Zehntes Kapitel

»Das ist eine Quittung für einen Camcorder, den mein Bruder drei Tage vor seinem Verschwinden gekauft hat«, erklärte Kristen und gab sie Farlowe.

»Sie glauben, er hat vielleicht gefilmt, was er gesehen hat und Ihnen unbedingt erzählen wollte?«

Sie nickte. »Und vielleicht hat er die Kassette irgendwo versteckt. Vielleicht hat Big Jimbo sie noch.«

Farlowe lächelte schwach. »Ich glaub' nicht, daß er die unter diesen Umständen seiner Videosammlung zugefügt hat.«

»Hätten Sie ihn wirklich erschossen?« fragte Kristen ihn.

»Big Jimbo riskiert immer 'ne große Lippe, kleine Lady, aber er hätte mich wohl nicht dazu gezwungen.«

»Aber hätten Sie ihn erschossen?«

»Mein Großonkel mütterlicherseits hätt's getan, das kann ich Ihnen versichern. War ein Mann namens Wyatt Earp.«

Kristen sah Farlowe überrascht an. »Wyatt Earp war Ihr Großonkel?«

»Es war zwar keine enge Beziehung, aber meine Mama hat mir immer gesagt, ich hätte dasselbe Blut wie er in den Adern. Sie hat mir diesen Peacemaker gegeben, als ich sechzehn war, und mir gesagt, Wyatt hätte schon mal damit geschossen. So im nachhinein glaub' ich, das hat mich dazu bewogen, Gesetzeshüter zu werden. Bin während der letzten guten Jahre dort im Panhandle aufgewachsen. Hab' meine Lehrjahre als Texas Ranger verbracht. Mann, ich könnte Ihnen ein paar Geschichten erzählen … Später vielleicht. Jetzt fahren wir erst mal dahin, wo Ihr Bruder diese Kamera, die er gekauft hat, auch benutzt hat. Zumindest bin ich mir ziemlich sicher, daß es dort gewesen sein muß.«

Kristen sah sich während der Fahrt den Inhalt des Handschuhfachs ihres Bruders genauer an. Abgesehen von der Quittung schien es nur das Übliche zu enthalten: die Zulassung, die Versicherungskarte und ein paar Durchschläge von Kreditkartenbelegen, die ihr vielleicht herauszufinden helfen würden, welche Strecke er durch das Land genommen hatte. Vielleicht war das, was zu dem verzweifelten Anruf vom Donnerstag abend geführt hatte, gar nicht in der Nähe von Grand Mesa geschehen. Vielleicht war es mehrere hundert Kilometer entfernt passiert, und erst, als er sich Grand Mesa näherte, war David klargeworden, daß er sich in Gefahr befand. Sollte dies der Fall sein, würden sich diese Belege vielleicht noch als sehr nützlich erweisen.

Sie hörte, wie Farlowe »Hmm!« machte, und sah von den Durchschlägen auf. Vor ihnen wirbelten große Wolken kreidiger, brauner Erde in der Luft und nahmen ihnen jede Sicht, als wären sie in einen Schneesturm geraten.

»In dieser Gegend nennen wir das eine Verdunkelung«, erklärte der Sheriff. »Es ist wie bei den Schneestürmen in anderen Gegenden. Gibt jede Menge Theorien darüber, was sie verursacht und wieso sie hauptsächlich im Frühling auftreten. Ich kann sie riechen, bevor sie auftreten. Aber sie kommen und gehen ziemlich schnell.«

Farlowe nahm die Geschwindigkeit zurück. Das reduzierte Motorgeräusch ermöglichte es dem trommelnden Wind, sich nun deutlich Gehör zu verschaffen. Der Pritschenwagen erzitterte unter seinem Druck. Kristen fühlte sich an einen Nordostwind in Neuengland erinnert, der keinen Schnee oder Regen, sondern Erde aufwirbelte. Gut fünf Minuten später war es vorbei. Der Himmel klarte so schnell auf, wie er sich verdüstert hatte. Farlowe gab wieder Gas, aber der Allradantrieb tat sich ein wenig schwer, als müsse er erst die Staubschichten loswerden, die sich auf den Wagen gelegt hatten. Kurz darauf hielt Farlowe an, griff hinter sich und holte eine Spraydose Glasrein und einen Lappen hervor.

Nachdem er die Fenster gesäubert hatte, setzten sie ihren Weg über die Old Canyon Road fort. Farlowe fuhr die nächsten fünfzehn oder zwanzig Kilometer so langsam, daß er auf alles achten konnte, was ihm ungewöhnlich erschien. Plötzlich fuhr er an den Straßenrand und stieg aus, ließ den Motor aber laufen. Kristen folgte ihm auf die Straße und beobachtete, wie der Sheriff vorsichtig niederkniete. Noch immer in der Luft treibender Staub bildete einen Film auf seinen Brillengläsern und sprenkelte seinen Bart und das Haar. Nach ein paar Sekunden erhob er sich wieder mit knackenden Gelenken und ging ein Stück weiter, nur um dann erneut niederzuknien.

Als er zum drittenmal stehenblieb, ging Kristen ebenfalls in die Hocke. »Was ist los?«

»Reifenspuren. Lastwagen, ziemlich große. Sieht so aus, als hätte vor nicht allzu langer Zeit ein ganzer Konvoi plötzlich hier gehalten.«

Kristen sah sich um. »Aber hier in der Gegend gibt es doch nichts.«

»Vielleicht hat etwas den vordersten Laster zum Anhalten gezwungen. Ein Tier, das über die Straße lief. Hat eine Kettenreaktion ausgelöst. Hier sind jedenfalls mehrere Lastwagen hergefahren. Da die Old Canyon Road eigentlich nirgendwo hinführt, kann ich Ihnen auch nicht sagen, wohin sie wollten.«

Sie folgte Farlowe zurück zum Pritschenwagen. Er fuhr noch langsamer weiter und suchte nach weiteren Spuren, die der Konvoi hinterlassen haben konnte. Die Minuten und Kilometer verstrichen in Stille. Nachdem Farlowe die verlassene Basis der Air-Force passiert hatte, die er erwähnt hatte, wurde er noch langsamer, hielt dann an und stieg aus.

»Komisch. Bis hierher sind die Laster nicht gekommen«, erklärte er, nachdem er die Straße genau untersucht hatte. »Ihre Spur endet bei der Basis.«

Kristen sah zu dem kettenverhangenen Tor von Miravo hinüber. »Aber sie ist doch verlassen. Was hatten sie da zu suchen?«

»Warum gehen wir nicht mal rein und sehen nach?«

»Dürfen Sie das denn?« fragte Kristen, während Farlowe den Peacemaker auf das Schloß richtete, das die Kette an Ort und Stelle hielt.

»Ich bin das Gesetz, kleine Lady. Ich darf alles, was mein kleines Herz begehrt. Und jetzt halten Sie sich die Ohren zu.«

Sie tat wie geheißen, hörte den Widerhall aber trotzdem. Das Schloß zersplitterte. Farlowe zog die Kette hinab und das Tor auf.

Vor ihnen strahlte die Air-Force-Basis Miravo die ganze Unheimlichkeit einer Geisterstadt aus. Die Fenster zahlreicher Gebäude waren mit Brettern zugenagelt worden. Hinter den Gebäuden und Hangars sammelte sich auf den Start- und Landebahnen und Asphaltstraßen Staub. Früher hatten Tausende von Menschen in dieser SAC-Basis gearbeitet und gewohnt, doch jetzt war hier niemand mehr. Um die stählernen Hangars und Hütten pfiff der Wind. Das Sonnenlicht schimmerte schwach auf den verrosteten Wänden.

Duncan Farlowe überprüfte den weichen Boden hinter dem Tor, wühlte mit dem Stiefel Erde auf und trat sie dann wieder glatt. Er ging steifbeinig umher; das Niederknien war ihm offensichtlich zu mühselig geworden.

»Die Lastwagen sind hier reingefahren«, sagte er zu Kristen. »Und zwar viel mehr als nur der Konvoi, dessen Spuren wir auf der Straße gesehen haben.« Er bückte sich schwerfällig. »Sie sind durch das Tor gefahren, und dann …« Er hielt inne, um den Boden genauer zu untersuchen, und hob dann die Hand. »Da lang.«

Farlowe deutete auf die Start- und Landebahn, die sich hinter der letzten Häuserreihe befand. Er ging mit Kristen hinüber und inspizierte den Belag, zeigte sich aber nicht besonders zufrieden.

»Auf so festem Beton bleiben nicht so viele Spuren zurück wie auf der guten alten Straße, über die wir gekommen sind«, sagte er und fuhr mit dem Fuß durch die Staubschicht, die sich darauf gesammelt hatte. »Hier könnten ein paar Flugzeuge gelandet sein. Vielleicht aber auch nicht.« Der Sheriff drehte sich plötzlich zu Kristen um. »Sie sagen, der Anruf sei in der Nacht gekommen?«

»Eigentlich war es schon früher Morgen. Gegen drei Uhr Ihrer Zeit.«

»Das hier ist interessant.« Er ging zum Rand der Landebahn, folgte der Linie der Lampen und blieb vor jeder stehen. »Die Glühbirnen sind noch da. Ist doch komisch, daß man eine Militärbasis aufgibt und die Glühbirnen zurückläßt …«

»Vielleicht haben sie sie einfach vergessen.«

»Sie haben mich nicht ausreden lassen, kleine Lady. Auf den Birnen liegt kaum Staub, und ihre Glühfäden sind noch so gut wie neu. Ich würde sagen, man hat sie erst irgendwann im letzten Monat eingeschraubt.«

»Lastwagen und Flugzeuge«, murmelte Kristen. »Dann hat man vielleicht irgend etwas von hier weggeflogen!«

»Oder hereingeflogen. Man hat es auf die Lastwagen geladen, oder von ihnen abgeladen. So oder so, ich vermute, Ihr Bruder ist vielleicht nahe genug herangekommen, um zu sehen, was hier vor sich ging.«

Farlowe drehte sich um und sah zu den Hügeln hinüber, die die dichtstehenden Gebäude hinter der Landebahn fast verbargen.

»Aber wenn er da oben in den Hügeln war, hat er nichts sehen können. Die Lastwagen, ja, aber nicht die Flugzeuge. Das heißt, er muß heruntergekommen sein und die Basis betreten haben. Vielleicht hat er mit seiner brandneuen Kamera gefilmt, was hier verfrachtet wurde.«

»Aber wir wissen nicht, ob er überhaupt hier war«, erinnerte Kristen ihn. Plötzlich fürchtete sie sich davor, was es zu bedeuten haben mochte, falls David wirklich hier gewesen war. »Ohne die Kassette können wir nichts beweisen.«

»Vielleicht brauchen wir gar keine Kassette, um es zu beweisen, kleine Lady.«

»Ihr Bruder war etwa in dem Alter, in dem ich war, als ich bei den Rangers anfing«, fuhr Farlowe fort, als sie über die Old Canyon Road zum Fluß der Hügel gingen, in denen man früher Silber abgebaut hatte. »Ich hätte damals meinen Jeep außer Sichtweite geparkt, aber so nah, daß ich ihn schnell erreichen kann. Damit ich einen schnellen Abgang machen könnte, wenn es sein müßte. Aber jetzt mache ich gar nichts mehr schnell. Na ja, Onkel Wyatts alten Peacemaker kann ich noch einigermaßen schnell ziehen. So etwas verlernt man nicht so schnell.«

Sie stapften die Hügel entlang und suchten alle Wege ab, die breit genug waren, um einem Jeep Wrangler Platz zu bieten. Jedesmal, wenn Farlowe eine Stelle entdeckte, die ihm interessant erschien, blieb er stehen und trat den Boden auf. Ein paarmal bückte er sich und fuhr mit der Hand darüber, doch meistens ließ er die Hände in den Taschen stecken.

»Hier«, sagte er plötzlich und deutete mit dem Finger zum Boden, noch bevor er die Stelle genau untersucht hatte. »Genau hier stand der Jeep Ihres Bruders oder zumindest einer, der ihm verdammt ähnlich war.« Er ging in die Hocke und zeigte Kristen, was er entdeckt hatte. »Tiefliegende Reifenspuren. Und hier, diese Spuren, dahin hat Ihr Bruder seinen Arsch geschafft.« Er hob den Finger und deutete auf die Old Canyon Road. »Da entlang.«

»Nach Grand Mesa.«

Farlowe nickte und nahm eine Handvoll Erde auf. »Sehen Sie das hier? Paßt zu der Erde, die ich im Reifenprofil seines Jeeps gefunden habe.«

»Er ist bis zum Hotel in der Stadt gekommen und hat mich von dort aus angerufen.«

»Scheint so gewesen zu sein«, bestätigte Farlowe ernst.

»Er wollte mir sagen, was er in der Basis gesehen hat.«

»Ja«, sagte Farlowe, während er schon einen gewundenen Pfad hinunterstieg, der zwischen zwei Hügeln hindurchführte.

Oben verbreiterte sich die Spalte zu einer Furche, von der aus man einen deutlichen Blick auf die Air-Force-Basis Miravo hatte. Wie Farlowe vermutet hatte, verbargen die Gebäude die Sicht auf die Landebahn. Kristen beobachtete, wie der alte Sheriff den Boden mit den Blicken und dann mit den Händen absuchte.

»Nichts weist darauf hin, daß Ihr Bruder hier oben gehockt hat«, sagte er, »aber das ist ein ideales Versteck. Ich gehe jede Wette ein, er war hier. Jetzt wissen wir aber noch immer nicht …«

Kristen sah, wie der Ausdruck auf Farlowes mürrischem Gesicht sich veränderte, als wäre ein Schatten darauf gefallen. Mit einer fließenden Bewegung, die sogar einem jungen Mann schwergefallen wäre, hatte er den Peacemaker aus dem Halfter gerissen und zwei Schüsse abgegeben, die ganz nah an Kristen vorbeipfiffen. Sie hörte einen Aufschrei, drehte sich um und sah einen Mann, der ein Gewehr fallen ließ und sich an den Bauch faßte. Im nächsten Augenblick warf Farlowe sich auf sie. Der Aufprall riß beide zu Boden.

Krach!

Eine Kugel riß einen Splitter aus dem Hügel, genau dort, wo gerade noch Kristens Brust gewesen war. Es folgte eine Reihe gedämpfter Echos, und Erde und Staub regneten auf sie hinab.

»Ja«, murmelte Farlowe, den Peacemaker noch in der Hand, »allerdings, das ist die Stelle.«

Weitere Schüsse erklangen rechts und links von ihnen, und dann wieder welche von vorn, von dort, wo der Mann gestanden hatte, den der Sheriff erschossen hatte.

»Ich würde sagen, sie haben uns umzingelt, kleine Lady«, sagte Farlowe, nachdem Kristen sich im Schutz einer kleinen Erhebung neben ihm aufgesetzt hatte.

Er hielt den Peacemaker an seine Brust. »Und ich habe nur noch drei Schuß Munition. Der Rest ist im Wagen, neben meinem Funkgerät.«

Kristen stellte fest, daß sie nicht nur eine wahnsinnige Angst, sondern auch eine tiefe Trauer verspürte. Die Tatsache, daß diese Männer ihnen mit der Absicht aufgelauert hatten, sie zu töten, verhieß für Davids Schicksal nichts Gutes. Bislang hatte sie sich an die Hoffnung geklammert, daß er seine Nase einfach in eine Sache gesteckt hatte, die ihn nichts anging, und nun irgendwo gefangengehalten wurde oder auch auf der Flucht war. Doch nun war ihr klar, daß diejenigen, die hinter der Sache steckten, der David auf die Spur gekommen war, vor nichts zurückschreckten, um ihr Geheimnis zu schützen. Wenn sie versuchten, sie und Farlowe zu töten, dann …

Der Sheriff ersparte ihr die Mühe, den Gedanken zu vollenden. »Jetzt rücken sie heran«, sagte er, als die Schüsse verhallt waren. »Sie wissen, daß sie uns in der Falle haben, und können sich Zeit lassen.«

»Was können wir tun?«

»Ich könnte versuchen, zu meinem Wagen zu laufen, oder …«

Farlowe schien es sich mitten im Satz anders zu überlegen. Er sog die Luft ein, und ein verkniffenes Lächeln legte sich auf seine Lippen.

»… wir warten.«

»Wir warten? Worauf?«

Und dann spürte sie es auch. Zuerst war es nur ein leichtes Auffrischen des Windes, aber ein paar Atemzüge später schon ein kräftiger Windstoß gegen ihr Gesicht.

Eine Verdunkelung! Duncan Farlowe hatte sie gerochen und gewußt, was nun passieren würde!

»Bedecken Sie die Augen und den Mund, so gut Sie können«, wies er sie an, während vielleicht ein Dutzend Mini-Tornados Staub aufwirbelten. Die Luft verdunkelte sich zusehends, und die Sonne war schon nicht mehr auszumachen. »Ergreifen Sie meine Hand und folgen Sie mir, wenn ich losgehe.«

Kristen hielt den Ärmel vor ihre Augen. »Ihnen folgen?«

»Ja. Ich kenne diese Hügel so gut wie mein Gesicht. Ich vermute, unsere schießwütigen Freunde haben diesen Vorteil nicht.«

Die aufgewirbelte Erde drang in seinen Mund und verwandelte die letzten Worte in ein kaum noch verständliches Gurgeln. Er spuckte den Dreck wieder aus und band dann sein rotes Halstuch vor den unteren Teil seines Gesichts.

»Kommen Sie!« krächzte Farlowe hinter dem Halstuch und zog den breitkrempigen Hut hinab, um seine Augen zu schützen.

Er erklomm den Hügel blindlings, aber sicheren Schrittes. Kristen glaubte, bei ihrem Aufbruch jede Orientierung verloren zu haben, stellte dann aber fest, daß sie keineswegs umgekehrt waren und den Pfad zum Wagen zurückgingen; statt dessen arbeiteten sie sich in südliche Richtung tiefer in die Hügel zu den erschöpften Silberminen vor.

Kristen hörte, daß ungezielte Schüsse in die braune Luft abgegeben wurden. In der Ferne erklangen laute Rufe, dann einer aus anscheinend nicht mehr als fünfzehn Metern Entfernung. Sie spürte, daß Farlowe sich anspannte, und blieb einen Schritt hinter ihm stehen. Es gelang ihr, die Augen so weit zu öffnen, daß sie eine Gestalt ausmachen konnte, die sich rechts vor ihnen blind den Weg ertastete. Farlowes Peacemaker knallte einmal auf. Die Gestalt war verschwunden, und ihr Schrei verlor sich in dem heulenden Wind, der den Staub zu einer schweren, braunen Decke verwandelte, die sich über ihre gesamte Umgebung legte.

Dem Sheriff blieben jetzt nur noch zwei Kugeln. Er zog Kristen wieder etwas schneller voran; ihm war klar, daß das deutlich zu vernehmende Geräusch des Schusses die verbliebenen Feinde in diese Richtung locken würde. Seinen Schritten merkte sie jedoch an, daß ihn dies nicht zu stören schien. Ganz im Gegenteil, sie spürte, daß er genau dies wollte. Sie konnten die Verdunklung nur nutzen, solange sie anhielt. Kristen erinnerte sich, daß sie während der Hinfahrt fünf, vielleicht sechs Minuten gedauert hatte. Also blieben ihnen noch ein paar Minuten.

Farlowe steuerte Kristen um ein schmales Loch im Boden, das in eine der zahlreichen aufgegebenen Silberminen führte, die das Land wie Pockennarben überzogen. Er bog nach rechts ab und blieb direkt vor dem Rand eines größeren Einstiegs stehen.

»Wir gehen runter!« versuchte er, den Wind zu übertönen.

»Was?«

»Folgen Sie mir!«

Er zog sie mit sich hinab und schob sie zum Ende des Schachteingangs, bevor dieser sich zu einem Gang erweiterte. Zuerst dachte sie, sie würden sich hier verstecken oder vielleicht sogar den Gang als Fluchtweg benutzen. Doch Farlowe löste sich von ihr, ging direkt unter der Schachtöffnung in die Hocke und lauschte auf alle Geräusche, die durch den starken Wind zu vernehmen waren.

Plötzlich straffte Farlowe sich. Er spannte den Hammer des Peacemakers, richtete sich auf die Zehenspitzen auf und wartete. Ein paar Sekunden später sprang er hoch.

Das Knacken seiner Knie war selbst durch das Tosen des Windes zu hören. Das galt auch für den Peacemaker, der zweimal aufbellte.

Farlowe drehte sich zu Kristen um und zog das Halstuch von seinem Mund hinab. »Einer weniger. Gehen wir.«

Kristen sah, wie schwer er atmete; die Anstrengung sog die Farbe aus seinen Augen. Sie trat zu ihm, und er schloß erneut die Hand um ihre Jacke. Den leeren Peacemaker hatte er ins Halfter geschoben.

»Jetzt wird es etwas schwierig, kleine Lady. Achten Sie genau auf meine Füße und treten Sie dorthin, wohin ich auch trete. Sehen Sie zum Boden!«

Und dann zog er das Halstuch wieder hoch, und sie kletterten aus dem Mineneingang.

Farlowe wandte sich diesmal in südöstliche Richtung. Die Welt vor ihnen war ein brauner Vorhang. Kristen schmeckte die Erde in ihrem Mund. Sie hatte ein Gefühl im Hals, als hätte sie Kreide gegessen. Sie konnte nicht schlucken. Es war, als hätte sie ein Stück der Wüste abgebissen.

Farlowe verstärkte den Druck seiner Hand, um sie auf zerklüftete Hügelausläufer aufmerksam zu machen, die von Mineneingängen durchsetzt waren. Lediglich schmale Grasnarben trennten einen Schachteingang vom anderen. Dieser Teil der Hügel war bar jeden Silbers und Lebens. Das Land war abgestorben. Die tiefen und bedrohlichen Löcher waren Wunden auf seinem Leichnam.

Farlowe führte Kristen hinter eine leichte Erhebung. Er drückte ihre Schultern hinab, um ihr zu bedeuten, sich dort zu ducken.

»Warten Sie hier«, befahl er, wobei er das Halstuch wieder hinabschob, damit sie ihn verstehen konnte.

Sie wollte ihn fragen, was er vorhatte, doch Erde drang ihr in den Mund und nahm ihr die Stimme. Farlowe verschwand in der braunen Wolke, und Kristen spähte über die Erhebung, um zu sehen, was er machte.

Obwohl die erdgetränkte Luft in ihren Augen brannte, widerstand sie dem Drang, mehrmals zu blinzeln. Farlowe kehrte auf dem Weg zurück, den sie kommen waren, näherte sich also dem Feind. Die Verdunkelung hatte etwas nachgelassen, und an einigen Stellen klarte die Luft schon wieder auf. Kristen bemerkte die sich nähernden Gestalten, als sie diese Bereiche durchquerten; drei, dachte sie, aber es konnten auch vier sein. Sie sah zu Farlowe zurück, doch er war verschwunden.

Dann konnte sie ihn plötzlich wieder ausmachen, in fünfzehn, zwanzig Metern Entfernung. Er lief, eine dunkle, verschwommene Gestalt inmitten des Sturms. Kristen hörte Schreie, dann peitschte ein Schuß auf. Die sich in ihre Richtung nähernden Gestalten wandten sich um und rannten auf Farlowe zu.

Ein Schrei erklang, als eine von ihnen einfach verschwand, als hätte der Erdboden sie verschluckt.

Ihr Häscher war in einen Minenschacht gestürzt.

Farlowe tauchte wieder aus dem Sturm auf, und weitere Schüsse erklangen. Ein anderer Feind verfolgte ihn, und auch er stürzte mit einem gellenden Schrei in einen der Schächte. Es war, als befänden sie sich in einem trügerischen Minenfeld, und Farlowe spielte den Köder, um die Feinde ins Verderben zu locken. Kristen ging wieder in Deckung, rieb sich die Augen und hob dann den Kopf über die Anhöhe, um das Geschehen zu verfolgen.

Einer der Häscher kam direkt auf sie zu. Doch plötzlich drehte der Mann sich um und zielte mit dem Gewehr in den Sturm.

Zweifellos hatte er Farlowe im Visier!

Kristen sprang auf und rannte in die staubdurchsetzte Luft. Sie prallte gegen den Mann, als er gerade auf den Abzug drückte, und die Kugel flog harmlos in den Himmel. Der Mann schwankte zwar, stürzte aber nicht, Kristen klammerte sich an ihn, und er holte mit dem Gewehr aus und schlug den Kolben gegen ihre Schulter.

Vor Kristens Augen explodierten Sterne. Sie griff jedoch nach seiner Hand und versuchte zu verhindern, daß sie sich um den Abzug des Gewehrs legte. Der Mann versetzte ihr einen Schlag gegen das Kinn und dann einen weiteren auf das Brustbein. Kristen mußte seine Hand loslassen. Sie brach auf die Knie zusammen und rang nach Luft, doch da drang der Staub in ihre Lungen und drohte, sie zu ersticken.

Der Mann senkte das Gewehr und zielte auf sie. Sein Finger legte sich um den Abzug, als Duncan Farlowe aus einer Staubböe hervorsprang und sich auf ihn warf. Kristen sah, daß Farlowe den Peacemaker am Lauf hielt. Die Waffe senkte sich und prallte gegen den Hinterkopf des Schützen. Der Kopf des Mannes ruckte vor. Taumelnd versuchte der Killer, sich zu Farlowe umzudrehen.

Der Sheriff schlug erneut mit dem Knauf des Revolvers nach ihm und traf ihn diesmal mitten auf die Nase. Kristen hörte, wie der Knochen brach, und der Mann schlug wie ein gefällter Baum zu Boden; sein Gesicht war nur noch eine blutige Masse. Farlowe ging kein Risiko ein, entwand den Händen des Häschers das Gewehr und hielt es auf ihn gerichtet, während er zu Kristen ging.

»Gut gemacht, kleine Lady«, sagte er durch das Halstuch, während er ihr auf die Füße half.

Kristen betastete ihr angeschwollenes Kinn. Der Schmerz verstärkte sich allmählich von einem dumpfen Pochen zu einem heißen Brennen, das ihr das Bewußtsein zu rauben drohte. Auch wenn der Sturm abgeklungen wäre, hätte sie nicht sprechen können.

Sie blieben über dem Mann stehen, den Farlowe mit dem Pistolenknauf niedergeschlagen hatte. Seine Augen starrten blicklos ins Leere. Der Sheriff bückte sich und durchsuchte seine Taschen nach einem Ausweis, fand jedoch keinerlei Papiere: Sein Blick glitt durch die klarer werdende Luft über das pockennarbige Land. Die beiden Männer, die in die Minenschächte gestürzt waren, blieben verschwunden, doch Farlowe hielt das Gewehr für den Fall bereit, daß sie wieder auftauchen sollten.

»Ich glaube, hier haben wir genug gesehen«, sagte er zu Kristen und führte sie davon.

Als sie wieder in der Stadt waren, beharrte Kristen darauf, vor dem Motel zu halten. Erst, als auch bei einer weiteren Durchsuchung von Davids Zimmer der Camcorder nicht auftauchte, begleitete sie Farlowe zum Rathaus, damit er dort ihre Verletzungen versorgen konnte.

»Ich war im Zweiten Weltkrieg Sanitäter«, erklärte er dann. »Und später auch in Korea. Einige Dinge vergißt man nicht.« Er tupfte den Riß in ihrer Wange mit Alkohol ab. »Wenn Sie wollen, rufe ich einen Arzt an, aber gebrochen ist nichts, und die Wunde muß auch nicht genäht werden.«

»Nein«, brachte sie unter Schmerzen über die Lippen. »Je weniger Leute wissen, daß ich hier bin, um so besser.«

»Ganz meine Meinung, kleine Lady.«

»Ich mache mir über etwas anderes viel größere Sorgen, Sheriff. Vielleicht haben die Männer Sie erkannt.«

»Wenn einer von ihnen überlebt hat, meinen Sie.«

»Sie wissen genau, was ich meine.«

Farlowe blinzelte ihr zu. »Ich kann durchaus auf mich aufpassen. Hab' genug Earp-Blut in den Adern. Und wo das Blut nicht mehr ausreicht«, fuhr er fort und klopfte auf den Griff des Colt Peacemaker, den er wieder geladen hatte, als sie seinen Wagen draußen vor Miravo erreicht hatten, »gibt es noch immer den hier.«

Er drückte vorsichtig eine Mullbinde auf die Wunde und befestigte sie mit Klebestreifen. Dann schob er den Eisbeutel auf Kristens Kopf wieder zurecht.

Sie sah ihn mit grimmiger Entschlossenheit an. »Wir müssen herausfinden, was mit meinem Bruder passiert ist, nachdem er mich aus dem Motel angerufen hat. Jetzt wissen wir, wo er zuvor war.« Sie schluckte schwer. »Vielleicht haben diese Leute in den Hügeln auch ihn …«

Farlowe beugte sich vor und legte die Hände auf ihre Schultern. »In dieser Hinsicht können Sie nichts tun. Überlassen Sie das mir.«

»Ich habe immerhin schon einiges herausgefunden.«

»Sie wollen mir also unbedingt helfen.«

»Mehr als das.«

»Dann betrachten Sie die Angelegenheit mal aus einer anderen Perspektive. Könnte doch sein, daß die Spur, die Ihr Bruder zurückgelassen hat, nur bis hierher und nicht weiter führt. Dann bleibt uns nur übrig herauszufinden, wer hinter den Vorgängen in Miravo steckt, die er beobachtet hat.« Er hielt kurz inne. »Und ich habe Grund zu der Annahme, daß Sie Freunde haben, die uns dabei helfen können.«

»Wieso?«

»Liegt einerseits an Ihrem Benehmen. Und andererseits an dem Flugzeugticket, das in Ihrer Tasche steckte. Sie kommen aus Washington. Und dort hat jeder Freunde.«

Kristen zuckte mit den Achseln. »Zugegeben«, sagte sie und dachte an Senatorin Jordan.

»Benutzen Sie Ihre Freunde, kleine Lady. Vielleicht sind ein paar davon Ihnen noch einen Gefallen schuldig. Fordern Sie sie ein. Das wäre jetzt die beste Gelegenheit.«

Das Telefon klingelte, und Farlowe ging zu seinem Schreibtisch und nahm den Hörer ab. Kristen kümmerte sich mehr um ihre Verletzungen, als daß sie auf das Gespräch achtete. Das Sprechen tat noch immer weh, und ihr Schädel hämmerte mit jedem Atemzug. Darüber hinaus verspürte sie bei jedem Einatmen einen scharfen Schmerz in ihrem geprellten Brustkorb. Kurz gesagt – sie war fix und fertig. Mit Schrecken dachte sie an den langen Flug nach Hause, vor allem, da sie Grand Mesa noch beunruhigter verlassen würde, als sie hier eingetroffen war.

Sie schaute auf und stellte fest, daß Duncan Farlowe unmittelbar vor ihr stand. Er hatte den breitkrempigen Hut wieder aufgesetzt, und der Ausdruck auf seinem Gesicht war mehr als nur grimmig.

»Wir müssen noch mal weg, kleine Lady.«

Kristen erhob sich langsam von ihrem Stuhl. »Was ist los?«

»Ich weiß noch nichts Genaues, aber es ist nichts Gutes.«

»Vielleicht sollten Sie mir das überlassen«, sagte Sheriff Farlowe, als sie den Fluß erreichen. »Wenn es David ist, werd' ich ihn anhand des Fotos erkennen, das Sie mir gezeigt haben.«

Zwei Kinder hatten die Leiche entdeckt, als sie am Flußufer gespielt hatten. Als Farlowe den Pritschenwagen so nah am Ufer parkte, wie es ihm möglich war, hatte die Autobahnpolizei sie bereits aus dem Wasser gezogen. Kristen sprang aus dem Wagen und lief zum Ufer hinab. Farlowe mußte sich sputen, um sie einzuholen und festzuhalten.

»Ich muß mich selbst überzeugen.«

Farlowe nickte zögernd, legte einen Arm um Kristens Schulter und führte sie weiter. Am Flußufer stand ein Krankenwagen. Die hintere Tür war geöffnet, und zwei Sanitäter schoben eine fahrbare Trage zu dem felsigen Ufer, auf dem ein schwarzer Leichensack lag. Vier Polizisten der Highway Patrol beobachteten das Geschehen ratlos.

»Tag, Duncan«, grüßte einer, als sie zu der Gruppe traten.

Farlowe legte zwei Finger an die Hutkrempe. Die Sanitäter hoben den Leichensack auf die Trage.

»Darf ich ihn mir mal ansehen?«

Einer der Autobahnpolizisten nickte. Die anderen sahen Kristen an.

»Könnte eine Verwandte sein«, erklärte Farlowe.

Kristen glitt an Farlowe vorbei, als einer der Sanitäter den Reißverschluß des Leichensacks aufzog. Sie stöhnte auf und sank dann auf den nassen Felsen auf die Knie. Farlowe hielt sie von hinten fest. Sie keuchte. Ihre Brust hämmerte, während sie um Atem rang.

»David«, rief sie. »O Gott, David!«

Farlowe nickte den Polizisten zu, und sie traten ein paar Schritte zurück. Einer der Sanitäter wollte den Leichensack wieder zuziehen, doch Kristen legte eine Hand auf seinen Arm und hielt ihn fest.

»Nein!« schrie sie und kämpfte sich auf die Füße. Sie bückte sich zu der Leiche hinab und verzog das Gesicht. Diesmal betrachtete sie sie etwas länger. Ein heftiges Zittern erschütterte ihren gesamten Körper. Davids Gesicht war leer und milchig weiß. Die Augen waren aus den Höhlen gequollen. Der Mund hing auf groteske Art und Weise offen und schien seitlich verzerrt zu sein.

Aber am schlimmsten war die Oberfläche des Kopfes. Der Schädel war dunkel und blutig, und es waren nur noch ein paar Haarfetzen auszumachen. »Seht ihn euch an!« hörte sie sich schreien. »Seht ihn euch an!«

Das war das letzte, woran sie sich deutlich erinnerte, bis sie wieder im Rathaus von Grand Mesa war. Eine Decke, die Farlowe ihr um die Schultern gelegt hatte, trug nichts dazu bei, ihr heftiges Zittern zu lindern. Das konnte auch weder die heiße Suppe noch der Kaffee, den er ihr brachte. Sie hatte niemals so eine Kälte verspürt und befürchtete, ihre Zähne würden zerbrechen, weil sie so hart aufeinanderschlugen.

»Sie haben die Leiche gesehen«, sagte sie, als sie an der zweiten Tasse Kaffee nippte.

»Lassen Sie es eine Weile auf sich beruhen, kleine Lady.«

Aber das konnte sie nicht. »Sie haben die Leiche gesehen.«

Er nickte.

»W-wie … wie wurde er getötet?«

»Ich bin kein Experte.«

»Wie?«

Farlowe seufzte und zog den Stuhl näher zu dem ihren heran. »Sieht so aus, als wäre er erschossen worden.«

»Was ist mit … seinem Kopf passiert?«

Farlowe wandte sich etwas ab. »Könnte passiert sein, nachdem sie ihn in den Fluß geworfen haben. Könnten die Fische gewesen sein.«

»Nein.«

Er sah sie wieder an. »Kleine Lady, ich …«

»Machen Sie mir nichts vor. Halten Sie nichts zurück. Ich muß es wissen. Haben Sie verstanden? Ich muß es wissen!«

Farlowe seufzte laut. »Ich glaube, er wurde skalpiert.«

Kristen glaubte, ohnmächtig zu werden. »O mein Gott …«

Die Tasse fiel ihr aus der Hand und zerbrach auf dem Boden. Kaffee spritzte hinauf. Farlowe hielt Kristen fest und umarmte sie.

»Ruhig, ganz ruhig.«

Aber der Schmerz hatte sie ergriffen und wollte nicht weichen. Alles stürmte auf einmal auf sie ein. Ihr Bruder war tot. Sie würde ihn nie wiedersehen. Er war ermordet worden; nein, mehr als das – verstümmelt. Wie konnte jemand ihm so etwas angetan haben? Wie?

»Ich hätte nichts sagen sollen«, murmelte Farlowe leise. »Es war falsch von mir.«

Kristen löste sich aus seinem Griff. Auf ihrem Gesicht kämpften Wut und Entschlossenheit gegen das Leid an. »Nein, es war richtig so.«

In Farlowes Blick schwang Besorgnis mit. »Lassen Sie es auf sich beruhen, kleine Lady. Die Profis sollen die Sache aufklären.«

»Ich bin auch ein Profi, Sheriff«, erwiderte Kristen, »jedenfalls nach Washingtoner Standard. Mein Bruder hat in Miravo etwas gesehen und wurde deshalb umgebracht. Miravo fällt in den Zuständigkeitsbereich von Washington.« Sie hielt inne und erwiderte seinen Blick. »Und der Mord an meinem Bruder in den meinen.«