Neunundzwanzigstes Kapitel

»Ich hielt es für das beste, wenn wir zuerst unter vier Augen sprechen«, sagte der Präsident zu Blaine McCracken.

Die Nachricht, daß McCracken von einem der Teams, die nach ihm suchen sollten, entdeckt worden war, hatte den Präsidenten erreicht, als er gerade – ohne Erfolg – einzuschlafen versuchte. Er zog sich schnell an, ließ sich darüber informieren, was auf der Good Hope Street in Anacostia geschehen war, und hatte gerade sein Büro betreten, als Colonel Ben Power McCracken auch schon persönlich hineinbegleitete.

»Bitte, machen Sie es sich bequem«, sagte der Präsident und deutete auf einen Sessel in seinem Privatbüro.

»Das fällt mir etwas schwer.«

»Unter diesen Umständen verstehe ich dies durchaus.«

»Nicht nur wegen der Umstände, Sir.« Blaine suchte nach den richtigen Worten. »Es ist schon lange her, daß ich mich in diesen heiligen Hallen befand.« Sein Blick streifte durch den Raum. »Besonders so tief in ihnen.«

»Das habe ich Ihrer Akte entnommen.«

»Wie haben Ihre Leute mich gefunden, Mr. President?«

»Alles fing mit einem Tonband an …«

Der Präsident erklärte, wie er in den Besitz einer Tonbandaufnahme vom letzten Gespräch zwischen Tom Daniels und Clifton Jardine gekommen war, weil ein ehemaliger KGB-Chef das Büro des CIA-Direktors abgehört hatte. Das Gespräch hatte damit geendet, daß der Direktor die stillschweigende Einwilligung gegeben hatte, Blaine zu benutzen. Dementsprechend waren sie davon ausgegangen, daß Daniels zum Rock Creek Park gekommen war, um sich dort mit ihm zu treffen.

»Zu diesem Zeitpunkt«, führte der Präsident aus, »haben wir gehofft, daß Sie uns mit den Einzelheiten vertraut machen könnten, die bei dem Gespräch nicht erwähnt worden sind.«

»Zu diesem Zeitpunkt habe ich nicht mehr gewußt als Sie. Eigentlich sogar weniger.«

»Wir haben von Ihrem ›Auftritt‹ im Coconut Grove erfahren, und daß Daniels Ihre Freilassung aus dem Polizeigewahrsam angeordnet hat. Später erfuhren wir von Ihrem Flug nach Miami, der beinahe so katastrophal verlaufen wäre. Jemand will Sie tot sehen, wahrscheinlich dieselbe Partei, die hinter den Morden von Daniels und Jardine steckt.«

»Zwei von dreien haben sie erwischt.«

»Und Sie sind spurlos verschwunden. Es hat uns nicht überrascht, daß wir Sie nicht finden konnten. Doch wir gingen davon aus, daß die Suche, auf der Sie sich befanden, Sie nur zur Hauptstadt zurückführen konnte, und haben in der ganzen Stadt ein Heer von Leuten verteilt, das mit Ihrem Foto bewaffnet war.«

»Sie werden ein Heer brauchen, das mit viel mehr bewaffnet ist, um zu verhindern, daß diese Regierung gestürzt wird, Sir.«

Der Präsident stand auf und umklammerte die Sessellehne. »Wer steckt dahinter? Verraten Sie mir nur das.«

»Mr. President, was wissen Sie über die Trilaterale Kommission?«

Als Blaine seine Geschichte beendet hatte, wobei er allerdings verschwiegen hatte, daß die Delphi über Atomwaffen verfügte, war der Präsident wieder tief in seinen Sessel gesunken. Sein Gesicht war blaß, und seine Unterlippe zitterte.

»Sie behaupten, Carlisle habe Ihnen die Namen derjenigen genannt, die Delphi bildeten, als er dort ausstieg«, sagte er, als McCracken schließlich fertig war.

Blaine zog die Dreizolldiskette aus seiner Tasche. »Einige von ihnen werden die Organisation später ebenfalls verlassen haben. Da seine Informationen nur bis ins Jahr 1980 reichen, müssen wir davon ausgehen, daß einige der hier genannten Leute schon tot sind. Und zweifellos werden eine ganze Reihe von Namen fehlen.«

»Wie der von Samuel Jackson Dodd. Was ist mit dem Wie und Wann? Konnte Carlisle darüber etwas sagen?«

»Nein, aber Tom Daniels«, erwiderte Blaine, dem Daniels' letzte Bitte an ihn im Rock Creek Park wieder eingefallen war. »In sechs oder sieben Tagen.«

Das Gesicht des Präsidenten wurde noch blasser. »Natürlich.«

»Sir?«

»In einer Woche werde ich vor den Vertretern beider Häuser eine Rede über meine neue Strategie für die Wiederbelebung der Wirtschaft halten.«

»Die gesamte Führung der Nation gleichzeitig an einem Ort … Lämmer, die zur Schlachtbank geführt werden, Sir.«

Der Präsident umklammerte die Sessellehnen. »Und statt der wirklichen Verantwortlichen wird man den Midnight Riders die Schuld geben.«

»Die anscheinend eine Revolution anzetteln«, fuhr Blaine fort, »die dem Militär keine andere Möglichkeit läßt, als die Kontrolle zu übernehmen.«

»Nur so ist es möglich, die Verfassung zu umgehen und vorzeitige Präsidentschaftswahlen anzuberaumen.«

»Die Dodd zweifellos gewinnen wird. Aber er wird nicht zum Präsidenten gewählt werden, sondern zum Erlöser. Und die Leute werden alles akzeptieren, was er und die Delphi ihnen aufzwingen.«

Das Gesicht des Präsidenten bekam allmählich wieder Farbe. Er schüttelte entschlossen den Kopf. »Nein, trotz allem kaufe ich Ihnen das nicht ab. Ganz gleich, wie tief Delphi die Regierung infiltriert hat, die Drahtzieher haben die Reaktion des Landes völlig falsch eingeschätzt. Damit werden sie niemals durchkommen.«

McCracken fiel plötzlich etwas ein, das er vergessen hatte, eins von Tom Daniels' letzten Worten.

»Mr. President, was ist Prometheus?«

Die Farbe, die ins Gesicht des Präsidenten zurückgekehrt war, verschwand augenblicklich wieder. In seinen Augen lag plötzlich ein verängstigter Blick. Er stand auf und ging steifbeinig zu der Hausbar. Er wollte sich ein Glas Wasser aus einem Krug einschenken, überlegte es sich dann aber anders, und sprach, ohne McCracken anzusehen.

»Prometheus ist die nationale Version des Rundfunknetzes für den Notfall. Ein Kommunikations-Netzwerk, das selbst den schwersten elektromagnetischen Impuls im All übersteht und im Falle des Undenkbaren eine zuverlässige Kommunikation ermöglicht.«

»Kommt mir zur heutigen Zeit wie eine unnötige Verschwendung vor.«

»Aber wir haben keine Ahnung, was die Zukunft bringen wird, nicht wahr? Als ich mein Amt antrat, stand das System kurz vor der Vollendung. Aber ich habe dafür gesorgt, daß die Öffentlichkeit und der Kongreß annahmen, es sei aufgegeben worden, ein weiterer Multi-Milliarden-Dollar-Albatros, der nie vom Boden hochgekommen ist.« Der Präsident drehte sich um und sah Blaine an. »In Wirklichkeit hätte es nicht besser funktionieren können. Ich habe es in Prometheus umgetauft. Außer Ihnen gibt es in diesem Land nur fünf Personen, die es unter diesem Namen kennen.«

»Tom Daniels kannte es.«

»Und daher auch die Delphi. Aber …«

»Wie genau funktioniert Prometheus?« unterbrach Blaine ihn.

»Satellitenrelais mit Dutzenden von redundanten Systemen und dazu die modernste Software und Hardware, die je in eine Erdumlaufbahn geschickt wurde«, erwiderte der Präsident und stellte fest, daß Blaine nickte. »Das scheint Sie nicht besonders zu überraschen. Wieso nicht?«

»Dodd Industries, Sir. Überprüfen Sie die Firmen, die das System konstruiert und gebaut haben. Dorthin läuft alles zurück.«

»Dennoch«, hielt der Präsident dagegen. »Prometheus würde im Ernstfall nur die strategische Kommunikation erleichtern. Wie könnte Delphi daraus Nutzen ziehen?«

»Schauen Sie, Sir«, antwortete Blaine und ging zu ihm, »ich kann ein Down-link nicht von einem Up-link unterscheiden. Aber ich weiß, daß die gesamte Kommunikation heutzutage auf Satellitenrelais zurückzuführen ist. Große Maschinen sprechen miteinander. Von einem elektromagnetischen Impuls einmal ganz abgesehen … Dodd verbindet Prometheus mit ganz normalen Fernsehsatelliten im Orbit und ersetzt deren Signale. Wie durch Zauberhand übernimmt Delphi die Satelliten und kann damit dazu aufrufen, daß man dem Militär freie Hand lassen soll. Und damit Dodd.«

»Und das Land hat keine andere Wahl, es muß einfach zuhören.« Der Präsident betrachtete McCracken nachdenklich. »Warten Sie, Sie haben mir nicht alles gesagt. Irgend etwas halten Sie zurück.«

»Ich war mir bis zu diesem Augenblick nicht hundertprozentig sicher. Aber jetzt kommt mir der Rest des Plans völlig logisch vor.«

»Der Rest des Plans? Großer Gott, was haben sie denn noch in der Hinterhand?«

»Kurz gesagt, Sir, ist Delphi derzeit eine der größten Atommächte auf dem Antlitz dieses Planeten.«

Der Mund des Präsidenten klaffte auf, und er kehrte langsam zu seinem Sessel zurück.

»Die Air-Force-Basis Miravo«, fuhr Blaine fort.

»Sie wurde umgerüstet. Dort werden jetzt atomare Kurzstreckenraketen zerlegt.«

»Nein. Die Sprengköpfe bleiben intakt, werden von der Basis gebracht und irgendwo eingelagert.«

Der Präsident setzte sich. »Fünf andere Basen sind ebenfalls umgerüstet worden. Können wir davon ausgehen, daß sie ebenfalls … zweckentfremdet worden sind?«

»Ich vermute, der Feind, mit dem wir es zu tun haben, bekommt von Miravo alles, was er braucht. Aber die Atomraketen sollen nicht innerhalb unserer Grenzen eingesetzt werden.«

»Ach? Und wo?«

Blaine atmete tief durch. »Anfangs habe ich eine völlig falsche Spur verfolgt, Sir. Nicht die radikale Linke steckt hinter dieser Verschwörung, sondern die andere Seite …«

»Ein internationaler Kader von Verrückten von der radikalen Rechten«, faßte der Präsident zusammen, nachdem Blaine ihm erklärt hatte, was er von Carlisle erfahren hatte.

»Den Delphi an die Macht bringen und dann benutzen will, um die gesamte Welt zu beherrschen und zu führen. Die Trilaterale Kommission wurde aufgrund einer Doktrin gegründet, die sich kaum davon unterscheidet.«

»Aber die Charta der Trilateralen Kommission besagt doch wohl kaum, daß ein Rat von Wahnsinnigen die Zivilisation führen soll.«

»Ein Mittel zum Zweck, nichts weiter. Selbst wenn der Plan scheitern sollte, läßt das nachfolgende Chaos Delphi zum Gewinner werden, weil die anderen Nationen nicht imstande sein werden, auf die Katastrophe zu reagieren, die die Vereinigten Staaten während der Übergangsphase überkommt.«

»Die Frage lautet … können wir das alles noch irgendwie aufhalten?«

»Bill Carlisle hat mir den Namen des einzigen internationalen Repräsentanten von Delphi genannt, den er kannte: Travis Dreyer.«

»Auch bekannt als der südafrikanische Hitler.«

»Dreyer wird uns die noch unbekannten Einzelheiten verraten und vielleicht sogar die Namen der anderen Delphi-Repräsentanten in Übersee nennen können.«

»Sie haben vor, nach Südafrika zu fliegen und ihn zum Sprechen zu bringen?«

»Im Idealfall kann ich die Informationen beschaffen, ohne daß er überhaupt mitbekommt, daß ich dort bin.«

Der Präsident dachte kurz darüber nach. »Bis zu meiner Rede vor den beiden Häusern bleibt uns noch eine Woche. Mehr Zeit kann ich Ihnen nicht geben.«

»Nutzen Sie diese Zeit hier im Hause, Sir, während ich in Südafrika bin«, sagte Blaine, während er die Diskette hochhielt, die Bill Carlisle ihm gegeben hatte.

»Die Mitglieder von Delphi.«

»Kassieren Sie sie ein, Sir. Verhaften Sie sie aufgrund jeder beliebigen Anklage, die Ihnen in den Sinn kommt. Sie können nichts von meinem Gespräch mit Carlisle wissen. Der Vorteil liegt auf unserer Seite. Überraschen Sie sie, und vielleicht können wir den Tag Delphi auf diese Weise vermeiden.«

Der Präsident schaute alles andere als optimistisch drein. »Wenn es uns nicht gelingt, bleibt uns wohl nur noch eine Möglichkeit. Dann müssen wir die gesamte Regierung in die entsprechenden Schutzunterkünfte umsiedeln. Delphi kann nicht töten, an wen die Organisation nicht herankommt.«

»Nein, aber Sie werden eine nationale Panik auslösen, und diejenigen, die Sie vor Delphi retten wollen, werden Ihre geistige Vernunft in Frage stellen.«

»Das spielt keine Rolle, wenn ich damit vermeiden kann, daß Washington von Truppen überrannt wird, die den Befehl haben, die gewählten und ernannten Führer dieses Landes zu ermorden. Soll der Kongreß doch ein Verfahren zur Amtsenthebung einleiten. Zumindest wäre das Land gerettet.«

»Aber für wie lange? Dodd wäre noch immer dort draußen und würde eine Möglichkeit finden, seine vorgezogene Präsidentschaftswahl durchzusetzen. Die große Gefahr liegt darin, daß Delphi auf alle Eventualitäten eingerichtet ist, auf jede Strategie, für die wir uns entscheiden. Nein, wir müssen Delphi völlig ausmerzen.«

»Wir werden nicht aufgeben, Mr. McCracken.«

»Keineswegs, Sir. Wir haben gerade erst angefangen.«

Zwanzig Minuten nach Beendigung seines Gesprächs mit dem Präsidenten traf Blaine sich mit Johnny Wareagle in einem leeren Büro im Weißen Haus. »Ich wollte vermeiden, daß Ihr beide, Indianer, du und Sal, das Gefühl bekommt, außen vor zu bleiben«, begann McCracken, »vor allem, da ich dringend eure Hilfe brauche. Wie ich es sehe, hat Delphi unter keinen Umständen seinen gesamten Vorrat an Atomwaffen an seine internationalen Repräsentanten weitergegeben. Die Organisation wird einen Großteil der Waffen in Reserve halten, sowohl als Handelsgut für die Zukunft wie auch als Druckmittel.«

»Ich verstehe.«

»Der Großteil der Waffen muß noch in den Vereinigten Staaten sein, und wir müssen herausbekommen, wo sie versteckt werden. Ansonsten könnte Delphi sie bei einem späteren Versuch einsetzen.«

»Überlaß das Sal Belamo und mir, Blainey.«

»Übrigens mit dem Segen des Präsidenten.« McCracken hielt inne. »Es ist schon komisch, Indianer«, fuhr er dann fort, »jetzt arbeiten wir mit der Billigung von innen, so tief aus dem Inneren, wie man nur hineinkommen kann, mit allen Hilfsmitteln, die die Nation uns zur Verfügung stellen kann, und trotzdem sind wir allein.«

»Das muß nicht unbedingt von Nachteil sein, Blainey.«

»Und wieso nicht?«

»›Innen‹ ist ein Geisteszustand, kein Daseinszustand. Schon zu unseren Anfängen im Höllenfeuer haben wir immer außerhalb des Systems gearbeitet, aber nur, um besser erreichen zu können, was das System braucht. Ich habe Traggeo bis in die Sandburg Eins verfolgt. Aber als ich sah, daß er Teil eines viel größeren Ganzen war, wurde mit klar, daß er nur ein Köder war, den die Geister ausgelegt hatten, um mich dorthin zu locken.« Wareagle hielt inne und musterte McCracken bedächtig. »Zu dir und zu dem, womit wir es jetzt zu tun haben. Was wir retten müssen.«

»Sie, nicht wahr? Diejenigen, die uns denunziert und ausgestoßen haben, die nicht einmal unsere Existenz zur Kenntnis nehmen wollten. Wir haben uns durchgesetzt, obwohl sie alles darangesetzt haben, es zu verhindern.«

»Wer sind dann die wahren Außenseiter? Wir sehen uns als Teil eines Landes und einer Welt, die man manchmal vor sich selbst und ihren eigenen Exzessen retten muß. Die Machthaber sind für diese Exzesse verantwortlich oder lassen sie zumindest zu. Sie steuern und führen eine Wesenheit, über der sie stehen – wenn nicht sogar außerhalb von ihr –, und beobachten lediglich, wie sie sich entwickelt. Aber sie sehen nicht, was diese Entwicklung im Inneren bewirkt.«

»Und wir doch.«

»Jetzt verstehst du.«

»Ich glaube schon. Und demnächst werden die Geister versuchen, auch mir etwas ins Ohr zu flüstern.«

Wareagle ließ eins seiner seltenen Lächeln aufblitzen. »Vielleicht haben sie schon damit angefangen, und du mußt ihnen nur zuhören.«

Johnny hatte das Büro kaum verlassen, als auch schon Kristen Kurcell hereinplatze, sehr zum Unbehagen des FBI-Agenten, der auf sie aufpassen sollte. Sie warf dem Mann im grauen Anzug die Tür vor der Nase zu.

»Sie wollten sich wohl auf französisch verabschieden, was, McCracken?«

»Lassen Sie mich tun, was ich am besten kann, Kris.«

»Und was wird aus mir?«

»Sie bleiben am Leben.«

»Das genügt mir nicht«, sagte sie entschlossen.

»Hören Sie, Kris …«

»Erzählen Sie mir doch keinen Quatsch, McCracken. Falls Sie es vergessen haben sollten, ich stecke in dieser Sache drin. Ich habe alles aufgegeben, um herauszufinden, warum mein Bruder sterben mußte.« Sie zögerte, doch ihre Augen verloren kein Quentchen ihres Feuers. »Wissen Sie, Samantha Jordan hat mich geliebt …«

»Das habe ich schon mitbekommen.«

»… und ich habe sie getötet.«

»Das tut mir leid.«

»Mir nicht. Sie gehörte der Verschwörung an, die meinen Bruder getötet hat, und war voller Lug und Trug. Sogar, als sie mich verführen wollte, was sie mehr als nur einmal versucht hat, war die Täuschung vorhanden. Ich hätte kündigen können, habe es aber nicht getan, weil ich sie in erster Linie für meine Freundin hielt. Noch eine Lüge.«

»Vielleicht auch nicht. Sie haben eingestanden, daß sie Sie schon viel früher hätte töten können, es aber nicht getan hat.«

»Was nur in ihrem eigenen Interesse lag.«

»Handelt nicht jeder nach seinem eigenen Interesse?«

Ihr Blick wurde plötzlich unsicher. »Sie nicht.«

»Ich bin anders.«

»Ich weiß«, sagte Kristen.

Sie trat schnell einen Schritt vor, zog Blaines Kopf hinab und küßte ihn mit all der Leidenschaft, die sich in ihr aufgestaut hatte. Blaine spürte jeden Fetzen ihrer Gefühle und ihrer Furcht. Er schlang die Arme um sie und erwiderte den Kuß instinktiv. Der Augenblick zog sich dahin, bis sie die Hände auf seine Brust legte und ihn gegen die Wand zurückstieß.

»Nimm mich mit nach Südafrika«, sagte sie, nachdem sie sich schließlich von ihm gelöst hatte. Ihr Blick forderte die Antwort, die sie hören wollte.

Er hob die Hände und ergriff ihre Schultern. »Sei einfach hier, wenn ich zurückkomme, wenn das alles vorbei ist.«

»Es wird nie vorbei sein, für mich jedenfalls nicht. Mein Leben wurde in die Gosse hinabgespült.«

»Versuche zu schwimmen. Ich war auch schon da unten. Damit überlebt man, bis der richtige Augenblick kommt, wieder hinauszuklettern.«

»Und wenn ich gar nicht hinausklettern will?«

»Wirst du ertrinken.«

»Du bist ein Knallkopf, McCracken. Du bist …«

Bevor das nächste Wort über Kristens Lippen kommen konnte, hatte Blaine sie schon geküßt. Sie versuchte kurz, ihn zurückzustoßen, und gab dann nach und erwiderte seinen Kuß mit einer Leidenschaft, die nach dem ersten Kuß in nichts zurückstand.

Diesmal war es McCracken, der sich zuerst löste.

»Jetzt sind wir quitt«, sagte er.

Der Inhalt der Diskette, die McCracken von Wild Bill Carlisle erhalten hatte, war auf Festplatte geladen, ausgedruckt und an Ben Samuelson, Charlie Byrne, General Trevor Cantrell und Angela Taft verteilt worden, die sich schon ganz früh am Mittwochmorgen in einem Konferenzraum im Weißen Haus zusammengefunden hatten. Ihre Reaktionen reichten von Erschütterung über Unglauben und Fassungslosigkeit, während sie die achtzehnseitigen Ausdrucke des Dokuments durchlasen, das Akten über die einundzwanzig Männer und Frauen enthielt, die gemeinsam mit Carlisle der Organisation angehört hatten, die später zu Delphi geworden war. Vier der einundzwanzig waren gestorben, wegen Krankheit ausgeschieden, womit noch fünfzehn übrigblieben. Der Präsident betonte die Tatsache, daß einige der fünfzehn wahrscheinlich aus der Organisation ausgeschlossen worden waren oder sie – wie Bill Carlisle – freiwillig verlassen hatten. Der Rest war geblieben und bildete nun den Kern der Drohung, mit der die Regierung sich jetzt auseinandersetzen mußte.

Noch vor Beginn des Treffens hatten Eliteeinheiten unter dem Kommando General Cantrells begonnen, Miravo und alle anderen Basen, in denen Atomraketen zerlegt oder vernichtet wurden, in ihre Gewalt zu bringen. Damit war zumindest sichergestellt, daß Delphis Atomwaffenarsenal nicht noch weiter anwachsen würde.

Doch unter den gegebenen Umständen war dies keine große Beruhigung für die Mitglieder des Inneren Zirkels. Nachdem sie Carlisles Liste mit den Mitgliedern Delphis durchgelesen hatten, lehnte Charlie Byrne sich zurück und pochte mit den Knöcheln auf den Tisch. Cantrell blätterte die Seiten noch einmal durch. Samuelson schob das Dokument zurück und starrte es an, als befürchtete er, es würde ihn jeden Moment anspringen. Die Taft schüttelte den Kopf.

»Wie sicher können wir sein, daß diese Informationen tatsächlich zutreffen?« eröffnete General Cantrell das Gespräch.

»Absolut sicher«, erwiderte der Präsident. »Jeder Streit darüber wäre Zeitverschwendung und käme der alten Vogel-Strauß-Politik gleich, einfach den Kopf in den Sand zu stecken.«

»Es stehen drei Senatoren auf dieser Liste«, stellte Byrne fest.

»Und drei Militärs«, fügte Cantrell hinzu. »Ein Admiral und zwei Generäle. Alle drei Hauptbestandteile der Streitkräfte sind hier vertreten.«

»Mir bereiten die Repräsentanten aus der Privatwirtschaft größere Sorgen«, sagte Angela Taft. »Drei dieser Männer sind zu politischen Legenden geworden, ohne sich jemals für ein Amt beworben oder auch nur ein einzige Interview gegeben zu haben. Berater, die sich im Hintergrund gehalten, aber für mindestens drei Regierungen die Kastanien aus dem Feuer geholt haben, einschließlich dieser. Männer, die das Phänomen Macht verstehen und damit umzugehen wissen.«

»Wie gut kennst du die Repräsentanten aus der Wirtschaft, Charlie?« fragte der Präsident.

»Ihre Namen kennt jeder, der schon einmal das Wall Street Journal gelesen hat, soviel steht fest, Sir. Aber es geht weit darüber hinaus. Drei dieser Männer kontrollieren Firmen, die zu den größten in diesem Land ansässigen multinationalen Konzernen gehören. Und die beiden anderen sind mehrfache Milliardäre.«

»Da muß man keine großen Vermutungen mehr anstellen, woher die Mittel kamen, mit denen Delphi seine rechtsradikalen Bundesgenossen in aller Welt finanziert, nicht wahr?« fuhr der Präsident fort und wandte sich dann an Samuelson. »Also Ben, wie können wir sie uns schnappen?«

Samuelson blätterte noch immer nachdenklich die Seiten durch. »Ein koordinierter, gleichzeitig beginnender Schlag, um die Möglichkeit zu verhindern, daß einige der Repräsentanten gewarnt werden«, sagte der FBI-Boß ohne das geringste Zögern; er sah nicht einmal von dem Bericht auf. »Da wir nicht wissen, ob und welche der fünfzehn mittlerweile ausgeschieden sind, müssen wir natürlich alle festnehmen.«

»Da müssen wir in ziemlich vielen Bundesstaaten aktiv werden«, warnte der Präsident. »Ich habe mindestens zehn gezählt.«

»Wir sind darauf vorbereitet, Sir.«

»Wann kann die Aktion beginnen?«

»Wir müssen ziemlich viele Männer postieren und uns überdies noch mit der Schwierigkeit befassen, eine narrensichere Kommunikation zu errichten. Sagen wir, morgen, Donnerstag, zwischen Mitternacht und Tagesanbruch. Es würde die Sache beträchtlich vereinfachen, wenn wir die Repräsentanten alle zu Hause erwischen könnten. Natürlich gibt es noch einige Faktoren, mit denen wir uns vorher befassen müssen …«

»Machen Sie sich an die Arbeit.«

»Sollen wir die örtlichen Behörden informieren und einbeziehen?«

Der Präsident schüttelte den Kopf. »Die Leute auf Carlisles Liste haben die örtlichen Behörden wahrscheinlich in der Tasche. Auf keinen Fall. Sonst noch etwas?«

»Welche Anklage sollen wir gegen sie erheben?«

»Um Rhett Buttler zu zitieren: ›Ehrlich gesagt, mein lieber Ben, das schert mich einen Dreck.‹ Aber wie wäre es mit Landesverrat?«

Samuelson nickte; die Antwort hatte ihn zufriedengestellt.

»Kommen wir damit auch durch?« fragte Angela Taft.

»Ich glaube schon«, erwiderte Samuelson, »solange wir uns genau an die Vorschriften halten.«

»Was ist mit Dodd?«

»Er hält sich zur Zeit auf Olympus auf«, erwiderte Samuelson und bezog sich damit auf die Raumstation, die Dodd gemeinsam mit der NASA finanziert und konstruiert hatte.

»Ein gutes Timing.«

»Irgendwann muß er wieder runterkommen«, sagte Charlie Byrne.

»Und dann, Ben«, sagte der Präsident zum FBI-Direktor, »möchte ich, daß Sie dem Arschloch einen Strick um die Eier festziehen und ihn daran zum Weißen Haus schleifen.«