Zweites Kapitel

»Werft das Arschgesicht aus dem Fenster!« befahl Vincente Ventanna.

Der frettchengesichtige Mann mit dem sackartigen, buntblumigen Hemd sank flehend auf die Knie. »Bitte, Mr. Ventanna, es wird nicht wieder passieren. Ich verspreche es!«

Ventanna schniefte eine Linie Koks direkt von seiner Fingerspitze. »Du hast recht, Hector. Es wird nicht mehr passieren, weil du acht Stockwerke tiefer auf den Boden klatschen wirst.« Seine glasigen Augen kletterten an den Umrissen der Muskelberge hoch, die hinter dem Drogenhändler aufragten, der versucht hatte, ihn zu betrügen. »Luis, Jesús.«

»Bitte«, jammerte Hector, der einen intensiven Gestank nach Schweiß und altem Parfüm ausstrahlte. »Bitte!«

Doch Jesús und Luis hatten ihn bereits auf den Balkon gezogen, von dem aus man über das Meer sehen konnte. Das Schlimmste an diesem Abend war eigentlich, überlegte Ventanna, daß er nie wieder hierher zurückkehren konnte, zu seinem bevorzugten Aufenthaltsort. Key Colony lag in der Nähe des Rickenbacker Causeway im Herzen von Key Biscayne und war eine der gepflegtesten Wohnanlagen von Miami. Ventanna besaß dieses Penthouse im Tidemark-Gebäude nun schon seit ein paar Jahren. Er hatte hier eine Menge netter Parties gefeiert und eine Menge guten Stoff genossen. Der Ort hatte ihm Glück gebracht. Aber alles hat einmal ein Ende, und scheiß drauf, das Key war nicht mehr wie früher, seit der Hurrikan Andrew alle Bäume verschlungen hatte.

Er erreichte den Balkon, als es Jesús gerade gelungen war, Hectors rechte Hand vom Geländer zu reißen. »Angenehmen Flug, amigo

Ventanna blies die Überreste des weißen Puders von seiner Fingerspitze. Der Wind fing es auf und wirbelte es herum.

Jesús und Luis wirbelten Hector hinaus in die frische Nachtluft.

»Ahhhhhh!«

Hectors Schrei verlor sich, während er fiel. Ventanna erreichte das Geländer, nachdem er mit einem dumpfen Schlag auf dem Zementboden zwischen dem Gebäude und dem Schwimmbecken gelandet war.

Ventanna begann hysterisch zu lachen. »Werft das Arschgesicht aus dem Fenster«, stieß er zwischen schallendem Gelächter hervor, wobei er jeweils einen Arm um die Schultern seiner Henker legte. »Werft das Arschgesicht aus dem Fenster!«

Seine Augen tränten vor Lachen, und er wischte sie mit einem Ärmel trocken, während er zurück in den Wohnraum taumelte. »Okay, Marco, wen haben wir als nächstes?«

Ein Mann in einem pfirsichfarbenen Anzug löste sich von der Tür, die in eins der Schlafzimmer führte. »Diesen Vogel, der in der Gegend von South Beach nach dir gefragt hat. Wir haben ihn im Strumpet's aufgegriffen.«

Das Lächeln verschwand von Ventannas Gesicht. »In einem Schwulentreff?«

Marco zuckte mit den Schultern.

»Du willst mir sagen, daß dieser Vogel in einem Schwulentreff nach Vincente Ventanna gesucht hat?«

Marco nickte.

Ventanna begann wieder zu lachen. »Ich werde das Arschgesicht ebenfalls aus dem Fenster werfen.«

Fast hysterisch ließ sich Ventanna in seinen Sessel fallen und bedeutete durch eine Bewegung, daß der Mann in den Wohnraum gebracht werden sollte. Er tauchte zwischen zwei Muskelbergen auf, die Zwillingsbrüder von Jesús und Luis hätten sein können. Maschinenpistolen hingen an ihren Schultern. Der Kerl selbst war ziemlich groß, sein Oberkörper formte ein muskulöses V. Er hatte einen schmuddeligen, kurzgeschnittenen Bart, lockige Haare und die dunkelsten Augen, die Ventanna jemals gesehen hatte. Seine Arme waren vor ihm zusammengebunden, und die hochgerollten Ärmel enthüllten kräftige, sehnige Unterarme. Der Kerl hatte ein hartes Gesicht, das keinen unnötigen Ausdruck verschenkte. Es war schmal und knochig, dünne Linien zerfurchten seine Stirn, und zahllose Schatten verbargen seine Geheimnisse. Für Ventanna war der Mann so gut wie tot, doch wenn er ihn ansah, hatte er den Eindruck, als habe der andere ihn in der Hand.

Ventanna machte es sich in seinem Sessel bequem und nippte von seinem riesigen Wodkaglas mit Eiswürfeln. »He, amigo, warum suchst du mich in einem Schwulentreff?«

Die schwarzen Augen blinzelten nicht einmal. »Schien mir der beste Ort zu sein, um das größte Arschloch in Miami zu finden.«

Ventanna spie den Wodka wieder aus, den er noch im Mund gehabt hatte. »He, du hast echt Humor. Du bist ein komischer Vogel.« Er schob sich wieder auf die Füße und bemerkte eine unregelmäßige Narbe, die sich über die linke Augenbraue des großen Mannes zog. »Ich mag das. Du weißt also auch, was ich tun werde.«

»Ich kann kaum erwarten, es zu hören.«

»Ich werde dich Arschgesicht aus dem Fenster werfen.«

Ventanna hatte den Satz kaum beendet, als ihn auch schon wieder ein Lachanfall schüttelte. Er sah hoch und bemerkte zu seiner Überraschung, daß der bärtige Mann mit ihm lachte.

»Du findest das lustig, amigo!«

»Nein, ich finde dich lustig.«

Jesús und Luis berührten die Neun-Millimeter-Pistolen der Marke Glock, die in ihren Gürteln festgeklemmt waren. Ventanna winkte ab.

»Du hast Mut, wie? Du bist ein ääächt harter Kerl.«

»Nur ein paar Fragen, dann gehe ich.« Die dunklen Augen des Mannes sahen ohne jeden sichtbaren Ausdruck zum Balkon hinüber. Vielleicht spannten sich die Muskeln in seinen Unterarmen ein wenig. Die Schatten in seinem Gesicht schienen sich auszudehnen, drohten, es zu verschlingen. »Ich werde sogar den unplanmäßigen Flieger namens Hector vergessen.«

Ventanna trat torkelnd einen Schritt vor. »He, ich bin dir ja so dankbar, Mann. Ich glaube, das werde ich dir nie vergessen.«

»Du hast die Wahl, Ventanna. Die sanfte oder die harte Tour.«

Ventanna trommelte mit einem Finger gegen eine unsichtbare Wand. »Weißt du, ich hätte dich vielleicht gehen lassen, wenn du nicht ausgerechnet in einem Schwulentreff nach mir gefragt hättest. Ich könnte über alles hinwegsehen, aber darüber nicht. Du weißt also, was ich jetzt tun werde?«

»Mich Arschgesicht aus dem Fenster werfen?«

»Du kapierst schnell, amigo.« Er schaffte es nicht, seine drogenvernebelten Augen auf die schwarzen Augen des großen Mannes gerichtet zu halten. »Jesús, Luis!«

Die beiden Monster traten vor und ergriffen den Gefangenen von beiden Seiten. Die beiden, die ihn bisher gehalten hatten, traten unterwürfig zurück.

»Werft das Arschgesicht aus dem Fenster!«

Jesús schlug dem großen Kerl in den Magen, brachte ihn zum Taumeln. Luis tat es ihm mit einem Schlag des Ellbogens gegen den Hinterkopf gleich, der ihn auf den Marmorboden schickte.

»Die haaarte Tour«, höhnte Ventanna. »Ich habe die harte Tour gewählt.«

Sie zogen den großen Mann auf den Balkon. Ventanna kam bis zur gläsernen Schiebetür, als sie ihn gerade wieder auf die Füße hievten. Sein Kopf hing über das Geländer.

»Tschüß denn.«

Ventanna wedelte wie ein unbeholfenes Kind mit der Hand und lachte, während seine Kolosse den großen Kerl über das Geländer zu schieben begannen.

Und dann geschah etwas.

Da sein Bewußtsein eingelullt war von den Drogen, die er den ganzen Abend über eingeworfen hatte, nahm Ventanna die Vorgänge wie langsame, surreale Bewegungen wahr. Zuerst kamen die Arme des großen Kerls, die plötzlich nicht mehr gefesselt waren, hinter den Köpfen der Kolosse hoch. Dann war sein ganzer Umriß hinter ihnen, riß die Muskelberge an ihren Kragen kraftvoll zurück und stieß sie mit gleicher Kraft nach vorn.

Die beiden Kolosse flogen schreiend über den Balkon. Die durch ihre Gürtel gesteckten Glock-Pistolen fanden sich in den Händen des großen Mannes wieder. Sie kamen hoch, während Ventanna nur dastand und seine Füße in den Marmorboden flossen.

Die beiden anderen Kolosse im Hintergrund des Wohnraums versuchten vergeblich, ihre Maschinenpistolen von den Schultern zu bekommen. Blaine McCracken schoß sie beide nieder, bevor auch nur einer den Abzug berühren konnte. Der Mann im pfirsichfarbenen Anzug hatte seine Pistole freibekommen und zielte mit ihr. Doch McCracken duckte sich hinter der Deckung, die der erstarrte Ventanna ihm bot. Als der Mann zögerte, schoß McCracken ihm zwei Neun-Millimeter-Kugeln in die Brust. Sein pfirsichfarbener Anzug verfärbte sich rot.

Blaine griff nach dem noch immer wie gelähmt dastehenden Ventanna und schlug ihn gegen den Balkon. »Du hättest die sanfte Tour wählen sollen.«

»W-w-wer sind Sie?«

»Der Mann, der dich Arschgesicht aus dem Fenster werfen wird.«

»Nein! Bitte! Biiitte! Sagen Sie, was Sie von mir wollen.«

»Könnte schon zu spät dafür sein«, sagte Blaine und schob Ventannas Kopf weiter über das Geländer.

»Bitte, amigo!«

Blaine zog ihn zurück. »Eine Chance, Ventanna.«

»Ja! Egal was! Egal was!«

»Das ist gut.«

Cassas stand an der Ecke Florida Avenue und Mayfair Boulevard im Stadtteil Coconut Grove in Miami. Er haßte, was er um sich herum sah, und er freute sich auf das, was daraus werden sollte. In diesem Viertel drängten sich Abend für Abend jede Menge Leute bis in die frühen Morgenstunden. Der Platz auf den Bürgersteigen und in den Bars war fest zugeordnet, und keiner war bereit zu weichen. Man kam nirgendwo hin, ohne jemanden anzurempeln oder angerempelt zu werden. Salsa und Rockmusik drangen aus überfüllten Bars in die Straßen, widerstreitende Songfetzen vermengten sich zu einem sinnlosen Kreischen. Teenager schoben sich um die Eingänge und sahen den meist im College-Alter befindlichen Stammgästen neidisch nach, warteten auf den geeigneten Augenblick, um sich mit ihnen einzuschleusen. Mit nüchternen Augen betrachtet, war es ein einziges Chaos.

Niemand im Grove achtete auf Cassas. Er hatte einen Großteil seines Lebens damit verbracht, sich unauffällig unter Leuten zu bewegen. Es war besonders einfach, sich hier unauffällig unter all den Passanten zu bewegen, die sich für niemanden interessierten, den sie nicht kannten. Was auch immer er tat oder vorhatte, er war unsichtbar. Das Funktelefon in der Innentasche seines Jacketts war als deutliche Ausbeulung zu erkennen, und Cassas hielt den Blick auf das Cocowalk-Zentrum auf der anderen Straßenseite gerichtet. Stampfende Akkorde von Rockmusik klangen daraus hervor; dort hatte um Mitternacht ein Live-Konzert begonnen. Ein neuer Titel setzte gerade ein: ›Sympathy for the Devil‹ von den Rolling Stones. Cassas nickte. Wie passend.

Aus dem Himmel über ihm stieß ein Hubschrauber hinab, um seinen Suchscheinwerfer genauer auf diese zusammengepferchte Masse dekadenter Menschheit zu richten. Auf Cassas wirkte es wie in einem dieser alten Kriegsfilme, in dem das Suchlicht über dem Gefangenenlager hin und her schwenkt, um in einer langen Nacht mögliche Flüchtlinge zu entdecken. Nun, auch das war ein Gefängnis, nur, daß hier niemand entkommen würde.

Cassas sah wieder nach oben. Der Hubschrauber kreiste weiter und schnitt klar umrissene Muster aus dem Himmel.

Es wird nicht mehr lange dauern, überlegte er, als er fast mit einem großen, bärtigen Mann in einem weißen Anzug zusammenstieß. Nicht mehr lange.

McCracken hatte den Mann zuerst für betrunken gehalten, doch dann hatte er bemerkt, daß er nur nach oben zu dem Hubschrauber sah, der die Dunkelheit mit seinem Suchlicht zerschnitt. Blaine schwenkte von der Florida Avenue auf den Mayfair Boulevard und näherte sich dem Mittelpunkt von Coconut Grove: Cocowalk, ein offener Gebäudekomplex mit vier Etagen, der aus Läden und Boutiquen bestand, die zwischen zahllosen Nachtclubs eingezwängt waren. Er hatte Vincente Ventanna vor nur zwei Stunden gefesselt und geknebelt in einem Lagerraum in der Tiefgarage des Tidemark in der Key Colony zurückgelassen. Es ging jetzt auf ein Uhr morgens zu, und die Nacht im Grove heizte sich noch immer auf. Heiße Gitarrengriffe kämpften mit einem Möchtegern-Mick-Jagger um die Lufthoheit, während noch immer ›Sympathy for the Devil‹ spielte.

»Ich suche nach einem Waffenschmuggler«, hatte McCracken auf dem Balkon der Penthouse-Wohnung zu Ventanna gesagt, während das Geheul sich nähernder Sirenen durch die Nacht zu ihnen klang. »Nennt sich Manuel Alvarez. Ich glaube, du kennst ihn.«

»Ja, aber er ist eigentlich nur wie ein Fremder …«

McCracken drückte Ventannas Oberkörper über das Geländer. »Du hast dich entschieden, in das Waffengeschäft einzusteigen, Ventanna, und Alvarez hat sich bereit erklärt, dein Lieferant zu sein. Er beliefert im übrigen halb Florida. Wie ich mitbekommen habe, sollen die Schulen jetzt ein großer Markt sein. Ich will den Kerl haben.«

Ventanna sah ängstlich in Blaines Augen. »Ich weiß nicht, wer Sie sind, amigo, aber Sie werden niemals auch nur in die Nähe von Alvarez kommen.«

»Nein, Vincente. Aber du. Du hast für heute abend ein Treffen mit ihm vereinbart. Und du wirst mir jetzt sagen, wo.« McCracken lockerte seinen Griff und strich Ventannas Revers gerade. »Und du wirst mir einen Anzug borgen.«

Da Ventanna seine Kleider lang und übergroß trug, saßen sie ganz annehmbar. Akzeptabel war auch die Bestätigung des Drogenhändlers, daß er heute abend den geheimnisvollen Alvarez tatsächlich zum erstenmal treffen wollte. Er sollte den Baja Beach Club in Cocowalk durch den Eingang in der zweiten Etage betreten und einen weißen Anzug mit einer Rose am rechten Revers tragen. Leute von Alvarez würden dort auf ihn warten.

Als McCracken in den palmengesäumten Innenhof des Cocowalk trat, wurde er sich augenblicklich bewußt, wie sehr er aus der Menge hervorstach. Es waren kaum Erwachsene hier, mit Sicherheit keine seines Alters, und seine Kleidung paßte überhaupt nicht. Niemand in Sichtweite trug einen Anzug, wodurch die Leute von Alvarez um so leichter den Mann ausmachen konnten, den sie für Ventanna hielten, sobald er den Baja Beach Club betrat. Das Suchlicht des Hubschraubers drang von oben durch die dachlose Gebäudekonstruktion und erwischte ihn kurz. Die Menge klatschte Beifall und johlte. ›Sympathy for the Devil!‹ war zu Ende, und der Sänger der Band kündigte als nächstes einen Song von Led Zeppelin an.

Das Konzert fand auf einer behelfsmäßigen Bühne statt, die auf einem Zwischengeschoß unterhalb der zweiten Etage errichtet worden war. Die Spitze des Cocowalk-Zentrums war mit goldenen Intarsien verziert, doch in den unteren Ebenen herrschten elegante Pastelltöne vor. Händler, die sich keine gläserne Schaufensterfront leisten konnten wie Gap, The Limited, Victoria's Secret oder B. Dalton, boten ihre T-Shirts oder ihren Modeschmuck von Handkarren oder Kiosken feil, die überall aufgebaut waren, wo sie sich dazwischen quetschen ließen.

McCracken stieg zur Balkonebene der zweiten Etage hinauf. Er ging an einer Bar namens Fat Tuesday vorbei und näherte sich dem Eingang des Baja Beach Club unmittelbar rechts neben einem Restaurant, das sich Big City Fish nannte. Vor dem Eingang hatte sich eine Schlange gebildet, doch Blaine zückte Ventannas graue persönliche Mitgliedskarte und ging einfach durch. Seine Ohren wurden augenblicklich beleidigt durch das krächzende Jaulen einer Stimme, die einen Songtext zur Begleitung einer Karaoke-Maschine von sich gab. Der Text rollte auf einer Leinwand eines größeren Innenraums ab, während ein fast kahlköpfiger Stammgast um Annäherung an Bob Dylans Klassiker ›Tangled Up in Blue‹ kämpfte. Nur wenige der jüngeren Stammgäste des Baja Beach Club schienen zu kennen, was er sang. Mit Bikinis bekleidete Kellnerinnen trugen Tabletts mit vielfarbigen Drinks.

»Body Shots!« rief eine über das Getöse hinweg. »Body Shots!«

»Mr. Ventanna?«

Blaine wandte sich nach rechts und sah einen jungen Mann, der einen weiten olivfarbenen Anzug trug.

»Mr. Alvarez wartet oben. Wenn Sie mir bitte folgen wollen …«

Sie gingen auf einen Durchgang zu, über dem ein Pfeil nach oben wies. Die Tür führte ein Stück hinaus und zu einer schmalen Steintreppe. In der zweiten Etage des Baja Beach Club, der dritten des Cocowalk, drängten sich noch mehr Leute auf engstem Raum. McCracken folgte dem jungen Mann durch eine Menge, die laut genug war, um den Titel von Led Zeppelin zu übertönen, der auf der ersten Ebene herausgehämmert wurde. Blaine sah einen überdachten Balkon direkt über sich, der seltsam verlassen wirkte, wenn man den hervorragenden Überblick bedachte, den er auf das ganze Geschehen bot. Drei Gestalten lehnten an dem zur anderen Seite gewandten Geländer. Zwei weitere, die Wache am Zugang zum Balkon hielten, ließen McCrackens Begleiter durch, ihn selbst aber nicht. Der Begleiter ging zu dem Geländer hinüber und sprach kurz mit der kleinsten der drei Gestalten. Sie wandte sich um und sah zu McCracken herüber.

Es war ein Junge; er war sechzehn, vielleicht siebzehn und trug weite Jeans mit Aufschlägen sowie ein Seidenhemd mit Blumenaufdruck. Seine dunklen, lockigen Haare wirkten feucht wie durch ein Gel oder Frisierschaum. In seinem stark gebräunten Gesicht saßen die strahlendsten blauen Augen, die Blaine jemals gesehen hatte.

»Ich bin Carlos Alvarez«, sagte der Junge, als er sich McCracken näherte.

Er streckte nicht die Hand aus. Auch Blaine tat es nicht.

»Ich sollte hier Manuel treffen.«

»Nun ja, mein Vater trifft sich nicht mit jedem.« Der Junge hielt inne. »Bist du bewaffnet?«

»Eure Anweisungen besagen, daß ich unbewaffnet kommen soll, amigo.« McCracken folgte ihm und mußte sich anstrengen, um sein Entsetzen über die Tatsache zu verbergen, daß die größte Waffenschmuggelorganisation Südfloridas von einem Gespann aus Vater und Sohn geleitet wurde.

»Ich bin nicht dein amigo«, erklärte ihm der Junge in bestem Englisch. »Du willst Geschäfte machen. Fangen wir damit an.«

Ein Klapptisch war auf dem Balkon aufgestellt worden, und zwei der Handlanger des Jungen führten Blaine darauf zu. Von hier aus ließ sich das ganze Cocowalk-Zentrum übersehen. Zum erstenmal hatte McCracken direkte Sicht auf das Cineplex, das die vierte Etage ausmachte, und auf die orientalisch wirkenden Ausläufer des U-förmigen, offenen Dachs, das sich um den Innenhof zog.

»Bist du sicher, daß du keine Waffen trägst?« fragte Alvarez und nahm den Sitz ihm gegenüber ein. Der Junge hatte sowohl ein Bier als auch ein schäumendes, pinkfarbenes Gebräu in seiner Reichweite, doch schien es ihm mehr zu bedeuten, geräuschvoll einen Kaugummi in seinem Mund zu bearbeiten. »Ich meine, ich möchte nicht, daß wir gleich mit einem Mißverständnis beginnen.«

»Was soll denn das?« entgegnete Blaine und riß seine Jacke auf, damit die Handlanger ihn filzen konnten.

»Ich wollte dir nur eine Chance geben, die Sache wieder auszubügeln, falls du Mist gemacht hast.«

»Vincente Ventanna hat sein Wort gegeben«, sagte Blaine mit nicht mehr als der notwendigen Härte, während einer der Laufburschen des Jungen ihn abtastete.

Der Junge lehnte sich ein wenig nach vorn. Ein Lächeln mit einer breiten Reihe weißer Zähne zog sich über sein Gesicht.

»Das Problem ist, amigo, du bist nicht Ventanna.«