Vierzehntes Kapitel

Ben Samuelsons Anruf erreichte den Präsidenten, als er sich für einen Staatsempfang mit Repräsentanten sowohl der israelischen als auch der arabischen Verhandlungskommission ankleidete. Der Friedensprozeß im Mittleren Osten war zu einem Morast geworden, der seine Amtszeit von mittlerweile achtzehn Monaten stark belastete. Der heutige Empfang stellte einen konzentrierten Versuch seinerseits da, den Prozeß wieder in Gang zu bringen. Doch sobald der Präsident den Hörer aufgelegt hatte, summte er seine Sekretärin über die Gegensprechanlage an und befahl ihr, den Empfang um eine Stunde zu verschieben, auch auf das Risiko, seine Gäste vor den Kopf zu stoßen.

Der FBI-Chef wurde zwanzig Minuten später in sein Privatbüro geleitet. Unter seinem Arm steckte eine Aktentasche ohne Griff. Er hatte gebeten, den Präsidenten allein sprechen zu dürfen; nicht einmal Charlie Byrne sollte anwesend sein.

»Nur Sie können die Entscheidung treffen, wer Kenntnis von den Informationen haben darf, die ich ihnen bringe, Sir«, hatte Samuelson erklärt.

»Am Telefon waren Sie ziemlich verschlossen, Ben«, begann der Präsident, nachdem die Tür seines Privatbüros hinter ihnen geschlossen worden war.

Der Chef des FBI stand starr vor ihm. »Gehen wir der Reihe nach vor, Sir. Zuerst einmal konnte Langley aufgrund der Besuchsunterlagen bestätigen, daß Tom Daniels sich in den vergangenen zehn Tagen dreimal mit dem Direktor getroffen hat. Die letzte Begegnung fand am vergangenen Donnerstag statt, dem Abend vor den Morden.«

»Ist das ungewöhnlich?«

»An und für sich ja, weil Daniels nach allem, was ich in Erfahrung bringen konnte, die üblichen Kanäle übersprang und sich direkt an Jardine gewandt hat. Ich könnte akzeptieren, daß er einmal so vorgegangen ist. Aber dreimal kann nur bedeuten, daß Daniels Jardines Segen hatte, mit seinem Plan fortzufahren, worum auch immer es sich handeln mochte.«

»Ich nehme nicht an, daß diese Unterlagen auch Zusammenfassungen ihrer Gespräche enthalten.«

»Nein, Sir, natürlich nicht. In dieser Hinsicht bin ich in einer Sackgasse gelandet. Aber ich wurde das Gefühl nicht los, daß die beiden Morde in einem Zusammenhang damit stehen.«

»Mittlerweile haben Sie bestimmt mehr als nur Ihr Gefühl?«

»Darf ich, Sir?«

»Bitte.« Samuelson ging zu dem Schreibtisch aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert an der rechten Wand. Er legte seine Aktentasche darauf und bemühte sich, dabei die Stapel mit der Privatkorrespondenz des Präsidenten nicht durcheinanderzubringen.

»Vor zwei Stunden habe ich einen Anruf vom russischen Botschafter bekommen. Er bestand darauf, Sie augenblicklich in einer Angelegenheit zu sprechen, die für die nationale Sicherheit von größter Bedeutung ist.«

»Für unsere Sicherheit, vermute ich.«

»Allerdings«, bestätigte Samuelson und holte die Tonband-Kassette hervor, die der ehemalige KGB-Sektionsleiter Sergej Amorow Wasili Konschenko ihm gegeben hatte. »Anscheinend bestand eine der letzten herausragenden Leistungen des KGB darin, in Jardines Büro eine Wanze anzubringen.«

»Und sie wurde nicht entdeckt?«

»Alles deutet darauf hin, Sir. Sie befand sich einige Jahre dort.«

»Jahre? Dann …«

»Ja, Mr. President. Die Wanze blieb aktiv, nachdem der KGB zurückgezogen wurde. Botschafter Konschenko hat mir versichert, er hätte keine üblen Absichten gehegt. Wie dem auch sei, das Anbringen der Wanze hat sich als überaus glücklicher Zufall erwiesen.« Samuelsons Blick fiel auf die Kassette. »Dank dieser Wanze und dank unseres Freundes, Botschafter Konschenko, haben wir nun eine Kopie dieses Bandes, das Donnerstagabend aufgenommen wurde.«

»Großer Gott«, begriff der Präsident. »Jardines letztes Treffen mit Daniels.«

Samuelson holte einen schmalen Kassettenrecorder aus seiner Aktentasche und legte die Kassette ein. Er drückte auf den Abspielknopf, und Clifton Jardines Stimme füllte den Raum aus.

»Wie viele Kopien gibt es davon, Mr. Daniels?«

McCracken benutzte das Chaos, das auf dem gesamten National Airport herrschte, als Gelegenheit zur Flucht. Ein Taxi brachte ihn zum Flughafen Dulles, wo er gerade noch die letzte Maschine des Abends nach Miami erreichte. Eine halbe Stunde nach Landung der Maschine – der Flug war glücklicherweise völlig ereignislos verlaufen – war Blaine wieder im Strumpet's, einem höchst privaten Club im Kellergeschoß eines anderen Gebäudes in South Beach. Der Mangel an Fenstern trug nur zum Ambiente bei. Der Club war so schummrig, daß er einen idealen Unterschlupf bot. Der Barraum war in Pfirsich- und Malvenfarben gehalten und wurde mit elektrifizierten Nachbauten viktorianischer Gaslampen erhellt. Die große Bar war leicht geschwungen und mit einem dunklen Holz getäfelt, das zu den Wänden des Raums paßte. Der Mann, der Blaine auf Ventanna angesetzt hatte, trank in derselben Ecknische, in der er auch am Donnerstagabend gesessen hatte. Er war völlig schwarz gekleidet. Sein Haar hatte er mit Pomade eingerieben und glatt zurückgekämmt; es fiel nicht mehr in Wellen. Die Goldketten an seinem Hals glitzerten schwach im gedämpften Licht. Er tat so, als würde er den sich ihm nähernden Blaine nicht sehen.

»Hallo, Rafael«, sagte McCracken, als er neben ihm stand.

Rafael sah nicht auf. »Sie haben mich reingelegt.«

»Ach ja?«

»Sie haben Alvarez auffliegen lassen. Wenn die herausfinden, daß ich Ihnen geholfen habe, bin ich tot.«

»Ich hatte nichts mit dem Hit im Coconut Grove zu tun. Und ich bin nach Miami zurückgekommen, um mir die wahren Übeltäter vorzuknöpfen, Raffy.«

Rafael trank sein Glas aus; es schien sich Wodka auf Eis darin befunden zu haben. »Kann ich Ihnen einen ausgeben?«

»Ich würde mich mit weiteren Informationen begnügen.«

»Tut mir leid. Auf dem Ohr bin ich taub.«

Blaine blieb neben ihm stehen. »Alvarez hat an Arlo Cleese verkauft. Klingelt bei dem Namen was?«

»Kann ich nicht sagen.«

»Ein Revolutionär aus den Sechzigern, der anscheinend noch immer für seine Sache kämpft. Vielleicht will er mit Hilfe von Waffen, die Alvarez ihm liefert, die Revolution, die er vor einer Generation angezettelt hat, endlich zu Ende bringen.«

»Und er und sein Junge wurden deshalb erledigt. Wollen Sie das damit sagen?«

McCracken nickte. »Weil Cleese mittlerweile hat, was er braucht. Das heißt, was auch immer er vorhat, es wird bald geschehen.«

»Und hinter ihm sind Sie her?«

»Und ich kann ihn finden, indem ich die Spur der Waffen verfolge, die Alvarez in Miami abgeholt hat.«

Eine Kellnerin kam und stellte einen neuen Wodka mit Eis auf die Serviette vor Rafael.

»Ich könnte mich mal hinter das Telefon klemmen«, bot er an, als sie wieder gegangen war.

»Sagen Sie ihnen, ich sei hinter dem her, der ihren Boß und seinen Jungen umgebracht hat. Sagen Sie ihnen, normalerweise bekomme ich, was ich will.«

Zwei Stunden später begleitete McCracken Rafael zu einem Privatdock an der Biscayne Bay.

»Das müssen sie sein«, sagte Rafael, als ein schlanker Kabinenkreuzer der Marke Gulfstar mit einer Länge von etwa zehn Metern sich näherte. Lediglich ein Scheinwerfer war erhellt.

Der Kabinenkreuzer glitt neben das Dock. Ein großer Mann in greller Kleidung sprang hinüber und hielt sich und das Boot an einem Mast fest, während Blaine an Bord ging. Augenblicklich nahmen zwei Bewaffnete ihn in die Mitte. McCracken sah zu Rafael zurück.

Rafael war an Land geblieben und winkte. »Viel Spaß, amigo!«

McCracken wußte nicht genau, welche Absichten die Männer auf dem Kreuzer hatten. Er zählte insgesamt fünf: die beiden, die ihn flankierten, derjenige, der das Boot an Ort und Stelle gehalten hatte, den Steuermann und einen weiteren, der auf einer offenen Brücke stand und eine Mac-10-Maschinenpistole in der Hand hielt.

»Ihre Waffe, bitte«, sagte der Mann rechts von ihm.

Blaine gab ihm seine SIG-Sauer, und der Mann steckte sie in seinen Gürtel. Der Gulfstar legte ab.

Seine Gastgeber ließen nichts über das Ziel verlauten, und McCracken stellte keine Fragen. Er blieb einfach in der warmen Nachtluft an der Reling stehen und versuchte sich zu entspannen.

Der Kreuzer machte gute Fahrt durch die ruhigen Gewässer. Nach einer Stunde konnte Blaine die Silhouette einer großen Jacht ausmachen, die sich vor dem vom Mondlicht erhellten Horizont abhob. Als sie deutlich in Sicht gekommen war, erkannte er sie als eine Dreißig-Meter-Motorjacht der Marke Hatteras mit einem Detroit-Doppelmotor mit achthundertfünfundsiebzig Pferdestärken. Ein absolutes Spitzenmodell, für das man vielleicht zwei Millionen Dollar auf den Tisch legen mußte. Der Kapitän lenkte das Schiff auf einer hohen, geschlossenen Brücke. Selbst aus dieser Entfernung konnte Blaine eine großgewachsene Gestalt ausmachen, die auf dem großen Oberdeck stand und die Annäherung des Gulfstar beobachtete.

Als McCracken versuchte, trotz der Dunkelheit einen besseren Blick auf die Gestalt zu bekommen, rasten zwei Schnellboote um die Seiten der Hatteras und hielten auf den Gulfstar zu. Sie bezogen auf beiden Seiten des Kabinenkreuzers Position und begleiteten ihn das letzte Stück des Weges.

Vom Heck der Dreißig-Meter-Jacht wurde eine Stahlleiter hinabgelassen, und zwei Männer hielten sie fest, damit McCracken hinaufsteigen konnte.

»Hier entlang«, begrüßte ihn einer der beiden, nachdem er sich auf das Deck gezogen hatte. McCracken fiel auf, daß der Mann nicht bewaffnet war.

Er führte ihn auf das Oberdeck, wo die Gestalt stand, die McCracken schon zuvor ausgemacht hatte, und nach Backbord auf das Meer hinausschaute. Die Gestalt drehte sich langsam um, und das Mondlicht erhellte ihr Gesicht.

»Manuel Alvarez«, begrüßte McCracken den Mann, der als tot galt. Er hatte ihn aufgrund der Fotos erkannt, die Captain Martinez ihm am Tag zuvor gezeigt hatte.

»Wie ich sehe, kann man Sie nur schwer überraschen, Mr. McCracken.«

»Nicht immer. Es überrascht mich, daß Sie mich hierher geholt haben.«

»Aber nicht, daß ich noch lebe.«

»Ich habe Ihre Akte studiert«, erwiderte Blaine. »Sie haben zugelassen, daß sie die kleinere Ihrer beiden Jachten in die Luft jagen.«

Alvarez lächelte verkniffen. »Die Eitelkeit, fürchte ich.« Das Lächeln verschwand wieder. »Sie haben damit gerechnet, zu mir gebracht zu werden.«

»Zumindest gehofft. Ich habe gewußt, daß der Köder Sie interessieren würde.«

»Ich war schon interessiert, bevor Sie ihn ausgeworfen haben. Hätte ich gewußt, wie, hätte ich vielleicht schon vorher mit Ihnen Kontakt aufgenommen. Es kam mir vor wie ein Geschenk Gottes, als ich hörte, daß Sie nach Miami zurückgekehrt sind.«

Blaine trat einen Schritt auf ihn zu. »Wieso?«

»Ich habe in der Polizei von Miami ein paar gutunterrichtete Kontaktleute. Sie haben mich informiert, wer Sie sind und was Sie im Grove zustandegebracht haben. Anscheinend haben Sie vielen Menschen das Leben gerettet.«

»Aber nicht das Ihres Sohnes, Mr. Alvarez.«

»Sie hätten auch ihn gerettet. Das weiß ich.«

»Wenn es mir möglich gewesen wäre.«

Blaine ging zu Alvarez, der auf halber Höhe des Oberdecks stand. Alvarez stützte die Ellbogen auf der Reling ab und sah wieder auf das Meer hinaus. Seelenqual verzerrte sein Gesicht zu einer angespannten Grimasse. Seine eigentlich dunkle Haut wirkte gelblich-fahl. Der Wind hatte sein ordentlich geschnittenes Haar durcheinandergebracht, und sein dünner Schnurrbart schien hinabzuhängen.

»Deshalb habe ich auf diese Gelegenheit gehofft, Mr. McCracken.« Er drehte sich wieder zu Blaine um. »Ich brauche Sie, um meinen Sohn zu rächen.«

»Das heißt, wir müssen Arlo Cleese finden, Mr. Alvarez.«

Alvarez' Hände verkrampften sich um die Reling. »Es waren seine Leute, nicht wahr?«

»Wenn Sie die Frage schon stellen, brauchen Sie mich nicht, um sie zu beantworten.«

»Ich habe meinen Sohn gewarnt. Er sollte sich zurückhalten. Ich habe ihn gewarnt! Er war der Ansicht, keine Gefahr könne ihm etwas anhaben.« Alvarez seufzte. »Die Torheit der Jugend.«

»Dann müssen Sie etwas geahnt haben. Deshalb haben Sie Ihren Tod vorgetäuscht und zugelassen, daß Cleese die andere Jacht in die Luft sprengt.«

»Die Anzeichen waren kaum wahrnehmbar, aber vorhanden. Der Kontakt war abgerissen. Mein Mann, der die Verbindung zu Cleese aufrecht hielt, ist letzte Woche verschwunden.«

»Wodurch Sie und Ihr Sohn auf einmal die einzig sicheren Bindeglieder zu ihm waren.«

»Ich habe ihm gesagt, was er zu tun hatte. Ich habe ihn vor der Gefahr gewarnt. Ich habe gedacht, er würde auf mich hören.«

»Er war zu gierig, Mr. Alvarez. Das hat er vielleicht von Ihnen gelernt.«

Alvarez nickte gequält und gestand den Vorwurf ein. »Sie können mir nicht mehr zusetzen, als mir schon zugesetzt worden ist. Ich weiß, daß ich die Verantwortung für den Tod meines Sohnes trage.« Er seufzte schwer.

»Vielleicht sind Sie bald für noch viel mehr Todesfälle verantwortlich.«

»Wegen Cleese …«

»Sie haben ihn nie gefragt, was er mit Ihrer Ware vorhat.«

»Er war ein Kunde wie jeder andere auch, Mr. McCracken. Er hat seine Bestellung aufgegeben, und ich habe geliefert.« Alvarez schluckte schwer. »Die Waffen, die im Grove benutzt wurden … ich habe sie überprüft. Ich … ich mußte es wissen.« Seine Augen funkelten. »Sie waren Teil meiner Lieferung an Cleese.« Resigniert sah er zu McCracken hinüber. »Meine eigenen Waffen wurden dazu benutzt, meinen Sohn zu töten. Dafür muß ich Vergeltung üben, und Sie müssen mir dabei helfen.«

»Es wäre schon ein guter Anfang, Cleese daran zu hindern, noch jemanden zu töten.«

»Was auch immer dazu nötig ist. Ich kann Ihnen die Adresse des Lagerhauses geben, zu dem wir unsere Lieferungen geschickt haben.« Noch tieferer Schmerz legte sich auf Alvarez' Gesicht. »Ich hätte die Waffen, die ich ihm geliefert habe, zerstören können, aber das entspricht nicht meiner Vorstellung von Gerechtigkeit. Cleese selbst muß dafür bezahlen. Aber zuerst müssen wir ihn einmal finden.«

»Und dafür brauchen Sie mich.«

Alvarez wandte den leeren Blick wieder aufs Meer. »Nachdem Sie ihn gefunden haben, Mr. McCracken, werde ich Ihnen alle Hilfe zur Verfügung stellen, die Sie benötigen, um zu tun, was getan werden muß.« Er sah wieder zu Blaine. »Für meinen Sohn.«

»Für das Land, amigo.«