Zweiundzwanzigstes Kapitel

Die Limousine fuhr schnell durch die Straßen Washingtons, und ihr Insasse konnte es kaum abwarten, die Stadt, über die sich die Dunkelheit senkte, hinter sich zu lassen.

»Alles klar, Sir«, informierte die Stimme des Fahrers den einzigen Passagier.

»Sie kennen die Strecke.«

»Natürlich, Sir«, erwiderte der Fahrer, der hinter der geschwärzten Abtrennung nur als verschwommener Umriß zu erkennen war.

Die letzten zwanzig Minuten hatte der Fahrer damit verbracht, sich zu überzeugen, daß sie nicht beschattet wurden. Es handelte sich bei ihm um einen Profi, der schon zahlreiche komplizierte Überwachungsoperationen ausgeführt hatte. Er kannte alle Tricks und wußte dementsprechend auch, wie er sie neutralisieren konnte.

Als der große Wagen auf den Beltway zuhielt, öffnete sein Passagier eine lederne Aktentasche, die zwischen seinen Beinen gestanden hatte. Darin befand sich ein modernes Kommunikationssystem von der Größe eines kleinen Fernsehapparats. Er hob es mit beiden Händen heraus und stellte es auf den im Rücksitz eingebauten Sockel. Dann rollte er ein Verbindungskabel zu einem ebenso eingebauten Computer aus und stöpselte es ein. Er schaltete den Computer ein und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Sockel.

Das Kommunikationssystem darauf hatte eine schlichte, viereckige Oberfläche, die wie die eines üblichen, wenn auch hochmodernen Telefons aussah. Es gab keinen Hörer, nur die ovalen, punktierten Löcher eines Lautsprechers. Das Drucktastenfeld darunter verfügte über doppelt so viele Ziffern wie ein normaler Apparat; hinzu kam ein halbes Dutzend weiterer Tasten mit unterschiedlichen Symbolen darauf. Links davon vereinnahmten sieben elektronische Zeilen mit LED-Anzeige den Rest der Oberfläche. Der Mann beugte sich etwas vor und berührte eine kleine Taste, die das System aktivierte.

Augenblicklich blitzten vier der sieben LED-Anzeigen auf, ein Hinweis darauf, daß drei weitere schon aktiviert waren und darauf warteten, daß die Konferenz begann. Die roten Buchstaben – alles Versalien – nannten die bereits angeschlossenen Länder: ENGLAND, FRANKREICH, DEUTSCHLAND.

Auf der vierten Anzeige – der seinen – stand WASHINGTON.

JAPAN und JOHANNESBURG hatten sich verzögert, während die siebte Anzeige, der einzige Sprecher, der unidentifiziert bleiben würde, sich erst dazuschalten würde, nachdem alle anderen ihre Bereitschaft signalisiert hatten.

Der Mann in der Limousine wartete ungeduldig.

Da moderne Verzerrer eine Stimmerkennung unmöglich machten, zeigten die oberen sechs LED-Anzeigen allen Gesprächsteilnehmern an, wer sich gerade zu Wort meldete. Wenn der unidentifizierte Vorsitzende sprach, blinkte einfach die siebente und unterste Anzeige auf.

JAPAN schaltete sich dazu. Ein paar Sekunden später leuchtete auch JOHANNESBURG rot auf, womit nur die unterste Anzeige noch nicht aktiviert war. Als die Stimme des Vorsitzenden die Konferenz dann eröffnete, färbten sich auch deren Flüssigkristalle.

»Kommunikations-Check«, sagte die synthetische Computerstimme, die mit denen der sechs anderen Sprechern identisch war. »England.«

»Hier.«

»Deutschland.«

»Anwesend.«

»Japan.«

»Ja.«

»Frankreich.«

»Anwesend.«

»Johannesburg.«

»Hier.«

»Und Washington.«

»Anwesend«, antwortete der Mann auf dem Rücksitz der Limousine.

Traditionsgemäß wurde derjenige, der eine außerordentliche Konferenz einberufen hatte, immer als letzter genannt. Die heutige Beratung stellte keine Ausnahme dar.

»Sprechen Sie, Washington«, befahl die unidentifizierte Stimme.

»Es haben sich Komplikationen ergeben.«

»Ernste?«

»Ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht abzuschätzen.«

»Wurden die Delphi kompromittiert, Washington?«

»Noch nicht«, erwiderte der Mann und betonte dabei das erste Wort. »Aber die gebilligte Strategie, die sich mit McCracken befassen sollte, ist gescheitert.«

»Sie wollen also sagen, daß er seine erwartete Begegnung mit Cleese überlebt hat«, folgerte England.

»Und alles deutet darauf hin, daß Cleese ebenfalls entkommen ist.«

DEUTSCHLAND blitzte als nächster Sprecher auf. »Nachdem es Ihnen nicht gelungen ist, McCracken mit dem Sprengstoff an Bord dieses Flugzeugs zu töten, haben Sie doch gesagt, nun könnten wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Und jetzt gestehen Sie ein, daß beide entwischt sind.«

»Ich übernehme die Verantwortung.«

JAPAN ersetzte WASHINGTON. »Wissen wir, wo McCracken ist?«

»Nein.«

FRANKREICH. »Haben wir eine Ahnung, wo er demnächst auftauchen wird?«

»Zu diesem Zeitpunkt lautet die Antwort ebenfalls nein.«

ENGLAND. »Wie sollen wir dann der Versicherung Glauben schenken können, daß die Delphi nicht kompromittiert wurden?«

»Und der, daß unsere derzeitige Operation steril bleibt«, fügte DEUTSCHLAND hinzu.

»Habe ich etwas verpaßt?« fragte JOHANNESBURG. »Sprechen wir hier von einem einzigen Mann?«

Der nicht identifizierte Gesprächsteilnehmer antwortete darauf. »Tun Sie doch nicht so naiv. Sie alle wurden darauf hingewiesen, daß McCracken dafür bekannt ist, sich mit solchen Situationen zu befassen.«

DEUTSCHLAND. »Ich hätte gedacht, unter diesen Umständen würde er es in Erwägung ziehen, sich uns anzuschließen.«

»Dann studieren Sie noch einmal seine Akte.«

FRANKREICH. »Die Frage bleibt bestehen, was wir mit ihm machen.«

»Ich bin vorerst damit zufrieden, daß McCracken bislang keine Informationen bekommen hat, die ihn entweder auf unsere Existenz oder aber auf das Ausmaß unserer Operation hinweisen könnten. Nun müssen wir uns damit befassen, wie wir in den letzten Tagen vor dem Beginn der Aktion beides geheimhalten können. Und mit dem im Sinn, WASHINGTON, sollten Sie uns nun erläutern, welche andere Komplikation Sie dazu gebracht hat, diese Konferenz einzuberufen.«

»Miravo ist kompromittiert worden«, sagte der Mann auf dem Rücksitz der Limousine. »Und als direkte Folge der Art und Weise, wie die Angelegenheit vor meiner Beteiligung gehandhabt worden ist, kam Senatorin Samantha Jordan heute ums Leben.«

»Ein weiteres Versagen Ihrerseits?«

»Nein, ENGLAND, ein Versagen der Jordan. Sie hat versucht, eine Untergebene anzuwerben, statt die vorgeschriebene Handlungsweise zu befolgen. Wir haben diese Untergebene nun im Gewahrsam und müssen herausfinden, ob sie die Informationen, die sie besitzt, noch an andere Personen weitergeben konnte.«

»Darüber hinaus«, erklärte der Vorsitzende, »habe ich vorgeschlagen, unsere letzten Vorräte von Miravo wegzuschaffen.«

»Warum verschiffen wir das Material nicht einfach vor dem Zeitplan?« fragte JAPAN:

»Wir können nichts dergleichen versuchen, bis wir genau wissen, ob die Untergebene der Senatorin ihre Kenntnisse nicht doch weitergegeben hat. Ich versichere Ihnen, daß der Zeitplan der Operation dadurch nicht beeinträchtigt wird.«

»Es ist schwierig, solch eine Versicherung zu akzeptieren, solange Sie uns nicht über die Einzelheiten dieses Zeitplans aufgeklärt haben.«

»Dann werde ich dies jetzt nachholen«, erwiderte der unbekannte Vorsitzende. »Am Dienstag in einer Woche, am 26. April, wird der Präsident dem Kongreß seinen neuen Wirtschaftsplan erläutern. Zu diesem Zeitpunkt wird er vor den Augen der Öffentlichkeit mit dem Großteil jener Personen, die dieses Land regieren, ermordet werden.«

Der Vorsitzende wartete auf eine Reaktion. Als keine kam, fuhr er fort. »Das Militär wird gezwungen sein, gewisse Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Ordnung einzuleiten. Unsere Repräsentanten in der militärischen Führung werden dann die Verfassung außer Kraft setzen, damit eine außerordentliche Neuwahl des Präsidenten stattfinden kann. Und es wird nur einen würdigen Kandidaten geben, meine Herren, nur einen.«

Die Stimme des Vorsitzenden wurde wieder von Schweigen ersetzt, aber diesmal war es die Stille der Akzeptanz, der Ehrfurcht.

Und Zwangsläufigkeit.

Nach dem Ende der elektronischen Konferenz blieb Sam Jack Dodd hinter seinem Schreibtisch sitzen und betrachtete das Kommunikationssystem, das nach seinen genauen Anweisungen konstruiert worden war.

Der charismatische Milliardär, der Mann mit den Händen, unter deren Berührung alles zu Gold wurde und der das größte Kommunikations-Konglomerat der Welt beherrschte, war vor einem Jahrzehnt der Trilateralen Kommission beigetreten und schnell zu einem ihrer freimütigsten Unterstützer geworden. Aber noch schneller zu einem ihrer frustriertesten. Dodds erste Eindrücke hatten sich als genauso angenehm erwiesen wie seine späteren als frustrierend. Hier hatten sich die größten Köpfe der Nation zusammengetan, um die Marschrichtung der Weltpolitik festzulegen und sie zu einem würdigen und vereinten Ziel zu führen. Doch der Bereich ihrer greifbaren Erfolge war unendlich klein. Die Trilaterale Kommission war nicht imstande, schnell genug auf die sich stets verändernde Dynamik zu reagieren. Sie war nicht proaktiv, sondern reaktiv. Besprechungen führten zu nichts, gutbesuchte Konferenzen waren nur wegen der kategorischen Brillanz der Männer und Frauen beeindruckend, die sie anzogen.

Dodd stellte seine Aktivitäten ein.

Doch dann nahm eine andere Gruppe Kontakt mit ihm auf, eine Gruppe, die er für einen toten Ableger der Trilat hielt, deren Ansichten den seinen nahekamen. Sie nannten sich die Delphi, nach dem griechischen Orakel, dessen Ratschläge das Geschehen und damit die Geschichte bestimmten. Genauso sahen sich schließlich die Mitglieder der Organisation, die sich von einem Unterausschuß zu einer eigenständigen Wesenheit entwickelt hatte. Und sie waren nur einen Schritt davon entfernt, ihre große Vision zu verwirklichen.

Sam Jack Dodd wurde zu diesem letzten Schritt. Im Verlauf der nächsten paar Jahre ergriff er das Ruder und trug dazu bei, die Delphi in diese Richtung zu lenken. Jede Strategie, jeder Schachzug wurde mit einem bestimmten Tag im Sinn eingeleitet. Einem Tag, an dem sich das Land – und die Welt – für immer verändern würden.

Der Tag Delphi.

Die Expansion verlief stufenweise; man bildete eine Machtbasis und baute auf ihr auf. Die Delphi übernahmen die internationalen Ziele, die in der Charta der Kommission festgelegt worden waren, von der Trilat jedoch nur überaus bescheiden verwirklicht wurden. Die ursprünglichen Trilateristen hatten eine ähnliche Vision gehabt, waren jedoch nicht bereit gewesen, die Schritte zu unternehmen, die dazu nötig waren, um sie zu verwirklichen. Ihre Brillanz brachte Vorsicht und Dünkel mit sich. Sie waren der Ansicht, ihre Logik sei so vernünftig, daß jedermann sich ihr irgendwann freiwillig und unausweichlich anschließen würde. Die Delphi hingegen wußten, daß derselbe Einfluß erzwungen und aus der Notwendigkeit erzeugt werden mußte. Aus der Saat, die die Kommission gepflanzt hatte, waren auf der ganzen Welt Männer und Frauen hervorgegangen, die derselben Ansicht waren. Ein Geheimbund hatte sich gebildet, ein ungeduldiger Kader, der nur auf einen Mann wie Samuel Jackson Dodd wartete, der alles zusammenfügen konnte.

Doch letztlich hatte Verzweiflung den endgültigen Zeitplan diktiert. Dem Land und der Welt blieben keine Möglichkeiten mehr. Sie war immer tiefer in den Abgrund gerutscht, ins wirtschaftliche Chaos gestürzt. Niemand hatte auch nur versucht den Trend umzukehren. Das überraschte Dodd nicht gerade. Man durfte nicht an den Symptomen herumdoktern, die einzige Hoffnung bestand in einer Radikalkur. Aber die Menschen mußten sie auch wollen. Die Menschen mußten ihn wollen.

Die Idee – die Gunst der Stunde zu nutzen, indem er mit seinen Ansichten an die Öffentlichkeit ging und eine Kampagne startete, die ihn an den Rand der Präsidentschaft brachte – erwies sich als genauso verlockend, wie sie brillant war. Dodd hatte mit großem Interesse den fehlgeschlagenen Wahlkampf von Ross Perot beobachtet und war von dessen gewaltigem, letztlich aber verschwendetem Potential fasziniert worden. Perots Versuch hatte zumindest bewiesen, daß es geschehen konnte, daß das Land bereit war, einen politischen Außenseiter zu wählen.

Den richtigen Außenseiter.

Dodd hatte Perots Fehler studiert, weil er sie bei seinem Versuch nicht wiederholen wollte. Dem Mann mangelte es an Charisma. Er sprach in Allgemeinplätzen und war bei den Medien nicht besonders gut gelitten. Dodd sorgte dafür, daß die Medien ihn mit offenen Armen willkommen hießen, und schwor sich, niemals einer Frage auszuweichen oder auf Ausflüchte zurückzugreifen. Und das Charisma war für ihn nie ein Problem gewesen. Er ging mit einem beträchtlichen Vorsprung an den Start; sowohl seine Anerkennung als auch sein Bekanntheitsgrad waren wesentlich höher, als es bei Perot am Anfang der Fall gewesen war.

Doch im Gegensatz zu Perot hatte er nicht die Absicht, auf die Präsidentenwahl zu warten, um seinen Eifer unter Beweis zu stellen. Selbst wenn er gewinnen sollte, wäre es einem gewöhnlichen Präsidenten, der von den derzeitigen Beschränkungen und Restriktionen des Amts eingeengt wurde, gar nicht möglich, die drastischen Veränderungen zu bewirken, die nötig waren, um die USA und die Welt zu retten.

Diese Maßnahmen waren jedoch nötig, um das einzudämmen, was laut allen Analysen nicht nur einen exponentiellen Verschleiß der nationalen Wirtschaft, sondern auch einen Zerfall ihrer Gesinnung darstellte. Jeder Monat, der verstrich, war gleichbedeutend mit einem weiteren irreparablen Schaden.

Gewissermaßen bestärkte die Erkenntnis, daß die Wirklichkeit zu einem Gottesgeschenk geworden war, seine Entschlossenheit und drängte ihn geradezu in die Rolle, sich dem Volk als jener Erlöser anzubieten, für den es ihn halten mußte. Da die nächste Wahl noch weit entfernt war – eine Wahl, die niemals stattfinden würde –, blieb ihm die Notwendigkeit erspart, einen Wahlkampfrummel zu veranstalten und sich gewissen politischen Zwängen zu unterwerfen. Und doch lernte die Öffentlichkeit sein Dogma zu schätzen und seine Botschaft der Hoffnung und Veränderung zu lieben. Wenn der Tag Delphi kam, würden sie sich um ihn scharen.

Dodd zögerte nicht, sich der Aufgabe zu stellen. Das Ausmaß dessen, was er versuchte, jagte ihm keine Angst ein. Es war lediglich der nächste logische Schritt in der Weiterentwicklung seines Lebens. Seine Existenz hatte keinen anderen Sinn, er hatte kein anderes Ziel. Die Pflicht war zu einer Besessenheit geworden. Sam Jack Dodd konnte sich nicht mehr mit weniger zufriedengeben. Alles, was er an diesem Land liebte, alles, was ihm sein Dasein ermöglicht hatte, lag im Sterben. Um es am Leben zu halten, mußte ein schrecklicher Preis bezahlt werden, aber es ging um das Überleben der Nation, und dafür war kein Preis zu hoch. Also würden nur wenige die Wahrheit einsehen, doch letztlich würden alle sie akzeptieren müssen.

Wie sie ihn würden akzeptieren müssen, wenn in kaum neun Tagen der Tag Delphi dämmerte.