug, um dies bewerkstelligen zu können. Doch wenn sie sich zusammenschlossen, hatten sie ein unbegrenztes Potential.

»Sie haben es aber doch nie umgesetzt«, unterbrach ihn Blaine.

»He«, widersprach Belgrade, »sie versuchen es noch immer. Du findest die Kommission im Telefonbuch in Manhattan, wenn du sie anrufen und nachfragen willst, wie die Dinge so stehen.«

»Organisationen, die die Welt beherrschen wollen, haben meist Geheimnummern.«

»Nur, wenn sie ihre Methoden zu verbergen versuchen.«

»Was uns zur Operation Gelbe Rose zurückbringt.«

»Und zu H. William Carlisle …«

»Zweifellos ein wichtiger Mann der Trilateralen Kommission.«

Belgrade nickte leicht. »Und zuvor das junge Genie der Wall Street, auch Billy the Kid genannt, der in die Politik gewechselt und noch vor seinem dreißigsten Geburtstag zum Königsmacher geworden war. Er war die treibende Kraft hinter den beiden Amtsperioden von Eisenhower und hielt Nixons knappe Niederlage im Jahre 1960 für seinen einzigen Fehlschlag. Er hat es wiedergutgemacht, aber er hat sich von Nixon abgewandt, als dieser 1971 die Wirtschaft neu erfinden wollte. Er wurde schließlich eins der Gründungsmitglieder der Trilat. 1978 verschwand er plötzlich. Ging eines Morgens aus dem Haus und kam nie wieder. Es wurde ernsthaft ein Selbstmord vermutet oder sogar ein Gewaltverbrechen.«

»Und die Operation Gelbe Rose?«

»Wie ich schon sagte, MacSack, ich habe nur die Querverweise auf Carlisle und Delphi, was immer das bedeutet. Keine Daten, kein Hintergrund, nichts weiter.«

»Sieht nicht so aus, daß ich unter diesen Umständen viel von ihm erfahren kann«, erwiderte McCracken.

Belgrade beugte sich etwas näher zu ihm und sagte leise: »Carlisle lebt noch, MacSack. Er hat nicht einmal die Stadt verlassen; er ist nur umgezogen. Auf die Straße.«

»Er ist ein Penner geworden?«

»Er ist ausgestiegen. Ich habe Überwachungsberichte gesehen, die ab 1978 datieren, aber 1990 aufhören. Sie müssen sich irgendwann gesagt haben, warum das Geld verschwenden, und damit aufgehört haben. Aber wenn er noch immer lebt, ist er irgendwo da draußen. Das Problem liegt nur darin, ihn zu finden.«

McCracken war bereits aufgestanden. »Ich glaube, ich habe eine gute Idee, wo ich beginnen könnte.«

Der Lafayette-Park verläuft vor dem Weißen Haus auf der Seite der Pennsylvania Avenue und ist deswegen oft eine Anlaufstelle für Demonstranten. An diesem Tag drängte sich in dem Park eine verhältnismäßig ruhige Menge von Protestierenden, die sich darauf beschränkten, ihre hastig beschrifteten Schilder dem Weißen Haus zu präsentieren. DODD stand auf fast allen Schildern, viele von ihnen hatten FOR PRESIDENT hinzugefügt, und einige JETZT. Die Botschaft konnte der Präsident jedesmal sehen, wenn er aus dem Fenster schaute.

McCracken trat hinter die Demonstranten, die durch die ausschließliche Hingabe, mit der sie ihr Anliegen verfolgten, fast gespenstisch wirkten. Sie schienen völlig emotionslos einer Verpflichtung nachzukommen. Ein paar Umstehende sahen zu, machten Schnappschüsse aus der Nähe oder sahen sich alles von einem Sitzplatz am Springbrunnen des Parks aus an. Einige der Obdachlosen Washingtons vertrödelten währenddessen den Tag an einer von ihnen geschätzten schattigen Stelle auf ausgebreiteten Decken, die Tüten, in denen ihr gesamter Besitz verstaut war, niemals außerhalb der Reichweite einer ausgestreckten Hand.

Die zahlreichen Bänke waren überwiegend unbesetzt. Auf einer Bank in der Sonne saß ein Mann, der seine Arme bequem nach beiden Seiten ausgestreckt und die Beine übereinandergeschlagen hatte. Er trug einen schwarzen Mantel, der an vielen Stellen ausgebessert sowie an Schultern und Ellbogen reichlich verschlissen war. Seine weißen Haare und der Bart waren dicht und ungekämmt. Ein paar Stofftragetaschen lagen unter der Bank, bewacht von seinen Füßen, die sich nie weit von ihnen entfernten. Während Blaine zusah, begann sich der Mann die langen Strähnen seines Barts zu zwirbeln. McCracken zog das Bild von H. William Carlisle heraus, das Hank Belgrade ihm besorgt hatte, und verglich das Gesicht mit dem des Mannes. Die Ähnlichkeit war nur gering, aber wie konnte es nach so vielen Jahren auch anders sein?

Blaine näherte sich von der Seite, um ihn nicht zu verschrecken. Der Mann sah nicht in seine Richtung, nicht einmal, als sich McCracken am anderen Ende der Bank niederließ. Doch Blaine bemerkte, wie er seine Beine ein wenig enger um seine gebündelte Habe schloß.

»Schöne Aussicht, Mr. Carlisle?« sagte McCracken aufs Geratewohl. »Auf das Weiße Haus, meine ich.«

»Meine Bank«, kam die krächzende Antwort. Seine Stimme verriet die schweren Jahre, die er hinter sich hatte.

»Sie kommen jeden Tag hierher?«

»Und niemand belästigt mich.« Er hatte sich noch immer nicht in Blaines Richtung gewandt. »Hast du gehört, Süßer. Nun geh wieder nach Hause. Husch-husch.«

McCracken rutschte ein wenig näher. Eine Kruste von Schmutz und Ruß überzog den Mann. Der Geruch war umwerfend. Blaine richtete seinen Blick auf das Weiße Haus.

»Sie sind nicht weit von zu Hause entfernt, nicht wahr?«

»Es gehört dem Volk, oder etwa nicht?«

»So heißt es. Manchmal glauben einige, daß es ihnen mehr gehört als anderen.«

»Und haben sie damit recht?« schnappte der Mann.

»Schätze, das kommt darauf an. Oder vielleicht auch nicht.«

Ein Paar rotgeränderter, träger Augen musterte Blaine zum erstenmal. »Sie haben verdammt recht, es gehört nicht dem Volk. Sondern denen, die clever genug sind, es sich zu nehmen.«

»Erklären Sie das denen da«, sagte McCracken, der auf die stoischen Anhänger von Samuel Jackson Dodd starrte.

Die Augen betrachteten ihn jetzt noch genauer. »Wer, zum Teufel, sind Sie?«

»Mein Name ist McCracken.«

»Haben Sie Grund zur Annahme, daß Sie mich kennen?«

Blaine zögerte nicht. »Operation Gelbe Rose.«

McCracken musterte den lumpenumhüllten Mann, der neben ihm saß, und erst jetzt war er sich tatsächlich sicher, daß es sich um H. William Carlisle handelte, um den wahrhaftigen Billy the Kid. Die aufgesprungenen und rissigen Lippen zuckten. Seine Augen verengten sich zu mißtrauischen Schlitzen.

»Fahren Sie zur Hölle«, sagte er kraftlos.

»Dort sind Sie nun schon seit fast zwanzig Jahren, Mr. Carlisle.«

Carlisle grinste. »Ich habe die Hölle verlassen, Mr. Unbekannt.«

»Warum erzählen Sie mir nicht davon?«

»Warum wollen Sie es hören?«

Blaines Blick wies über die Pennsylvania Avenue auf das Weiße Haus. »Sehen Sie es sich noch einmal genau an, Mr. Carlisle, weil es wahrscheinlich bald einen unangekündigten Mieterwechsel geben wird.«

»Was sagen Sie da?«

»Jemand hat die Operation Gelbe Rose ausgegraben. Wenn ich mich nicht sehr täusche, hat es mit einer Verschwörung zu tun, die den Umsturz der Regierung zum Ziel hat.«

Furcht verdunkelte Carlisles schmutziges Gesicht. Er drehte sich plötzlich zu Blaine um und griff nach seinem Revers. Blaine ließ ihn gewähren und vermied es wegen des stechenden Geruchs so lange wie möglich, Atem zu holen.

»Wer sind Sie? Was sind Sie?«

»Erzählen Sie mir von der Gelben Rose.«

Carlisle ließ Blaines Jacke los und rutschte zurück. Er sprach wie aus weiter Entfernung, die Augen vor sich auf den Boden gerichtet. »Es begann so großartig. Was wir Trilateralisten in der Welt und für die Welt erreichen wollten.«

»Und natürlich für sich selbst.«

Carlisle schwang zu McCracken zurück. »Das ist dasselbe, verdammt. Wir haben angeboten, für Stabilität und Beständigkeit zu sorgen. Für einen angemessenen Preis.«

»Was für einen Preis?«

Nur die Andeutung eines Lächelns huschte über das Gesicht des alten Mannes. Sein Blick schwenkte in Richtung auf das Weiße Haus. »Demokratie ist eine wunderbare Sache. Aber es ist größtenteils nur eine Illusion, der gleiche Mist wie fast alles andere auch. Die einzige regierbare Demokratie ist eine begrenzte Demokratie. Gebt dem Volk genug davon, damit sie glauben, alles zu haben, was es will. Aber in den Siebzigern waren nicht alle bereit, diesen Preis zu bezahlen. Wir wurden angegriffen.«

»Wir.«

»Trilateralisten, die Elite, die Oberklasse – nennen Sie uns, wie Sie wollen. Militante Proteste schlugen uns von allen Seiten entgegen, gefährdeten unsere Versuche, für Stabilität zu sorgen, bedrohten das Fundament, das zu errichten wir bemüht waren. Frauen, Indianer, die Armen, Umweltschützer, die Militanten – besonders die Militanten. Rivalen! Egal, wohin wir sahen. Es mußte etwas getan werden. Wir mußten das Haus der Nation in Ordnung bringen. Ich wurde ausgewählt, um einen Unterausschuß der Trilat zu bilden.«

»Zweifellos, um diese Rivalen zu beseitigen.«

»Um das Land vor sich selbst zu retten, vor der Anarchie, du Idiot! Unsere Feinde, die Feinde des Landes, wurden isoliert. Die Operation Gelbe Rose hätte die Nation ihrer Bedrohung entzogen.« Carlisles Lippen bebten. »Gott im Himmel … Gott im Himmel!« Er rutschte wieder auf Blaine zu, griff jedoch nicht mehr nach ihm. »Was Sie vorher über den Umsturz der Regierung gesagt haben, wir haben davon gewußt! Wir wußten es, gottverdammt, aber wir haben nichts dagegen unternommen! Der Feind tauchte unter, um sich auf seine Zeit vorzubereiten, um stark genug zu werden für seine Erhebung. Wir hätten verhindern können, was jetzt geschehen wird, aber die anderen waren zu schwach.«

»Welche anderen?«

»Die Mehrzahl der Trilateralisten, die nicht den Mut aufbrachten, wirklich nach der Macht zu greifen. Sie vergruben sich in Theorien, Postulaten und Positionspapieren, waren aber nicht bereit, den Preis zu bezahlen, den es gekostet hätte, die Empfehlungen in den Papieren auszuführen. Zum Teufel, Carter war ein Trilateralist, Bush ebenfalls. Doch nicht einmal sie wollten zuhören. Zum Teufel, sie wollten einfach nicht zuhören. Und jetzt, jetzt …!«

Carlisles gelbe Augen wandten sich den Demonstranten zu. »Sehen Sie sich das an. Der Feind ist noch immer da. Ich komme jeden Tag hierher und sehe ihnen zu. Ich weiß heute nicht einmal mehr, was für Gruppen das sind. Aber es wird immer schlimmer, es eskaliert. Die Leute sind wütend, sie sind bereit, alles zu akzeptieren, was ihnen eine Veränderung verspricht.« Seine Augen waren jetzt wieder auf Blaine gerichtet, und ihr Ausdruck war eher traurig als wütend. »Und wir hätten es verhindern können. Wir hatten sie alle ausgewählt. Wir hätten die Wurzeln der Unzufriedenheit herausreißen können, so daß es niemals so weit hätte kommen können.«

»Darum sind Sie gegangen, haben Sie sich zurückgezogen.«

»Ich habe mich von den Trilateralisten und dem Rest der Welt abgewandt.«

»Und was ist mit den Delphi?«

Carlisles Augen loderten bei Blaines plötzlicher Erwähnung des Wortes auf, dann schien es langsam in sein Bewußtsein einzudringen. Seine Lippen zitterten.

»Wer sind sie, Mr. Carlisle?«

Der alte Mann streckte plötzlich wieder die Hand aus und griff nach McCrackens Revers. Doch diesmal war es keine Wut, die ihn zu dieser Bewegung veranlaßte, sondern Verzweiflung.

»Halten Sie sie auf«, drängte er ihn flehentlich. »Sie müssen sie aufhalten.«

»Ich habe nur zehn Tage. Nicht genug Zeit, um es allein zu schaffen.« Blaine senkte die Stimme. »Ich brauche Ihre Hilfe, Mr. Carlisle.«

Carlisle wich wieder zurück und steckte eine zitternde Hand in die Westentasche von dem, was von seinem dreiteiligen Anzug übriggeblieben war. Sie tauchte mit einem Schlüssel wieder auf, den er Blaine in die Hand drückte.

»Der Bushahnhof von Greyhound und Trailways«, sagte Carlisle leise, die Augen auf den Schlüssel gerichtet.

McCracken konnte den Überzug aus Rost über der einst glatten Metallfläche spüren. »Ein Schließfach?«

»Ein Grab.«

McCracken öffnete das Schließfach nicht sofort. Er schlenderte eine Stunde in dem Busbahnhof herum, von dem aus Busse in andere Städte abfuhren, bevor er sich dem Fach überhaupt näherte. Er beobachtete alle, die im Wartebereich mit Sicht auf die Schließfächer saßen. Er suchte nach jemandem, der nur wenig auf die Anzeigetafeln achtete, auf denen die Ankunfts- und Abfahrtszeiten sichtbar wurden. Nachdem die Stunde vergangen war, war er überzeugt, daß niemand den Bahnhof überwachte. Was für Geheimnisse das Schließfach 33 auch immer barg, sie waren bis jetzt geheim geblieben.

Er war noch immer auf der Hut, als er den Schlüssel in das Schloß einführte. Es klemmte, und er achtete darauf, daß er den Schlüssel nicht verbog. Endlich ließ er sich nach rechts drehen, und Blaine riß die Schließfachtür auf.

Zuerst sah er im Inneren Stapel von Geldscheinen, teilweise noch von Banderolen zusammengehalten, andere nur zusammengerollt oder gefaltet. Es waren überwiegend große Scheine, viele von ihnen sahen neu aus, waren offenbar Teil von zur Seite gelegtem Geld, mit dem William Carlisle nicht mehr viel anfangen konnte.

Eine alte Aktentasche aus Leder war teilweise von den verstreuten Geldscheinen verborgen. Das Leder war im Schließfach ausgetrocknet und rissig geworden. Ein Reißverschluß war so weit offen, daß etwas vom Inhalt nach außen drängte.

Schlaufen, die Schlaufen von Jiffyumschlägen.

Blaine versuchte, die Aktentasche so unauffällig wie möglich aus dem Schließfach zu nehmen. Der Griff war auf der einen Seite abgerissen, daher nahm er sie unter den Arm. Er schob das Schließfach zu und verschloß es wieder. Dann ging er zurück in die warme Luft eines sonnigen Nachmittags.

McCracken hatte in einem nahegelegenen Parkhaus einen geeigneten Stellplatz für den Wagen gefunden, den Sal Belamo ihm besorgt hatte. Hier in der Dunkelheit, nur durchbrochen von gedämpfter Helligkeit aus dem Oberlicht, machte er die Aktentasche ganz auf und nahm einen großen Teil des Inhalts heraus.

Die ersten fünf Jiffytüten, die Blaine öffnete, enthielten umfangreiche Personenakten einschließlich Fotos. Drei von den Namen sagten ihm etwas. Zwei sagten ihm nichts. Alle fünf hatten eines gemeinsam:

Oben auf der ersten Seite war jeweils ein Aufkleber mit einer gelben Rose angebracht.

Eine der Personen war ein College-Lehrer. Dann kam ein Gewerkschaftsführer. Zwei weitere waren Anführer der Antikriegsbewegung, die den Protestmarsch zum Parteitag der Demokraten im Jahr 1968 organisiert hatten. Der fünfte war ein Indianerführer, der 1972 den Protest am Wounded Knee angeführt hatte.

Sie alle waren Kämpfer der linksgerichteten Protestbewegungen und erklärte Feinde der Trilateralen Kommission gewesen.

In diesem Zusammenhang ergaben die Akten einen klaren Sinn. Die großen Pläne der Trilateralen Kommission sahen keinen Spielraum für zivilen Ungehorsam vor. Die Proteste gegen den Vietnamkrieg hatten klar aufgezeigt, wie die Regierungspolitik durch linksgerichtete Militanz ins Wanken gebracht werden konnte. Carlisle und die anderen Trilateralisten hatten ihre Lektion daraus gelernt, und sie wollten eine Präventivstrategie in Form der Operation Gelbe Rose durchführen: die Aktivisten und Anführer aus der Szene entfernen, bevor sie die Möglichkeit bekamen, die Pläne der Kommission zu beeinträchtigen.

Blaine rieb sich die Lider und sah die weiteren Personenakten durch. Irgendwo dazwischen mußte das sein, was Daniels gesucht hatte. Hier mochte die Identität jener verborgen sein, die hinter dem kommenden Versuch steckten, die Regierung zu stürzen.

Etwas in der jetzt vor ihm liegenden Akte zog seine Blicke magisch auf sich. »Ich will verdammt sein«, sagte er laut. »Gottverdammt!«