Achtunddreißigstes Kapitel

Auf die Puppen, die zuerst abgeworfen worden waren, wurde nur von der Spitze des Washington Monuments aus geschossen. Colonel Tyson Gash von der Polizeibrigade nahm die nicht angezündete Zigarre aus dem Mund und sprach mit der ihnen folgenden C-130.

»Heiland Zwei, feindliche Stellung auf der Spitze des Monuments. Unter Beschuß nehmen!«

»Das Monument unter Beschuß nehmen, Sir?«

»Das ist ein Befehl, Mann! Wir müssen unsere Leute sicher runterbringen.«

»Roger, Sir.«

Als Heiland Zwei unter dem Flaggschiff der Polizeibrigade abdrehte, nahm der Bordschütze die Spitze des Washington Monument mit den beiden auf den Flügeln befestigten 20-Millimeter-Vulcan-Minikanonen der C-130 unter Feuer. Mit beiden Daumen drückte er die roten Feuerknöpfe. Dreihundert Metallgeschosse verließen die zwei mal sechs rotierenden Mündungen, während der Schütze die Augen geschlossen hielt. Er öffnete sie erst wieder, als die C-130 ihr Ziel überflogen hatten.

Die Vulcan-Geschütze hatten den oberen Teil des Denkmals glatt abrasiert. Die zulaufende Spitze des Obelisken war verschwunden, so daß der Stein mit einem gezackten Rand aufhörte. Die drei Stockwerke darunter waren von dem 20-Millimeter-Feuer geschwärzt worden und sahen aus, als würden sie beim nächsten Windstoß zusammenbrechen.

»Einsatzleiter, hier ist Heiland Zwei«, sprach der Pilot in sein Helmmikrophon. »Die Luft ist rein.«

Gash gab das Signal zur Landung, und die vier Transporter hinter ihm spuckten die kampfbereiten Soldaten aus. Ursprünglich hatte er beabsichtigt, die Schlacht über der Stadt vom Flaggschiff aus zu leiten. Aber ein Blick auf das Inferno, das sich in der ramponierten Hauptstadt der Vereinigten Staaten ausbreitete, hatte ihm den Magen umgedreht. Dies war der Augenblick, für den er fünf Jahre lang seine Männer trainiert hatte. Dies war die Schlacht, in der seine Polizeibrigade früher oder später kämpfen mußte. Er hatte die Nachricht, die vor sieben Stunden von Johnny Wareagles Pilot überbracht worden war, mit Begeisterung und Genugtuung aufgenommen. Das Land brauchte ihn also doch. Aber seine Begeisterung schwand beim Anblick der brennenden Hauptstadt und ließ nur Haß und Abscheu zurück.

Gash warf die Zigarre weg und ging nach hinten zu seinen Männern, die mit dem nächsten Schub das Flaggschiff verlassen würden.

»Wir werden diese Arschlöcher am lebendigen Leibe braten«, brummte er einem seiner Sergeanten zu. »Und wir werden jede einzelne Sekunde genießen.«

McCracken sah noch immer zu einem Schwarm von schwarzen Fallschirmen hoch, die sich in gerader Linie über dem West Potomac Park öffneten. Ein zweiter Transporter mit der roten Aufschrift ›POLIZEIBRIGADE‹ flog über ihn hinweg.

Es war Tyson Gash, der zweifellos von Johnny Wareagle über die Vorgänge informiert worden war!

Gashs Fallschirmtruppen gingen in geordneter Formation herunter, wie im schwachen Feuerschein des Washington Monument zu sehen war. Die Landung konzentrierte sich südlich des Lincoln Memorial an der Independence Avenue. Blaine überlegte, daß Gash und die Brigade jetzt unbedingt eine schnelle Aufklärung über die Lage brauchten. Also machte er sich über die Mall auf den Weg zu den Einheiten, die sich vermutlich bereits zu Vorstoßtrupps formiert hatten.

Er lief mit neuer Hoffnung. Die Midnight Riders hatten es geschafft! Sie hatten die Delphi-Truppen so lange in Schach gehalten, bis Unterstützung eintraf, wenn auch nicht aus der erhofften Richtung.

McCracken sprintete die Mall entlang zur Ruine des Washington Monuments.

In der Kommandozentrale von Mount Weather zeigte eine Hälfte des Bildschirms die Fallschirmspringer, die sich schnell formierten, während eine zweite Flotte über dem Potomac kreiste, um Ausrüstung abzuwerfen. Der zweite Bildausschnitt zoomte auf eine einsame Gestalt, die über die Mall in Richtung der Fallschirmtruppe lief.

Blaine McCracken.

»Töten Sie ihn, General!« befahl die Stimme Samuel Jackson Dodds, die im ganzen Saal zu hören war. »Ich will seinen Tod! Um jeden Preis!«

»Sir, die Männer, die wir dazu …«

»Ich will McCrackens Tod!«

»Wenn du mich fragst«, brummte Sal Belamo, »sollten wir anhalten und ein Taxi rufen.«

Johnny Wareagle wandte den Blick nicht von der Straße und konzentrierte sich auf die Aufgabe, das zweispännige Gefährt den Bergpaß hinunterzubringen. Sie näherten sich dem steilsten und gefährlichsten Abschnitt der Straße, und das Wetter meinte es auch nicht sonderlich gut mit ihnen. Der Schnee, der sich in den Rissen der geborstenen Windschutzscheibe angesammelt hatte, beeinträchtigte Johnnys Sicht zusätzlich. Er hämmerte mit der bloßen Faust gegen die Eisstücke, um sie zu lösen, schaffte es allerdings nur, noch mehr Risse im Glas zu produzieren. Er konnte nur soviel Glas wie möglich herausschlagen, bevor Eis und Schnee ihn völlig blind machten.

Johnny hatte sich bemüht, sich während der Herfahrt mit der Schneekatze den Verlauf des Bergpasses einzuprägen. Doch im Schnee sah es überall gleich aus, und wenn er sich auch nur leicht verschätzte, gerieten die zwei Anhänger gefährlich ins Schlingern. Er stellte sich vor, wie die Reifen immer wieder über dem leeren Abgrund hingen. Konnte er bereits durch die Länge seines Gespanns nicht erkennen, ob ihm jemand folgte, wurde dies durch den Sturm völlig unmöglich gemacht. Vor ihm vereitelte der Blizzard immer öfter die Sicht, die ohnehin schon schlecht genug war. Sal Belamo hatte versucht, sich als Lotse nützlich zu machen, aber das hatte nicht funktioniert, so daß Johnny allein auf seine Augen angewiesen war.

Und auf die Geister.

Er konnte ihre Hände über seinen spüren. Er konnte ihre Worte in seinen Ohren hören, die ihn anwiesen, in diese oder jene Richtung zu steuern, um den Lastzug vor dem Sturz in den Abgrund zu bewahren. Zeitweise konnte Johnny nicht weiter als drei Meter sehen, so daß er die Fahrt in Etappen eben dieser Länge aufteilte.

»Weck mich, wenn wir vom Berg runter sind«, sagte Sal Belamo und täuschte ein Gähnen vor.

Traggeo lenkte die Schneekatze durch den Sturm. Ihre gefährliche Lage am Abhang des Berges hatte ihn zunächst befürchten lassen, daß es nicht nur unmöglich, sondern auch gefährlich werden konnte, sie wieder in Bewegung zu setzen. Er hatte die Aufgabe gelöst, jedoch nur um den Preis einer beträchtlichen Zeitverzögerung, wodurch der Lastzug mit der nuklearen Ladung einen großen Vorsprung gewonnen hatte. Doch die Atomwaffen spielten für Traggeo nur noch eine Nebenrolle, seit er das Gesicht des Fahrers gesehen hatte.

Das Schicksal hatte sie beide auf diesem Berg zusammengeführt, denn wenn er Wareagle tötete und seinen Skalp nahm, hatte er alles erreicht, wonach er jemals gestrebt hatte. Traggeo würde die Macht des großen Indianers übernehmen und endlich von denen akzeptiert werden, die ihn abgewiesen hatten. Er würde für immer das Haar von Wareagle tragen, es würde niemals einen Grund geben, es zu wechseln. Seine zukünftigen Opfer würden lediglich seinen Geist stärken. Er brauchte ihre Macht nicht mehr dadurch aufzunehmen, daß er ihre Skalps trug.

Der Schnee wirbelte durch die zerschossene Kabine zu Traggeo hinein. Das Innere der Schneekatze sah nicht anders aus als die Umgebung draußen. Doch immerhin bewegte sie sich, und nach zermürbenden zehn Minuten konnte er endlich einen kurzen Blick auf den großen Lastzug zweihundert Meter vor ihm werfen.

Traggeo zwang die Schneekatze zu noch höherer Geschwindigkeit, und die Raupenketten gehorchten. Die Entfernung verringerte sich auf hundert Meter, dann auf fünfzig, und der hintere Anhänger war nun durch den Sturm immer deutlicher auszumachen.

Als er auf zwanzig Meter heran war, schlängelte sich der zweite Anhänger über den glitschigen Boden. Traggeo kam mit der Schneekatze immer näher. Dann berührte sie mit der Nase die hintere Stoßstange des Gefährts. Der Anhänger rüttelte kurz und beruhigte sich wieder. Traggeo trat das Gaspedal durch.

Die Schneekatze machte einen Satz nach vorn und blieb an der Anhängerkupplung hängen. Traggeo überprüfte seine Pistole vom Kaliber .45 und das Messer, dann zog er sich durch das zerfetzte Dach der Schneekatze hoch. Er stieg auf die Motorhaube und sprang zum Dach des Anhängers hinauf. Seine Handschuhe hätten die Kante fast verfehlt, doch er schaffte es, sich daran hochzuziehen. Johnny Wareagle war jetzt nur noch knappe dreißig Meter entfernt, und Traggeo machte sich auf den Weg über das Dach des schneebedeckten Lastzugs.

McCracken hatte auf der Mall gerade die Hälfte der Strecke zwischen dem Kapitol und dem Washington Monument erreicht, als die ersten Delphi-Truppen von der Constitution Avenue aus in seine Richtung vorstießen. Er suchte hastig die Umgebung nach einer Deckung ab. Die Hinterseite des Smithsonian-Museums für Luft- und Raumfahrt war dreißig Meter entfernt, und er lief darauf zu, wobei er eine Garbe aus der SAW benutzte, um die Fensterfront zu zerschießen und sich einen Weg nach innen freizumachen.

Der Aufbau des Museums gab ihm wieder einen leichten Hoffnungsschimmer. Es bot viele Möglichkeiten, sich zu verstecken, und würde ihm eine ähnliche Guerillataktik erlauben, wie sie die Midnight Riders in der ganzen Stadt angewandt hatten. Er suchte zwischen den verschiedenen Ausstellungsstücken zur Geschichte der Luftfahrt nach einer Stelle, an der er seinen ersten Hinterhalt legen konnte.

Ein großes Poster lenkte seine Aufmerksamkeit in eine Abteilung des Museums, die dem Vertikalflug vorbehalten war. Es warb für eine Sondervorführung, die täglich veranstaltet wurde. Blaine betrachtete interessiert das Foto. Er ging näher heran und erkannte, daß seine beste Überlebenschance vielleicht darin bestand, eine unangekündigte Flugdemonstration durchzuführen.

Colonel Tyson Gash landete im West Potomac Park und warf den Fallschirm zwischen der letzten seiner schwarzgekleideten Kommandoeinheiten ab. Trotz der logistischen Einschränkungen hatte er es bewerkstelligt, ein fünfhundert Mann starkes Kontingent auf den Konfliktschauplatz zu bringen, was etwa ein Drittel der Gesamtstärke der Polizeibrigade war. Dieselben Einschränkungen hatten eine massive Luftunterstützung verhindert. Die Brigade verfügte über eine eigene Flotte von Apache-Angriffshubschraubern, die für eine solche Aktion wie maßgeschneidert waren. Doch der Einsatz der Apaches erforderte umfangreiche Startvorbereitungen, die in der kurzen Zeit und unter den gegebenen Umständen nicht durchzuführen waren.

Trotz dieses Nachteils verfügte die Brigade über andere schwere Waffen, und zwar dank LAPES. LAPES stand für Low Altitude Parachute Equipment Setup und war der wichtigste Bestandteil für die Durchführung eines Gegenschlags, wie ihn die Polizeibrigade trainiert hatte. In den Jahren des Zweiten Weltkriegs, als Gash noch ein kleiner Junge gewesen war, erreichte die Todesrate bei Fallschirmlandungen oftmals besorgniserregende achtzig Prozent. Der Grund dafür bestand nicht etwa darin, daß sie bereits in der Luft unter Beschuß gerieten, sondern daß sie der Ausrüstung, mit der der Feind sie am Boden erwartete, hoffnungslos unterlegen waren. Dementsprechend hatten die Militärplaner einige Projekte entwickelt, die diesen Nachteil ausgleichen sollten und letztlich in LAPES einflossen.

Gash sah zu, wie eine neue C-130-Staffel über dem Potomac beidrehte. Das erste Flugzeug hätte beinahe die Spitze des Lincoln Memorial geschrammt und ging dann bis auf zwei Meter über der Grasfläche des West Potomac Park hinab. Damit begann die Aufgabe eines Offiziers an Bord, der den Titel Lademeister trug. Der Lademeister hatte kurz vorher die Heckklappe der C-130 geöffnet. Als die Maschine jetzt zwei Meter über dem Boden flog, löste er einen Fallschirm aus, der sich fünfundzwanzig Meter hinter der C-130 öffnete. Dieser zog einen zweiten, wesentlich größeren Fallschirm aus der Ladeluke, der sich ebenfalls öffnete. Der wiederum war an einem M-551-Sheridan-Panzer befestigt, den er durch seine Bremskraft aus dem Frachtraum zog. Der aus Aluminium bestehende Panzer für Blitzangriffe schlug auf dem Boden auf und blieb stehen. Er war sofort einsatzbereit und mit einem 110-mm-Hochgeschwindigkeitsgeschütz und Shillelagh-Raketen bestückt. Das Team, das seine Besatzung bilden sollten, war bereits eine Minute später an Bord und startete den Sheridan.

Drei weitere C-130-Maschinen warfen ebenfalls Sheridan-Panzer ab, gefolgt von zusätzlichen LAPES-Anflügen, die ein halbes Dutzend Humvees im Park verteilten, die mit panzerbrechenden TOW-Raketen ausgerüstet waren. Nach dem Abwurf standen die Piloten vor dem Problem, die Nasen ihrer Maschinen schnell genug hochzuziehen, um den Bäumen am Parkrand auszuweichen. Jeder von ihnen löste diese wagemutige Aufgabe und kehrte zu einem Versammlungspunkt in der Luft zurück, um auf weitere Befehle zu warten.

Colonel Tyson Gash sah auf die Uhr. Die Polizeibrigade hatte die gesamte Landeaktion in knapp neun Minuten geschafft – das waren sogar drei Minuten weniger als ihre bislang beste Übungszeit. Ohne weitere Verzögerung folgten die Besatzungen der Fahrzeuge den Anweisungen, die sie bereits auf dem Herflug vom Stützpunkt erhalten hatten, und machten sich auf den Weg zu ihren Einsatzgebieten. Die übrigen Truppen begannen ebenfalls auszuschwärmen. Gash übernahm persönlich das Kommando über die Einheit, die die Mall besetzen sollte.

Er verzog das Gesicht, als er seine Männer in Richtung des zerstörten Washington Monument führte. Er überlegte, daß man das Monument vielleicht gar nicht restaurieren sollte, wenn die Sache vorbei war, sondern es in dem jetzigen Zustand belassen müßte, als Mahnmal für die Schlacht von Washington.

Und für die Soldaten, die sich bereitmachten, sie zu gewinnen.

Traggeo kroch weiter über das rutschige Dach des zweiten Anhängers. Der Sturm zerrte erbarmungslos an ihm, und mehr als einmal befürchtete er, der Wind würde ihn auf die Straße oder gar in den Abgrund werfen. Mit Kraft und Willensstärke schaffte er es, sich auf dem eisüberkrusteten Dach festzuhalten.

Die gefährlichste Aktion würde der Sprung über fast zwei Meter auf den ersten Anhänger werden. Nachdem Traggeo es ohne größere Probleme geschafft hatte, machte er sich mit neuer Zuversicht auf den Weg über das Dach des vorderen Anhängers. Das Geräusch seiner Schritte wurde durch die Schneedecke geschluckt. Schnell kam die Zugmaschine in Sicht, und er machte sich zum letzten Angriff bereit.

Der Bergpaß schien aus einem einzigen glitschigen S zu bestehen. Wareagle hielt die Geschwindigkeit des Lastzugs möglichst konstant und versuchte, die Kraft des Sturms auszugleichen. Er schien einen Waffenstillstand mit Wind und Schnee geschlossen zu haben, der es ihm erlaubte, sich auf die vielen Kurven der Straße zu konzentrieren. Jede Bewegung des Lenkrads war zu einem aufreibenden Abenteuer geworden, wenn er darauf wartete, ob die Reifen auf der Straße blieben.

Die Überreste der Windschutzscheibe hatten sich durch den warmen Atem von Sal und Johnny beschlagen. Johnny beugte sich in regelmäßigen Abständen immer wieder vor, um die Feuchtigkeit abzuwischen, bevor sie sich in eine undurchsichtige Schicht auf dem Glas verwandelte.

Er fuhr gerade mit dem Ärmel über ein Stück der Scheibe, als ein Handschuh das Glas unmittelbar daneben durchschlug und seinen Unterarm packte. Ein schneller Ruck riß seinen Oberkörper durch das Fenster auf die Motorhaube der Zugmaschine.

»Verdammt!« brüllte Sal Belamo, zog seine Waffe und suchte nach einem Ziel.

»Das Steuer!« schrie Johnny Sal zu, als das Gespann ins Trudeln geriet. »Übernimm das Steuer!«

Johnny drehte sich um und sah Traggeo, der ihn mit einem bösen Grinsen von oben anstarrte. Der Killer hielt ihn immer noch mit dem linken Arm fest, während sein rechter mit einem großen Messer herabfuhr. Wareagle erinnerte sich an die Wunde, die sein eigenes Messer vor fünf Tagen an diesem Arm verursacht hatte, und konterte mit einem Schlag auf genau dieselbe Stelle. Traggeo heulte vor Schmerz auf und riß das Messer wieder nach oben.

Johnny kam hoch und packte den Killer an der Jacke, um ihn vom Dach zu zerren. Doch in diesem Augenblick begann das Gespann wie verrückt zu schlingern und kollidierte mit der Bergwand. Die zwei Männer wurden getrennt und vorwärts geschleudert.

Sal Belamos Finger hatten das Lenkrad erst Sekunden vorher in den Griff bekommen, aber er konnte kaum etwas sehen, weil der große Indianer ihm die Sicht versperrte, so daß er das Fahrzeug nicht mehr unter Kontrolle bringen konnte. Daher sah er ihre einzige Chance darin, es vom Abgrund wegzusteuern. Sal wußte, daß die Bremsen nicht greifen würden, und ihm war klar, was kommen würde, bevor er spürte, wie die Räder blockierten.

Der Lastzug schlitterte seitwärts über die weiße Straße. Die Beifahrerseite nahm die größte Wucht des Schlags auf, während Sal in der Kabine durchgeschüttelt wurde. Belamo versuchte, an seine Waffe zu gelangen, als der Lastzug vom Berg zurückprallte und umkippte. Die zwei Anhänger schwankten, kurz bevor auch sie auf die Seite fielen und eine dichte Schneewolke aufwirbeln ließen. Sal versuchte sich zu erheben, um zu sehen, was aus Johnny geworden war. Aber sein Bein war unter dem Sitz eingeklemmt, so daß er sich nicht von der Stelle rühren konnte und seine Waffe somit nutzlos war.

»Verdammt!« brüllte er.

Johnny Wareagle sprang unterdessen aus der Schneewehe auf, in der er gelandet war. Er entdeckte Traggeo, der nicht weit vom Straßenrand entfernt auf die Beine zu kommen versuchte, und bewegte eine Hand zum Gürtel, um Duncan Farlowes Peacemaker-Colt zu ziehen. Aber er griff ins Leere. Er hatte die Pistole beim Sturz in den Schnee verloren.

Fünf Meter entfernt zog Traggeo eine .45er-Pistole, die den Sturz in seiner Jacke gut überstanden hatte, und Johnny warf sich nach vorn. Ein Tunnel schien sich vor ihm zu öffnen und ihn einzusaugen, denn der Abstand verringerte sich schneller, als es eigentlich hätte möglich sein dürfen. Johnny gelangte nicht zu Traggeo, aber er erreichte die Pistole und trat sie dem Killer aus der Hand. Dann verspürte er einen Stich an seinem rechten Handgelenk, als Traggeo es schaffte, mit seinem fünfundvierzig Zentimeter langen Messer auszuholen.

Wenn Johnny versucht hätte, auf seinen Fußtritt einen zweiten folgen zu lassen, hätte die Messerklinge ihn getroffen. Aber die Geister, die im Sturm zu ihm sprachen, hatten ihm einen guten Rat gegeben, so daß er bereits wieder zurückwich, um sein eigenes Messer zu ziehen.

Der wahnsinnige Killer grinste, und seine Zähne schienen weißer als der Sturm. Die beiden Riesen standen knietief im Schnee und umkreisten sich langsam mit vorsichtigen Bewegungen. Der umgestürzte Lastzug blockierte die Straße in Fahrtrichtung, und die Anhänger versperrten den Weg nach hinten. Somit hatten sie nur eine kleine Schneefläche als Kampfplatz, die kaum größer als hundertfünfzig Meter im Quadrat war.

Johnny hätte wissen müssen, daß seine Reise ihn irgendwann wieder mit dem Killer zusammenbringen würde, nach dem er suchte, um den Namen seines Volkes reinzuwaschen. Der Kreis schloß sich immer wieder von neuem. Die Verfolgung Traggeos hatte ihn auf die Spur von Delphi gebracht. Und die Verfolgung Delphis hatte ihn wieder zu Traggeo geführt.

Traggeo hielt das Messer hoch. Er machte lange und vorsichtige Schritte. Wareagle hielt sein Messer auf Bauchhöhe, während sich seine Füße im Schnee mit kurzen, gleitenden Bewegungen überkreuzten. Traggeo sah als erster die Chance zu einem Angriff und machte einen Satz, wobei er sein Messer von oben herabfahren ließ.

Johnny wich dem Vorstoß aus, der nur als Ablenkung für Traggeos eigentlichen Angriff dienen sollte. Er sah den kommenden Tritt voraus und stoppte ihn mit einem Schlag auf das Knie. Der wahnsinnige Killer knurrte vor Schmerz.

Traggeo trat vorsichtig mit dem verletzten Bein auf und verzog das Gesicht, während er zurückwich. Er hatte Schwierigkeiten, wenn er das Bein belastete, und verlagerte sein Gewicht, um diese Körperseite zu schützen. Johnny wußte, daß er jetzt im Vorteil war, aber er mußte die Chance nutzen, bevor Traggeo den Schmerz unterdrückt hatte.

Er griff an und blockierte Traggeos Verteidigungsschlag mühelos mit seiner Rechten. Traggeo schaffte es, sich im letzten Augenblick wegzudrehen, so daß die Klinge nur seine Schulter streifte. Er kämpfte den Schmerz nieder und schlug Johnny mit dem Handrücken ins Gesicht. Wareagle geriet ins Taumeln und war so lange geblendet, daß Traggeo einen Messerhieb nach oben anbringen konnte, der genau auf Johnny Kehle zielte. Johnny konnte dem Hieb mit einem Sprung nach hinten ausweichen, worauf er schwankend mit den Fersen am Abgrund stand.

Traggeo erkannte sofort die gefährliche Lage, in die Wareagle sich selbst gebracht hatte, setzte aber nicht sofort nach, wie die meisten es getan hätten. Statt dessen schob er sich langsam vor, wobei er damit rechnete, daß Johnny auf der Kante irgendwann das Gleichgewicht verlieren würde. Da er sich nicht nach hinten bewegen konnte, mußte Wareagle seitlich durch den trügerischen Schnee ausweichen, der jeden Augenblick unter ihm nachgeben konnte. Traggeo sah, wie Johnnys Füße sich unsicher vortasteten, und wartete mit seinem nächsten Angriff, bis der unvermeidliche Ausrutscher kam.

Die leichte Beugung, die er in einem von Wareagles Knie entdeckte, war das Signal zum Losspringen.

Wareagle sah Traggeos Messer auf sich zukommen und versuchte, sich aus der Zielrichtung zu winden. Der Abgrund erlaubte ihm jedoch nicht die Freiheit, die er für diese Bewegung gebraucht hätte, so daß ihm die Klinge in die rechte Seite fuhr. Traggeo riß sie zurück, und Blut spritzte auf den weißen Schnee.

Das Grinsen des wahnsinnigen Killer wurde immer breiter. Er setzte zum tödlichen Angriff an.

Johnny vollführte auf der Kante eine Drehung, und diesmal sauste das Messer an ihm vorbei, ohne ihn zu berühren. Traggeo versuchte es zurückzuziehen, doch Johnny hatte bereits sein Handgelenk gepackt. Seine Hoffnung bestand darin, daß der Killer sich um jeden Preis losreißen wollte. Johnny mußte sich nur festhalten, um auf festen und sicheren Boden zurückgezogen zu werden. Doch statt dessen richtete Traggeo seinen Schwung weiter nach vorn. Johnny ließ das Handgelenk des Killers los. Sein ohnehin unsicherer Stand geriet immer mehr aus dem Gleichgewicht, bis sein linker Fuß von der Felskante rutschte.

Als Traggeo diese Wendung bemerkte, versuchte er einen hinterhältigen Hieb nach dem Skalp, den er so verzweifelt für sich haben wollte. Als Johnny sich darunter wegduckte, rutschte auch sein rechter Fuß ab, und der Indianer stürzte die Bergwand hinunter ins weiße Nichts.

Letztlich hatte die Opposition Samuel Jackson Dodds letzten Schachzug bestimmt. Dodd konnte es nicht ertragen, die Fallschirmtruppen in der Stadt mit ihren Panzern und Humvees zu beobachten, noch bevor die ersten Gefechte sich für die Delphi-Truppen als vernichtend erwiesen. Die Neuankömmlinge waren wilde und hervorragende Soldaten, die kaum ihre Begeisterung verbergen konnten, endlich ihre tödliche Aufgabe erledigen zu können.

Die Satellitenübertragung zeigte, wie einer seiner Panzer von einer TOW-Rakete zerfetzt wurde, die von einem der Humvees abgeschossen worden war, während die übrigen M-1-Panzer noch mit Erfolg wichtige Ziele in der Stadt beschossen. Doch irgendwann würden alle seine Panzer das Schicksal des ersten teilen. Und den größeren Konzentrationen von Delphi-Truppen erging es kaum besser, da die schnellen Sheridans sie mühelos aufrieben und sie immer wieder zum Rückzug zwangen.

Seltsamerweise schienen sich diese geisterhaften Rettungstruppen kaum mehr um die Unversehrtheit der Stadt zu kümmern als seine eigenen Truppen. Ihre Sheridans schossen Löcher in jedes Gebäude, das Delphi-Angehörige als Deckung benutzten. Und die Shillelagh-Raketen waren ebenso rücksichtslos wie ihre 110-Millimeter-Geschütze.

Die Schlacht war so gut wie entschieden. Mit jeder weiteren Ausbreitung der Geistertruppen über die Stadt wurde es für sie zu einer simplen Aufräumaktion. Die Delphi-Truppen waren durch ihre Auseinandersetzung mit McCrackens Guerillas viel zu sehr geschwächt.

Somit hatte Dodd keine andere Wahl, als das elektronische Satellitensignal auszulösen, durch das die letzte Möglichkeit aktiviert wurde, die ihm noch blieb, seine letzte Chance, den beabsichtigten Erfolg des Tags Delphi zu sichern. Rot erleuchtete Ziffern über dem Monitor begannen von zwanzig Minuten an rückwärts zu zählen.

Sam Jack Dodd beobachtete, wie die Sekunden vergingen, und wartete.

Die Ausrüstung und das Training der Polizeibrigade war auf einen ganz anderen Feind ausgerichtet als den, mit dem sie es jetzt zu tun hatte. Alle Einsatzpläne sahen ausgeklügelte Terroristenanschläge und sogar vom Feind angezettelte Aufstände vor, bei denen auch mit dem Einsatz nuklearer Waffen gerechnet werden mußte. Somit waren drei der Humvees der Brigade mit den neuesten Spürgeräten für Atomwaffen ausgerüstet, um mögliche Bomben in der Stadt zu lokalisieren.

Die Systeme waren so ausgelegt, daß bei einer Meldung alle drei Humvees die Ortung anzeigten. Da er überhaupt nicht damit rechnete, bemerkte der Fahrer des vordersten Humvees das rote Blinken auf der Anzeige seines Armaturenbretts erst nach einer ganzen Minute.

»Was, zum Teufel …?«

Er klopfte mit einem Finger gegen die Anzeige, dann mit zweien, in der Hoffnung, sie würde dadurch erlöschen. Als sie weiterblinkte, griff er nach seinem Funkgerät.

»Tracker Eins an Einsatzleitung«, rief er. »Bitte kommen, Einsatzleitung!«

Nach einer kurzen Neuformation der Truppen stürmten über hundert Delphi-Soldaten das Museum für Luft- und Raumfahrt auf der Jagd nach McCracken. Diesmal sollte nichts dem Zufall überlassen werden. Da sie damit rechneten, das McCracken auf die größte Gruppe wartete, um sie im Schußhagel seiner Waffe niederzumachen, waren sie an mehreren Stellen in kleinen Gruppen eingedrungen. Die Truppen rückten in langgestreckter Formation durch das Erdgeschoß des Museums vor. Ein paar von ihnen würden vielleicht erschossen werden, aber dadurch würde ihr Opfer letztlich seine Position verraten. Sekunden später würde der Rest ihn eingekesselt haben.

Ein Drittel der Delphi-Truppen stieg zum ersten Stock hinauf, falls McCracken dort eine strategisch günstige Stellung bezogen hatte. Aber das schnelle und tödliche Feuer, mit dem sie rechneten, kam nicht. Das machte sie immer nervöser. Sie wußten, daß McCracken im Gebäude war. Sie mußten nur nach ihm suchen.

Die Truppen zogen sich weiter auseinander, um Nischen, Winkel, Toiletten und Souvenirläden in die Suche einzubeziehen. Ein Gruppe durchkämmte sogar den Kinosaal, während sie fast damit rechnete, McCracken würde sie durch die große Leinwand anspringen.

Aber nichts dergleichen geschah.

Die Truppen im oberen Stockwerk hörten als erste das Summen. Als sie endlich die Quelle des Geräuschs ausgemacht hatten, hatte eine wirbelnde Gestalt über ihnen mit einer Maschinenpistole das Feuer eröffnet. Sie mähte Dutzende von ihnen nieder und zeichnete eine orangefarbene Spur durch die oberen Räume des Museums.

McCracken hatte sich auf dem Rumpf einer alten Douglas DC-3 versteckt, während die Truppen im Museum ausschwärmten. Als er sich endlich in die Dunkelheit erhob, streifte er fast die Decke des Museums. Er achtete darauf, daß der Gurt mit tausend Schuß sicher über seinem linken Arm lag, und drückte dann mit der linken Hand auf den Kontrollknopf des Hoppi-Copters. Der Rotor des Einmannhubschraubers begann sich zu drehen, und Blaine neigte sich, um seinen Angriff zu starten.

Der Hoppi-Copter war 1945 von Pentecost entwickelt worden, um Fußsoldaten über ansonsten undurchdringliches Terrain zu bringen. Nur zwanzig Stück waren gebaut worden, und das Militär gab den Hoppi bald auf, weil er zu schwerfällig und kostspielig war. Ein Prototyp war hier im Museum gelandet, wo das Poster, das Blaine vor wenigen Minuten gesehen hatte, verkündete, daß er vollständig restauriert war und für tägliche Vorführungen genutzt wurde.

Ohne das Vehikel voll auszutesten, war McCracken in die Ausstellung über den Vertikalflug gehastet und hatte es sich umgeschnallt.

Der Hoppi-Copter war in der Tat recht schwerfällig. Im Prinzip bestand er lediglich aus einem Stahlkäfig, an dem ein einziger Rotorflügel mit einer stolzen Länge von hundertdreißig Zentimetern angebracht war. Der relativ kleine Motor war an der Hinterseite des Käfigs befestigt und drückte Blaine in den Rücken, nachdem er sich hineingezwängt und die Riemen festgeschnallt hatte. Der Hoppi war klobig und schwer, was mit dazu beigetragen hatte, ihn von jeder weiteren Verwendung auszuschließen. McCracken konnte sich nicht vorstellen, daß er für schwieriges Gelände geeignet war, aber in den großen Hallen des Museums für Luft- und Raumfahrt würde er seine Zwecke erfüllen.

Der Hoppi besaß einen einzigen Kontrollknopf, der in den Griff eingebaut war, den Blaine in der linken Hand hielt. Der Druck auf den Knopf regulierte die Geschwindigkeit des Rotors und damit die Flughöhe der Maschine. Die Richtung wurde dadurch bestimmt, wie der Pilot seinen Körper und insbesondere seine Beine neigte.

Er war nicht komplizierter als andere Maschinen, mit denen Blaine bereits zurechtgekommen war, und er hatte alles Notwendige darüber gelernt, während er schnell auf die DC-3 geklettert war. Er ließ den Motor laufen und hoffte, das das tiefe Summen keine Aufmerksamkeit erregte. Als sich dann der Feind in der weiten Formation näherte, die er erwartet hatte, drückte er den Knopf und hob ab. Er begann sofort zu feuern, als er über der ersten Reihe der Delphi-Truppen schwebte.

Die Ausstellungsstücke des Museums rauschten verschwommen an ihm vorbei, während er seine SAW rotieren ließ, um sämtliche Truppen im Regen seiner Geschosse zu vernichten. Dann stieß er fast mit der Spitze einer Trägerrakete zusammen und mußte seinen Körper heftig hin und her bewegen, um nicht gegen ein Modell des Space Shuttles und dann den Prototyp des X-15-Flugkörpers der NASA zu stoßen.

Er feuerte praktisch ohne jede Pause, weil er den Männern unter sich keine Gelegenheit geben wollte, sich neu zu formieren oder ihre Waffen auf ihn zu richten. Der Patronengurt glitt über seinen linken Unterarm und schürfte seine Haut durch den Ärmel auf. Die SAW war leicht genug, um diese Aktion mühelos durchzuführen, und nach seinen ersten Beinahezusammenstößen entwickelte er ein gewisses Geschick, den Hoppi mit der linken Hand zu steuern und mit der rechten gleichzeitig die SAW zu bedienen.

Die restlichen Feindtruppen waren völlig verwirrt, als er höher stieg und die Stahlträger streifte, die das Glasdach des Museums stützten. Sein folgender Angriff war ein klassisches Abtauchmanöver, das ihn unter die Galerie des ersten Stock brachte. Das letzte Aufgebot der Delphi-Truppen wandte sich mit einem ungezielten Rückzugsfeuer zur Flucht. McCracken erwiderte es mit einer Salve, die das Glas auf der Seite zur Independence Avenue zersplittern ließ und ein weiteres Dutzend Tote über den Boden verstreute.

Die wenigen Truppen im ersten Stock starteten einen neuen Angriff auf ihn. McCracken zog sofort nach oben über ihre Köpfe und schaffte es, eine letzte Salve aus der SAW abzufeuern, als der Motor des Hoppi plötzlich wegen Treibstoffmangels zu stottern begann. Er erreichte noch rechtzeitig den Boden, bevor er völlig den Geist aufgab. Dann löste er schnell die Riemen, um sich vom Gewicht des Hoppis zu befreien.

McCracken drehte sich um, als auf der Rückseite des Museums erneut das Geräusch zersplitternden Glases zu hören war. Ein weiterer Trupp stieß vor, der ganz in Schwarz gekleidet und bis an die Zähne bewaffnet war. McCracken ließ die SAW sinken und lächelte.

»Nicht schießen!« befahl eine altbekannte Stimme, und die Truppen, die zur Polizeibrigade gehören mußten, blieben stehen. »Wir sind Verbündete.«

Im Licht der Scheinwerfer an den M16-Gewehren tauchte eine unförmige Gestalt auf, die auf einer nicht angezündeten Zigarre kaute.

»Niemand außer Ihnen hätte das hier fertigbringen können, McCrackensack«, grinste Colonel Tyson Gash und schob die Zigarre vom linken in den rechten Mundwinkel.

»Sieht so aus, als hätten wir endlich einmal die Gelegenheit zur Zusammenarbeit, Colonel.«

»So wie ich es sehe«, sagte Gash, während er immer noch näherkam, »ist es an der Zeit, daß ihr beide euch der Polizeibrigade anschließt.«

»Ich dachte mir schon, daß Johnny euch besucht hat«, gab Blaine zurück und gestattete sich ebenfalls ein Lächeln.

»Noch ist es zu früh für die Siegesfeier, Captain«, warnte Gash. »Wir haben immer noch einen ziemlichen Haufen Probleme vor uns.«